Andreas Maier: Das Haus (Roman) |
Andreas Maier: Das Haus |
Inhaltsangabe:
Andreas wird 1967 in Bad Nauheim geboren. Als die Wehen einsetzen, fährt der Milchmann die Hochschwangere in die Klinik, weil der Vater, ein Jurist und ehemaliger Steuerbeamter, in leitender Stellung bei der Henninger Bräu AG in Frankfurt am Main beschäftigt ist. Die Familie, zu der außer den Eltern und dem Säugling dessen fünf Jahre älterer Bruder und eine drei Jahre ältere Schwester gehören, wohnt in Nieder-Mörlen, einem Stadtteil von Bad Nauheim. 1970 baute die Familie dann also das Haus in Friedberg im Mühlweg. Arbeiter sägten die Apfelbäume des ehemaligen Obstgartens ab und gruben die Wurzeln aus dem Grund, legten die Stallungen nieder, man holte die Hühner vom Hof und schlachtete sie, auch der Hund war schon lange verschwunden, der alles zu bewachen hatte (ein Schäferhund namens Zeus, den ich nie kennengelernt habe), dann zogen sie den Zaun, um die Familie vor der Umwelt und der Nachbarschaft zu schützen. Anschließend hoben sie das Erdreich aus, verlegten ihre Leitungen, ihre Abwasserrohre unter die Erde, gossen Beton, wo vorher nur Erde und Bäume und Farn und Laub waren, und nun war da bereits eine riesige Betonwanne mit unterirdischen Kanalanschlüssen für Wasser und Fäkalien, das hatte keine zwei Monate gedauert, und meine Mutter steht mit ihrem leichten, hellen Übergangsmantel im Frühling, im Herbst auf dem Baugelände und überwacht den Bau, ein Kopftuch über dem Haar gegen den Staub und den Wind, während mein Vater in Frankfurt am Main ist und erst am Abend in die Wetterau zurückkehrt in seinem Dienstwagen der Henninger Bräu AG. Für den Dienstwagen ist auch mitgegossen worden, das Betonfundament der Garage. Auch das Automobil soll eine Heimat haben, auch es gehört mit zum Haus und soll darin wohnen und gegen Wind und Regen und Frost geschützt werden wie die Familie, und sogar eine Garagenheizung bekommt das Automobil und bald auch schon ein Geschwister, das Auto meiner Mutter. Die Mutter bringt Andreas nun in den Kindergarten.
Dort sind sie, die Kinder. Und dann passiert, was in meinem ganzen Leben noch nie geschehen und für mich ganz unvorstellbar war und mein Leben und alles, was mich betrifft, auf einen Schlag änderte und mehr oder minder genau in den Zustand versetzte, in dem es bis heute ist. Es passiert in dem Augenblick, da ich an der Hand meiner Mutter im Vorbau des Kindergartens stehe und gerade übergeben werde. Ich halte die Hand meiner Mutter fest, weil ich von diesem Ort wieder weg möchte, und meine Mutter macht meine Hand von der ihren los, um mich dort allein zurückzulassen. Es setzt sofort eine Betäubung ein. Und dann sehe ich sie, wie sie von mir weggeht, den Gang zurückläuft und schließlich hinter der Mauer verschwindet. Ich war zum ersten Mal allein. Oder anders gesagt: Ich war zum ersten Mal unter Menschen. Unter Menschen und allein.
Einige Stunden muss der unglückliche Dreijährige im Kindergarten bleiben. Dann wird er abgeholt, und die Eltern versuchen nicht noch einmal ihn hinzubringen, zumal er damit droht, sich in diesem Fall vor ein Auto zu werfen. Wenn damals irgendjemand unserer Schwester einen Gegenstand wegzunehmen versuchte, dann wälzte sie sich wie von Sinnen auf dem Boden, schlug mit ihren Fäusten gegen die Wand, riss den Umstehenden an den Haaren und so weiter. Mein Bruder dagegen, dem sie alles zerstört hatte, stand nur stumm da und stellte seine Schultasche ab. Irgendwann muss er sich daran gewöhnt haben, den Schmerz ohne Tränen zu bestehen. Er stand in der Tür, seine Augen wurden groß und nachdenklich. Er war in diesen Augenblicken immer vollkommen allein mit sich auf der Welt, glaube ich. Verlassen von allem. Nach einer Weile betrat er das Zimmer, musterte die verstreuten Bruchstücke, hob das eine oder andere auf, wie um zu überprüfen, ob noch etwas zu retten sei, was natürlich nicht der Fall war. Auch beim Abendessen im Kreis der Familie, das Andreas vor allem wegen des grellen Kunstlichts jeden Tag aufs Neue unangenehm ist, benimmt die Schwester sich alles andere als verträglich: Meine Schwester fiel beim Abendessen öfter dadurch auf, dass sie plötzlich laut aufschrie oder zu heulen begann oder ihr Käsebrot gegen die Wand warf. Hatte sie das Brot geworfen, schrie sie noch lauter, denn nun hatte sie ja kein Brot mehr, also musste ihr ein neues Brot geschmiert werden und eine neue Scheibe Käse darauf gelegt werden. Entweder aß die Schwester am Tisch anschließend das Brot mit dem üblichen Appetit, oder sie warf es wieder gegen die Wand oder einen der Umsitzenden.
Weil Andreas nicht spricht und sich absonderlich bewegt, befürchten die Eltern einen Nervenschaden und konsultieren mit ihm einen Arzt. Trotz der Symptome wird keine geistige Behinderung diagnostiziert. Jeden Tag war ich ein aus der Bahn geworfener Satellit auf dem Schulhof, und alle anderen schienen ihre festen Umlaufbahnen zu haben.
Häufig bleibt Andreas wegen einer Erkrankung zu Hause. |
Buchbesprechung:
"Das Haus" ist der zweite Band einer unter dem Obertitel "Ortsumgehung" geplanten Reihe von in der Wetterau spielenden Heimat- bzw. Provinzromanen. Elf Bände plane Andreas Maier, heißt es. Es geht um den Konflikt zwischen Paradies und Kultur, Natur und Zivilisation, Land und Stadt. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012
Andreas Maier: Wäldchestag |