Helmut Krausser: Der große Bagarozy (Roman) |
Helmut Krausser: Der große Bagarozy |
Inhaltsangabe:
Nachdem gerade zwei ihrer Patienten fast gleichzeitig Selbstmord verübten, sitzt der siebenunddreißigjährigen Psychotherapeutin Cora Dulz, die über "obsessionsbedingte Detailüberinterpretation" promoviert hatte, in ihrer Praxis ein Patient gegenüber, der sich als Stanislaus Nagy vorgestellt hat und erzählt, wie ihm vor zehn Jahren und zwei Wochen – an seinem zwanzigsten Geburtstag – zum ersten Mal Maria erschien, nicht die Mutter Gottes, sondern die 1977 verstorbene Maria Callas. Cora nimmt zunächst an, sie habe es wieder einmal mit einem ziemlich hoffnungslosen Fall zu tun, hört nur halb zu und überlegt, was sie fürs Abendessen einkaufen muss. Aber der Mann mit den leuchtenden, beinahe lilafarbenen Augen schlägt sie in seinen Bann. Aus Wut über die Haltung eines Freundes zu den Massakern in Ruanda hat ein Belgier nach Angaben der Polizei seinen Gesprächspartner getötet und anschließend Teile der Leiche verspeist. Der 26jährige Guillaume Potiez gestand, einen 38-jährigen Mann nach einem Streit stranguliert zu haben [...] Er habe damit seinen Gesprächspartner dafür bestrafen wollen, dass dieser die Morde im ruandischen Bürgerkrieg auf die leichte Schulter nahm. (Seite 17)
Ein paar Tage nach der ersten Sitzung entdeckt Cora ihren neuen Patienten zufällig im Café "Claque" und setzt sich zu ihm. Er sei Kaufhausdetektiv, behauptet Nagy und fordert sie dazu auf, mit ihm nachts durch das leere Pullam-Kaufhaus zu gehen. Neugierig lässt Cora sich darauf ein, und als ihr Bedenken kommen, ist es bereits zu spät. Sie trinken Champagner, und er zieht ein Foto von Maria Callas aus der Brieftasche. Die Primadonna sitzt zwischen zwei Männern auf einem Barhocker und hat einen schwarzen Pudel an der Leine: "Maria beim Espressotrinken im Café. Mein Lieblingsfoto von uns." (Seite 36) "Schauen Sie sich all die Menschen an. Verlangen vom Leben nichts, was nicht mit einem vollen Magen, einer schönen Wohnung und drei Orgasmen pro Woche abgeleistet wäre. Hinzugerechnet Gesundheit, später Tod und gutes Fernsehprogramm." (Seite 44) Als die Therapeutin ihn fragt, ob er von seiner Kindheit erzählen wolle, antwortet er: "Kind war ich nie. Zu Anfang war ich ein Gedanke. Später kamen Bilder. Bilder wurden Fleisch Irgendwann ging die Vermenschlichung so weit ... Zu weit wahrscheinlich. Heute unterscheidet mich kaum etwas vom Idioten, für den Sie mich halten." (Seite 48) Von den Erscheinungen sprach Nagy bereits. Jetzt irritiert er die Therapeutin, indem er behauptet, Maria Callas überall hin gefolgt zu ein. Die Sopranistin ist seit zwanzig Jahren tot! Als Cora nachfragt, gesteht er, sie angelogen zu haben. Er sei nicht dreißig Jahre alt, sondern sehr viel älter; sein richtiges Alter lasse sich nicht nummerisch ausdrücken. Den Namen "Stanislaus Nagy" benütze er nur als Pseudonym, und Kaufhausdetektiv sei er auch nicht. In Wirklichkeit sei er der Teufel. Cora blickt ihn ungläubig an, und er fährt fort: "Ich lief auch schon mal mit Bocksfüßen rum! Mit Hörnern auf der Stirn! Und kein Schwein hat mir erklärt, welchen Sinn das haben sollte!" (Seite 72f) Cora fragt, ob er Gott persönlich kenne, und er antwortet: "Wir gehen uns aus dem Weg." (Seite 55) Nagy erzählt ihr, wie die Menschen jahrhundertelang nach ihm riefen und ihm zu mitternächtlicher Stunde ihre Seele verkauften.
"Was haben Sie mit den Seelen gemacht?" Inzwischen, erklärt Nagy, langweile es ihn, böse zu sein, zumal es Menschen gibt, die das besser können. Im Zweiten Weltkrieg war ihm das bewusst geworden: "Zum ersten Mal bekam ich das Gefühl, die Menschen hätten mich nicht unbedingt nötig, kämen gut ohne mich aus, erledigten meinen Part im großen Spiel grausamer und konsequenter, als es mir je eingefallen wäre. Es war der Anfang einer gewissen, Sie würden sagen: Sinnkrise." (Seite 58) Statt böse und grausam möchte er zärtlich und liebevoll sein. Das wäre eine Abwechslung. Voll Mitgefühl meint Cora: "Sie sind ein kranker, verzweifelter Mensch." Da erwidert Nagy: "Behauptungen, von denen mich die dritte am ehesten beleidigt." (Seite 135) Aber dann muss er zugeben, dass Cora nicht weit von der Wahrheit entfernt ist; er verrät ihr, dass er beschlossen habe, Selbstmord zu verüben.
"Ich hab mir eine sehr langwierige Todesart ausgesucht. Wollen Sie wissen, welche?"
Schließlich erzählt Nagy weiter von Maria Callas. "Maria war hungrig, hässlich und verträumt. Und hatte Mut." (Seite 52)
Die Mutter wollte, dass Maria berühmt wurde, weil sie die Familie in den kommenden Jahrzehnten versorgen sollte. "Maria war nicht göttlich. Sie war etwas so Menschliches, voll unterdrückter Lust. Jähzornig war sie, eitel und geizig, komplexbeladen, applausgeil." (Seite 75) Eines Tages beschloss die pummelige Sopranistin, abzunehmen. Mit eiserner Willenskraft hungerte sie und halbierte ihr Gewicht. Damit war sie perfekt und wurde zum Weltstar. "Maria war eine so unbefriedigte Frau. Aber sie hat das sinnvoll sublimiert. Dann kam Onassis. Wie ich den gehasst habe! Und konnte nichts tun, sie hat ihn geliebt. Und er hat's ihr besorgt. Teuflisch gut." (Seite 97) Im Februar 1957 saß Nagy im Publikum, als Maria Callas im Covent Garden die Norma sang. Plötzlich begriff er, dass es sich bei diesem wunderbaren Gesang um Gottesdienst handelte, um einen gottverdammten Gottesdienst! Er vermochte weder zu bleiben noch aufzustehen, litt und genoss den Gesang, hasste und liebte die Callas.
"Umso mehr ich sie verehrte, umso mehr Lust spürte ich, ihr Wunden zu schlagen, sie zu quälen, ihren Genuss am Leben zu schmälern." (Seite 80) 1965 brach sie in Paris auf der Bühne zusammen. "Maria kämpfte, ohne dass sie es wollte, gegen ihre Legende an, mit immer neuen, immer schrecklicheren Comebacks. Sie sang wie ein halbgarer Rabe, allein – es nutzte nichts! Ihr Ruhm hatte sich längst selbstständig gemacht, es kümmerte ihn nicht mehr, was sie tat. Wird die Legende zu groß, stört der lebende Mensch." (Seite 143)
1976 gab Maria Callas in Paris ein allerletztes, privates Konzert, aber sie brachte keinen sauberen Ton mehr heraus. In dieser Nacht ging Nagy zu ihr ins Apartment, und diesmal empfing sie ihn, obwohl er sich nicht verstellte. So einsam war sie inzwischen. Sie sprachen bis zum nächsten Morgen miteinander.
"Hier hausen Sie?" Nagy liegt auf seinem zerwühlten Bett und ist schwermütig, denn es ist der 16. September: der Todestag der Callas. Er zeigt Cora ein Foto der Diva. Sie sitzt auf einem Stuhl und hält im rechten Arm einen weißen und im linken Arm einen schwarzen Pudel. "Es gibt ein Foto von Maria, Gott und mir, kennen Sie's? Nein? Da. Der schwarze Pudel – das bin ich." (Seite 93) Robert wundert sich über seine Frau. Sie kommt ihm verändert vor, und er sagt zu seinem Freund Arnold:
"Ich hab so ein Gefühl, als ginge Cora fremd." Cora staunt über Einzelheiten, die Nagy von ihr weiß – bis sie dahinterkommt, dass er vor seinem ersten Besuch in ihrer Praxis ihre Sprechstundenhilfe Tamara ("Tammi") ausgehorcht hatte. Die nicht besonders kluge Zweiundzwanzigjährige war auf ihn hereingefallen. Entsetzt schreit Cora: "Du hast ihm Informationen gegeben! Über mich! Einem Irren!" (Seite 111) In der dritten Woche schlägt Nagy der Therapeutin vor, zum "Du" zu wechseln: "Cora? Darf ich Cora sagen? Sagen wir Cora zueinander." (Seite 137)
Auf der Straße drängt er sie unvermittelt gegen eine Hauswand und fordert sie auf, ihren Rock hochzuschieben. Erregt tut sie es und sehnt sich danach, dass er ihr zwischen die Beine greift, aber er schnippt nur mit den Fingern und meint: "Ist gut. Hat mich nur interessiert. Wie weit du schon bist ..." (Seite 138) Vor Zorn über die Demütigung stampft sie mit dem Fuß auf. Roberts letzter Gedanke war: Es hätte schlimmer komm – (Seite 179)
Am Morgen wirft Cora die Nagy gehörende Waffe in der Nähe ihres Reihenhauses in eine Hecke, wo sie bestimmt gefunden wird. In der Praxis verbrennt sie die Handschuhe und das Protokoll über die Behandlung Nagys. Im Lauf des Vormittags ruft sie die Polizei an und meldet, ein ihr zwanghaft verfallener Patient habe gedroht, ihren Gatten umzubringen, und weil dieser das Telefon nicht abhebe, mache sie sich Sorgen. |
Buchbesprechung:
Nach der Lektüre von "Der große Bagarozy" wissen wir es: Bei dem schwarzen Pudel von Maria Callas handelte es sich um den, der schon Faust begegnet war! – So wie der Gelehrte einen Pakt mit dem Teufel schloss, um die Welt mit anderen Augen sehen zu können, wünscht sich die unerfüllte Psychotherapeutin Cora Dulz den Teufel herbei und wird sich durch die Begegnung mit ihm der Trivialität ihres Lebens bewusst. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Maria Callas (Kurzbiografie) |