Natascha Kampusch: 3096 Tage (Erlebnisbericht) |
Natascha Kampusch: 3096 Tage |
Inhaltsangabe:Am 2. März 1998 macht sich die zehn Jahre alte Wienerin Natascha Kampusch nach einem Streit mit ihrer Mutter auf den Weg zur Schule. Als ihr ein geparkter weißer Kleintransporter auffällt, vor dem ein Mann steht, ist sie beunruhigt und denkt an das, was sie im Zusammenhang mit Kinderpornografie über Entführungen gelesen hat. Aber sie geht weiter. Als ich mich dem Mann bis auf etwa zwei Meter genähert hatte, sah er mir in die Augen. In diesem Moment schwand meine Angst. Er hatte blaue Augen und wirkte mit seinen etwas zu langen Haaren wie ein Student in einem alten Fernsehfilm aus den 1970er-Jahren. Sein Blick ging auf seltsame Weise ins Leere. Das ist ein armer Mann, dachte ich, denn er strahlte so etwas Schutzbedürftiges aus, dass ich den spontanen Wunsch hatte, ihm zu helfen [...] als er mich an diesem Morgen zum ersten Mal frontal ansah, wirkte er verloren und sehr zerbrechlich. Plötzlich packt er zu, fasst sie um die Taille und hebt sie durch die offenstehende Schiebetüre in das Fahrzeug, dessen Seitenscheiben abgedunkelt sind. Sie muss sich auf den Boden legen. Er fährt los. Nach etwa zwanzig Kilometern stellt er den Wagen in einer Garage ab, trägt das Mädchen über eine Treppe nach unten und sperrt es in ein fünf Quadratmeter großes fensterloses Verließ. Ein Ventilator saugt Luft durch eine Rohrleitung an. Dass er ihr die Schultasche wegnimmt, empfindet Natascha als schmerzlichen Verlust, denn nun bleiben ihr außer der Kleidung, die sie am Leib trägt, keine persönlichen Sachen. Der Entführer, auf dessen Versorgung sie von nun an angewiesen ist, macht auf Natascha einen unsicheren Eindruck. Er wirkte wie jemand, dem ein entfernter Bekannter überraschend ein ungeliebtes Kind überlassen hat und der nun nicht weiß, wohin mit diesem kleinen Wesen, das Bedürfnisse hat, mit denen er nicht umgehen kann.
Später erfährt Natascha Kampusch, dass es sich bei ihrem Entführer um den sechsunddreißigjährigen arbeitslosen Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil handelt.
Ich akzeptierte, was passiert war, und anstatt verzweifelt und empört gegen die neue Situation anzukämpfen, fügte ich mich [...] Als Kind handelt man intuitiver [als ein Erwachsener]. Ich war eingeschüchtert, ich wehrte mich nicht, sondern begann, mich einzurichten – vorerst nur für eine Nacht. Natascha geht davon aus, dass er sie für einen Kinderpornoring entführt hat, und Priklopil bestärkt sie in dem Glauben, indem er mehrmals Männer erwähnt, denen er sie übergeben will. Er gibt sich Mühe, damit sie sich von ihm selbst nicht bedroht fühlt. Sie soll ihn als Beschützer wahrnehmen, der Kleidung und Wäsche für sie kauft, einige ihrer Wünsche erfüllt ihr beispielsweise einen Computer mit Spielen bringt. Es erscheint mir heute, als Erwachsene, erstaunlich, dass meine Angst, meine immer wiederkehrende Panik, nicht auf die Person des Täters an sich gerichtet war. Es mag eine Reaktion auf sein unscheinbares Äußeres gewesen sein, auf seine Unsicherheit oder seine Strategie, mich innerhalb dieser untragbaren Situation soweit es ging in Sicherheit zu wiegen – indem er sich als Bezugsperson unentbehrlich machte. Das Bedrohliche an meiner Situation war das Verlies unter der Erde, die geschlossenen Wände und Türen und die angeblichen Auftraggeber. Falls Priklopil etwas zustoßen sollte, würde Natascha in dem unterirdischen Verlies verdursten. Er war meine Nabelschnur nach außen – Licht, Essen, Bücher, all das konnte ich nur von ihm bekommen, all das konnte er mir jederzeit kappen. Priklopil hat ihr zwar ein Doppelwaschbecken eingebaut, aber warmes Wasser bringt er in Plastikflaschen von außen. Er hilft Natascha beim Waschen. Sie muss sich ausziehen, aber er kommt ihr nicht zu nah.
Er schrubbte mich ab wie ein Auto. Es lag weder etwas Zärtliches noch etwas Anzügliches in seinen Gesten. Er pflegte mich, wie man ein Haushaltsgerät instandhält.
Außer Büchern und dem Computer bekommt Natascha ein Fernsehgerät und einen Videorekorder. Es gibt zwar keinen Empfang, aber der Entführer zeichnet Sendungen für sie auf und bringt ihr alte Aufnahmen. Das Radiogerät, das er ihr hinstellt, hat er so modifiziert, dass sie nur tschechische Sender empfangen kann und kein Wort versteht, denn sie soll nichts über die Fahndung nach ihr erfahren. Jeden Tag schaut er nach ihr. Aber von Freitagmittag, manchmal schon von Donnerstagabend bis Sonntag bleibt er fort. (Später erfährt Natascha Kampusch, dass seine Mutter Waltraud Priklopil regelmäßig übers Wochenende zu Besuch kam. Sein Vater starb 1986.) Er untergrub systematisch meinen Glauben an meine Familie und damit ein wichtiges Fundament meines ohnehin angeschlagenen Selbstbewusstseins. Die Sicherheit einer Familie im Rücken, die alles tat, um mich zu befreien, schwand langsam dahin.
Priklopil installiert eine Zeitschaltuhr, die morgens um 7 Uhr den Strom im Verlies ein- und dreizehn Stunden später ausschaltet. Um 20 Uhr wird es völlig finster. Natascha kann nichts mehr sehen, also auch kein Buch lesen. Radio, Videorekorder, Fernsehgerät, Computer, Heizung und Kochplatte funktionieren dann auch nicht mehr. Von 20 Uhr bis 7 Uhr bleibt Natascha nichts anderes übrig, als im Dunkeln liegen zu bleiben. Es war schwierig. Er hatte große Probleme mit Nähe, mit Berührungen. Ich selbst wiederum verfiel sofort in blinde Panik und Platzangst, wenn er mich zu sehr festhielt. Aber nach einigen Versuchen schafften wir es, einen Modus zu finden – nicht zu nahe, nicht zu eng, sodass ich die Umarmung aushalten konnte, und eng genug, damit ich mir einbilden konnte, eine liebevolle, umsorgende Berührung zu spüren. Es war der erste Körperkontakt zu einem Menschen seit vielen Monaten.
Mit einem Wechsel aus Fürsorge und Terror, Belohnungen und Bestrafungen, versucht Priklopil das Mädchen gefügig zu machen. Er verlangt von Natascha, dass sie ihm unterwürfig begegnet. Sie darf ihm nicht ins Gesicht sehen und nur etwas sagen, wenn er sie dazu auffordert. Als er von ihr mit "Maestro" angesprochen werden will, weigert sie sich – bis er den Anspruch aufgibt. Der plötzliche Gewaltausbruch hatte mich zwar nicht körperlich getroffen, die Bohrmaschine hatte mich nicht einmal berührt. Aber dieser Vorfall grub sich tief in meine Psyche. Denn er brachte eine neue Dimension in die Beziehung zum Täter: Ich wusste nun, dass er mir auch weh tun würde, wenn ich mich ihm widersetzte. Das machte mich ängstlicher, gefügiger.
Im Frühjahr 1999 verbietet er seiner Gefangenen, jemals wieder irgendetwas aus ihrer Vergangenheit zu erwähnen. Eltern, Verwandte, Schule, alles ist tabu. Nicht einmal ihren Namen darf sie behalten. Von nun an heißt sie Bibiana. Ich glaube heute, dass sich Wolfgang Priklopil über den Umweg eines schrecklichen Verbrechens nichts anderes schaffen wollte als eine kleine, heile Welt, mit einem Menschen, der ganz für ihn da war. Er hat das wohl auf normalem Weg nie erreicht und deshalb beschlossen, jemanden dazu zu zwingen und dafür zu formen. Im Grunde wollte er auch nichts anderes als jeder Mensch: Liebe, Anerkennung, Wärme. Er wollte einen Menschen, für den er selbst der wichtigste Mensch auf der Welt war. Er scheint keinen anderen Weg gesehen zu haben, als ein schüchternes, zehnjähriges Kind zu entführen und es so lange von der Außenwelt abzuschneiden, bis es psychisch so weit war, dass er es neu "erschaffen" konnte.
Wenn Natascha nachts zur Toilette muss, bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihn zu wecken. Auch wenn sie nicht an ihn gefesselt ist, überwacht er sie auf Schritt und Tritt. Zu diesem Zweck hängt er sogar die Türe der Toilette aus. Mit 15 war mein psychisches Gefängnis fertig gebaut. Die Tür des Hauses hätte weit offenstehen können: Ich hätte keinen Schritt tun können.
Im Sommer darf sie sich nun hin und wieder im Garten sonnen. Wenn die mit Priklopil entfernt verwandten Nachbarn verreist sind und er auf deren Haus aufpasst, nimmt er Natascha mit zum Schwimmen im Pool. Mindestens 60 Schläge ins Gesicht. 10 – 15 schwere Übelkeit verursachende Schläge mit der Faust auf den Kopf, vier Schläge mit der flachen brutalen Hand auf den Kopf, ein Fausthieb in voller Wucht auf mein rechtes Ohr und Kiefer. Das Ohr färbt sich schwärzlich. Würgen, schweren Uppercut, dass der Kiefer knirschte. Knietritte ca. 70 Stück, vorwiegend ins Steißbein und auf den Po. Fausthiebe ins Kreuz und auf das Rückgrat, die Rippenbögen und zwischen die Brüste. Schläge mit dem Besen auf den linken Ellenbogen und den Oberarm (schwärzlich-brauner Bluterguss), sowie das linke Handgelenk. Vier Schläge ins Auge, sodass ich blaue Blitze sah. Uvm.
Wohlgemerkt: Dabei handelt es sich um die Misshandlungen an einem einzigen Tag! Was mir damals half, waren tatsächlich die Selbstgespräche mit meinen zweiten Ich und meine Notizen. Ich hatte eine zweite Serie von Zetteln begonnen; nun hielt ich nicht nur die Misshandlungen fest, sondern versuchte, mir schriftlich Mut zu machen. Durchhalteparolen, die ich hervorkramte, wenn ich am Boden war, und die ich mir dann laut vorlas.
Priklopil schlägt Natascha nicht nur regelmäßig, sondern belohnt sie auch weiterhin für unterwürfiges Verhalten. So darf sie erstmals mit ihm zusammen das Grundstück verlassen. Er fährt mit ihr in den Wald. Bald darauf nimmt er sie zum Einkaufen in einen Drogeriemarkt mit. Natascha weiß kaum, wie sie auf das "Grüß Gott" der Kassiererin antworten soll, denn es sind die ersten an sie gerichteten Worte einer anderen Person als ihres Entführers seit mehr als sieben Jahren. Auch in einen Baumarkt nimmt er die Siebzehnjährige mit. Und sie wagt es nicht, einen Mitarbeiter um Hilfe zu bitten, denn sie befürchtet, dass Priklopil in diesem Fall behaupten würde, sie sei geisteskrank und leide an Wahnvorstellungen. Außerdem müsste sie mit einer grausamen Bestrafung rechnen. "Du hast uns in eine Situation gebracht, in der nur einer von uns beiden überleben kann", sagte ich plötzlich. Der Täter blickte mich überrascht an. Ich ließ mich nicht beirren. "Ich bin dir wirklich dankbar dafür, dass du mich nicht getötet hast und dass du mich so gut versorgst. Das ist wirklich nett von dir. Aber du kannst mich nicht zwingen, bei dir zu leben. Ich bin ein eigener Mensch, mit meinen eigenen Bedürfnissen. Diese Situation muss ein Ende haben [...] Es ist nur natürlich, dass ich weg muss. Du hättest dir das von Anfang an ausrechnen können. Einer von uns muss sterben, es gib keinen anderen Ausweg mehr. Entweder du bringst mich um, oder du lässt mich frei [...] Jetzt habe ich so viele Male versucht, mich selbst zu töten – dabei bin ich hier das Opfer. Es wäre eigentlich viel besser, du würdest dich töten. Du findest ohnehin keinen anderen Ausweg mehr. Wenn du dich umbringst, wären die ganzen Probleme auf einmal weg."
Er sieht sie verzweifelt an. Natascha ist zur Flucht entschlossen. |
Buchbesprechung:
Nachdem viel über sie und ihren Entführer Wolfgang Priklopil spekuliert worden ist, versucht Natascha Kampusch mit dem Buch "3096 Tage" die Deutungshoheit über ihre Geschichte zu gewinnen. Heike Gronemeier und Corinna Milborn schrieben es nach ihren Angaben. Originaltitel: 3096 Tage – Regie: Sherry Hormann – Drehbuch: Ruth Toma nach einem Drehbuchfragment von Bernd Eichinger – Kamera: Michael Ballhaus – Schnitt: Mona Bräuer – Musik: Martin Todsharow – Darsteller: Antonia Campbell-Hughes, Thure Lindhardt, Amelia Pidgeon, Trine Dyrholm u.a. – 2013 |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Natascha Kampusch (Kurzbiografie) |