Helmut Krausser: UC (Roman) |
Helmut Krausser: UC |
Inhaltsangabe:Der viel versprechende Dirigent Arndt Hermannstein wohnt mit seiner Ehefrau Laura in einer mondänen Villa am Lago Bracciano bei Aguillera oberhalb von Rom und besitzt außerdem Apartments in Paris, auf Kreta und der Kanareninsel Las Palmas. Arndt und Laura sind seit 1989 verheiratet. Als erfolgreicher Dirigent verdient Arndt zwar gut, aber der eigentliche Reichtum stammt von Laura bzw. deren Vater Heribert Feuer, der durch Immobilienspekulationen reich geworden war und in der Nähe von Küsnacht ein Schloss besaß. Hermannstein gilt als talentierter und aufstrebender, aber auch umstrittener, streitbarer und provokanter Künstler, der aus seinen erotomanen Eskapaden keinen Hehl macht. (Seite 133)
2003 fliegt Arndt eigens von Rom zu einem Klassentreffen in einem Münchner Biergarten. Die Klasse hatte das Abitur 1984 am Siegfriedgymnasium gemacht. Auch seine früheren Freunde Frank, Markus, Christoph und Andreas sind da. Der Neununddreißigjährige erinnert sich, mit drei der anwesenden dreizehn ehemalligen Mitschülerinnen Sex gehabt zu haben: mit Anne in Florenz während einer Klassenfahrt und später mit Christine; das Verhältnis mit Julia ("Ala") beendete er erst, als er zum Musikstudium nach Zürich zog. So weit er weiß, schlug Ala sich danach als Kneipenbedienung in München durch und heiratete schließlich in Amsterdam einen Marihuana-Raucher, der eine Stahlfabrik geerbt hatte. Alle versuchen, Eindruck zu schinden – bis auf Marita Schuhmacher, die nicht nur verhärmt wirkt, sondern auch ungepflegt aussieht und schlecht angezogen ist. [...] ich erschien nicht mehr zur fünften Probe, trieb mich stattdessen in einem Sohoer Pornokino herum. Was gleich darauf die Presse durch mich selbst erfuhr. Wenn schon Skandal, dann richtig. Ich posierte für die Kamera mit einer fast zahnlosen Stripperin im Arm. Gab ein Interview, in dem es hieß, dass die zahnlose Stripperin blasfertiger sei als etwaige Posaunisten gewisser ortsansässiger Orchester. (Seite 15)
In London wohnt Arndt im Apartment einer mit ihm befreundeten lesbischen Sopranistin namens Annabelle, die zur selben Zeit in New York auftritt und es ihm deshalb zur Verfügung stellte. Dort ruft Frank ihn an und teilt ihm kurz mit, man habe im Wald bei Gauting die Gebeine ihrer seit zweiundzwanzig Jahren vermissten Mitschülerin Marita Schuhmacher gefunden. Kurz darauf kommt Frank durch einen Stromschlag im Bad ums Leben. Die Frage, ob es sich um Suizid oder einen Unfall handelte, bleibt offen. ER hockt auf ihren schulterblättern, mondweiße schulterblätter. hinter seinem rücken ist einer von den jungs dabei, sie, die kaum noch etwas mitbekommt, zu ficken. ER, der nicht warten will, bis die reihe an ihm ist, hat sich auf ihren hals gesetzt, stützt sich auf dem waldboden mit knien und ellbogen ab, steckt ihr seinen schwanz in die kehle, sie würgt, ER stößt zu, sie erbricht sich, schluckt erbrochenes, keucht, spuckt, erbrochenes fließt ihr aus den nasenlöchern, ER merkt davon nichts, hat ihre haare mit beiden händen gepackt und fickt ihren kopf, sie droht zu ersticken, beißt zu, beißt in seinen schwanz, bis blut kommt, ER brüllt, ER schlägt nach ihr, ohrfeigt sie, worauf ihr biss nur hysterischer wird, ER greift nach einem apfelgroßen stein, schlägt ihr zweimal auf den kopf, bis der druck ihrer kiefer nachlässt. (Seite 108; dieselbe Geschichte, von dem Jungen in der Ich-Form erzählt, dann von dem Mädchen zunächst in der 2. Person und schließlich in der 1. Person Singular erzählt: Seite 336f) Statt der Aufforderung der Münchner Kriminalpolizei nachzukommen und eine schriftliche Zeugenaussage abzuliefern, versteckt sich Arndt einige Zeit in dem Apartment, das er in Berlin-Kreuzberg anonym für seine Geliebte Claudia Schneider gemietet hatte. Seit Claudia vor vier Monaten spurlos verschwunden war, stand es leer. Unsere Beziehung war eine der körperlichen Ausschweifung, des gemeinsamen Genusses von Tabak, Wein, gutem Essen, Musik, Pillen, Speed und Koks. (Seite 323) Dann fliegt er nach Las Palmas und trifft sich dort mit Laura, die zu seiner Verblüffung abstreitet, mit ihm verheiratet zu sein. Zwei Tage später ist er mit Laura in der Villa am Lago Bracciano, und sie behauptet, in der letzten Zeit nicht in Las Palmas gewesen zu sein. Aber Parallelen berühren sich nun einmal nicht, und wenn es zwei Lauras gibt, die voneinander nichts wissen, und vielleicht sogar zwei Maritas, dann existieren womöglich auch zwei Arndt Hermannsteins, für jede Laura und jede Marita einer. Stelle ich mir vor. (Seite 120)
Um mehr über Marita zu erfahren, besucht Arndt deren damalige Freundin Anne in München. Sie hatte drei Semester Psychologie studiert, dann Jura, war am Staatsexamen gescheitert und arbeitet inzwischen als Anwaltsgehilfin in Pasing. Obwohl ihm ihr Intimgeruch unangenehm ist, nimmt er sie mit in sein Apartment in Paris. Allerdings weigert er sich zunächst, mit ihr zu schlafen. Stattdessen bestellt er für 600 Euro den Weckdienst des Club Desirée. Zur gewünschten Zeit schließt eine als Kellnerin verkleidete Edelprostituierte mit einem vorher hinterlegten Wohnungsschlüssel auf und weckt ihn zärtlich, während zwei richtige Kellner ein opulentes Frühstücksbüffet mit Champagner hereinbringen. Die inzwischen nackte Prostituierte kniet gerade neben Arndt auf dem Bett und hat seinen Penis im Mund, als Anne in Slip und BH aus dem anderen Zimmer kommt. Erregt schaut sie zu.
Kurthes redete davon, dass heutzutage der Mensch von Niveau eine multiple Persönlichkeit sei, sein müsse, virtuell schizophren, nicht im Sinne eines Kranheitsbildes, einfach nur, um die vielen Erfordernisse, die eine rasante und vielschichtige Gegenwart an die Persönlichkeit stelle, verarbeiten und erfüllen zu können. (Seite 193)
Von Claudia fehlt jede Spur. Wurde sie wie Marita ermordet? Sieht aus wie Gefängnis, nur fehlt der Fernseher. (Seite 386)
Bei einem russischen Mafioso bestellt er einen gefälschten Reisepass, spaßeshalber auf den Namen Samuel Kurthes.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht, Zwanzig Jahre später empfängt Sam in der Villa am Lago Bracciano, die Laura ihm zur Verfügung gestellt hat, eine Fünfundzwanzigjährige. Sie heißt Kerstin Decker (ob er wohl weiß, dass es seine Tochter ist?), studiert Musik und Medienwissenschaften und möchte mit Sam ein Interview über seinen Roman "Ultrachronos" führen, dessen Protagonist ein Dirigent ist, dem er den Namen Arndt-Hermann Stein gab. Im Verlauf des Gesprächs spielt Sam seiner Besucherin eine Tonbandaufnahme vor, auf der Sibylle berichtet, was 1981 nach der Party in Gauting geschah. Sie war nach Hause gegangen und hatte dort auf Markus gewartet. Als es ihr zu lang dauerte, lief sie noch einmal zurück. Im Wald hörte sie Arndt, Frank, Andreas und Christoph betrunken herumgrölen. Ein Stück weiter vernahm sie ein Stöhnen. Das kam von Markus, der über der am Boden liegenden Marita kniete und sich auf den Ellbogen abstützte, bis er in ihrem Mund kam. Marita übergab sich. Angewidert stand Markus auf, zog seine Hose hoch und ging weg. Sibylle jedoch nahm einen Stein auf, schlug Marita damit tot und verscharrte die Leiche mit bloßen Händen.
Arndt nahm einen letzten Schluck vom köstlichen Wein. Arndt fällt ein Zahnputzbecher aus dem Hotelfenster, fünf Meter tief. Dann stürzt er selbst hinaus. Wenn nicht ein Zacken des am Boden zerbrochenen Glases sein Herz durchbohrt hätte, wäre er am Leben geblieben. |
Buchbesprechung:An der Oberfläche geht es in Helmut Kraussers Roman "UC" um einen unaufgeklärten Fall von Mord und Vergewaltigung – wie in "Die Nacht der Könige" von Stefan Beuse (2002). Das Geschehen kreist auf dieser Ebene um Sex und Gewalt, Liebe und Tod. Man baut seinen Text in vielen Schichten auf, sodass ganz oben eine Schicht erscheint, die selbst ein Depp zu verstehen glaubt. So kann man vor sich selbst die Würde bewahren, ohne hungern zu müssen. (Helmut Krausser)
Dass "UC" nicht einfach ein Thriller ist, deutet Helmut Krausser im Untertitel an, in dem er sich auf das Märchen "Der Schatten" von Hans Christian Andersen bezieht ("UC. Roman von Helmut Krausser, unter Zuhilfenahme eines Märchens von H. C. Andersen"). Auf den Seiten 233 bis 272 erzählt Helmut Krausser das Märchen zwar chronologisch, aber in elf durch die Romanhandlung getrennten Abschnitten. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Hans Christian Andersen: Der Schatten |