Andreas Maier: Sanssouci (Roman) |
Andreas Maier: Sanssouci |
Inhaltsangabe:Der Fernsehregisseur Maximilian Alexander Hornung, der vor drei Jahren von Frankfurt am Main nach Potsdam gezogen war und dort die Vorabendserie "Oststadt" drehte, kam durch einen Unfall ums Leben. Nach der Beerdigung auf dem Frankfurter Hauptfriedhof treffen sich die Trauergäste in der Gaststätte "Nibelungenhof" zum Leichenschmaus. Die Trauergesellschaft versammelte sich um neun Uhr morgens, zu einer Zeit, zu der, wie einige dem Verstorbenen Nahestehende anmerkten, der Verblichene sicherlich noch geschlafen hätte. (Seite 10)
Eine Reihe von Freunden und Bekannten des Toten reiste aus Babelsberg an. Eine von ihnen ist Hornungs Nachbarin Anni Schmidt. Als sie dem dreijährigen Jesus eine Platte mit Wurstbroten hinschiebt, schreit dessen Mutter Merle Johansson entsetzt auf: "Sind Sie wahnsinnig!" Die sieben- oder achtundzwanzigjährige Schönheit, die im vierten Monat schwanger ist, achtet darauf, dass ihr Sohn kein totes Tier isst. [Merle Johansson:] Mit mir war er verheiratet. Wir haben vor drei Jahren geheiratet. Wir haben aber nicht zusammengelebt. Frau Schmidt: Und wann haben Sie sich scheiden lassen? Sie: Gar nicht, habe ich doch gesagt. Jetzt bin ich verwitwet. Sehen Sie, bis vor einer Woche war ich offiziell seine Frau, jetzt bin ich offiziell seine Witwe. (Seite 15)
Als die Trauergesellschaft schon eine Weile im "Nibelungenhof" zusammensitzt, tauchen die sechzehn oder siebzehn Jahre alten Zwillinge Heike und Arnold Meurer auf. Sie gelten als unzertrennlich, küssen sich leidenschaftlich auf den Mund, und man sagt ihnen eine inzestuöse Beziehung nach. Sie sind schlampig angezogen, und dem einen oder anderen fällt auf, dass Heike unter ihrem Minirock nichts anhat. Vielleicht aß eine der Aufseherinnen doch insgeheim im Kindergarten hin und wieder ein Wurstbrot. Womit sie den ganzen Kindergarten beschmutzte und verunreinigte. Das war das Schlimmste und Perverseste, was sich Merle vorstellen konnte. (Seite 185)
Später fährt sie mit ihren Freundinnen zum Jungfernsee und badet dort nackt. Weil sie an diesem Abend mit Lars verabredet ist, geht sie bei einem Sexshop vorbei und kauft neue Handschellen. Nach dem Essen im Restaurant nimmt sie Lars mit in die Wohnung und befiehlt ihm, in einem Zimmer auf ihn zu warten. Dann geht sie ins Badezimmer – "sich Zeit zu lassen gehört[e] dazu" – putzt sich sorgfältig die Zähne, zieht sich aus, betastet zuerst ihre rechte Brust, dann ihre linke, zieht ein Oberteil an, dann wieder aus und entscheidet sich endlich für zwei lange Strümpfe, bevor sie zu Lars zurückkehrt.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht, Der Mönch ist nicht der einzige, der mehr über die Vorgänge unter dem Park von Sanssouci erfahren möchte. Auch Ludwig Hofmann ist dem Geheimnis auf der Spur. Er hatte ein ganzes Laboratorium der Lust entdeckt. Dunkel und staubig wie ein Rattenloch, so macht es ihnen Spaß. Als Fleischbündel an einen Haken gehängt mit den diversen Instrumenten und Maschinen erwünschte Behandlungen erfahren oder den anderen als Fleischbündel an den Haken hängen und ihm ebenjene Behandlungen angedeihen lassen, das hatte etwas von Doktorspielen der sehr fortgeschrittenen Art. (Seite 273) Malkowski scheint dort sein Unwesen zu treiben. Dabei ist er mehr an Arnold als an dessen Schwester interessiert. Das erklärt die vielen Narben auf der Innenseite von Arnolds Armen. Auch seine Brustwarzen sind weg. Es musste einen Grund haben, wenn der Junge seine Unversehrtheit auf dem Altar von Malkowskis privater, unterirdischer Lebensgestaltung geopfert hatte. (Seite 274)
Wusste Max Hornung, was sich unter dem Park von Sanssouci abspielt? Hatte er vielleicht sogar vor, es in seiner Vorabendserie "Oststadt" einzubauen, in der übrigens Heike und Arnold mitspielten; sie stellten Kai und Christine Richter dar. Inzwischen beabsichtigt ein Theater in Potsdam, eine Bühnenfassung von "Oststadt" zu inszenieren. Und die Stadt bietet Christoph Mai einen Kuratorenvertrag an.
Frau Kupski: Potsdamer Künstler lässt Kind durch Stadt finanzieren.
An dem Tag, an dem Grigorij den Engel – bei dem es sich um Heike handelt – zum zweiten Mal erwartet, bringen ihn Alexej und Frau Klein mit dem Auto des Erzpriesters nach Werder zu einer Freundin von Frau Klein. Die beiden Frauen raten dem verstörten Bulgaren, nach Sofia zurückzukehren. Er hört ihnen freundlich zu, verschwindet jedoch in einem unbeobachteten Augenblick durch die Terrassentür. In Majas Hochgefühl wurden die Begriffe immer einfacher, größer und wahrer. Ja, vielleicht war heute wirklich der bisher schönste Tag in ihrem Leben [...] Loredanas Bruder nahm sie auf seine Schultern, denn Nils war nicht da. Nun war sie dem Himmel ein Stück näher [...] und sie hörte das Skandieren all dieser wundervollen Menschen: Nie wieder Faschismus, nie wieder Faschismus, und sie richtete ihre Augen [...] zum Himmel und jauchzte, wobei Loredanas Bruder von einem anderen, der ein anderes Mädchen auf seinen Schultern trug, leicht angerempelt wurde, worauf Loredanas Bruder ein wenig das Gleichgewicht verlor, wodurch sich ein lustiges Traumeln für Maja ergab, über das sie seltsam gickelnd lachen musste, und als sie die Blüten aus ihrer Hand fallen ließ, sah sie, wie sie dem Bordstein näher kam, der Bruder glitt aus, und sie sah irgendwie sehr deutlich die Farbe der Straße und des Trottoirs und sah auch, wie zwei oder drei Polizisten versuchten, sie aufzuhalten oder irgendwie mit den Händen aufzufangen, und dann sah sie die Bordsteinkante sehr deutlich und unerwartet nah vor sich, und dann wurde es schwarz. Und damit endete Majas Perspektive auf die Dinge. (Seite 299f) |
Buchbesprechung:Dort schrien die einen dies, die anderen das; denn in der Versammlung herrschte ein großes Durcheinander, und die meisten wussten gar nicht, weshalb man überhaupt zusammengekommen war. Diesen Satz aus der Apostelgeschichte 19.32 stellt Andreas Maier seinem Roman "Sanssouci" als Motto voran, in dem viel von (russisch-orthodoxer bzw. buddhistischer) Religion die Rede ist. Auch in "Sanssouci" fängt er – wie in "Wäldchestag" und "Kirillow" – eine Kakophonie von Gesprächen ein. "Sanssouci" ist ein grotesker Roman. Im ersten, vorwiegend aus indirekter Rede bestehenden Teil ist Andreas Maier ein fantastischer Figurenreigen gelungen. Meisterhaft sorgt er dafür, dass eine Figur der nächsten den Stab übergibt und die Perspektive wechselt, ohne dass wir den Überblick verlieren. Eine Handlung, die auf einen Höhepunkt hindrängt, gibt es in "Sanssouci" nicht; die Spannung ergibt sich stattdessen anfangs aus geheimnisvollen Andeutungen und gegen Ende zu aus düsteren Enthüllungen: Hinter den Kulissen des Alltags in Potsdam und speziell unter dem Park von Sanssouci tun sich Abgründe auf. "Sanssouci" [...] kreuzt Maiers bisherige Hauptwerke "Wäldchestag" samt seinem auf Thomas Bernhard getrimmten Gewäsch und "Kirillow", den Versuch, dem Gewäsch der Gegenwart einen dämonischen Dostojewski-Hintergrund zu geben. Bedeutung aus Bedeutungslosigkeit und Eigentlichkeit aus Uneigentlichkeit zu destillieren, das bleibt auch jetzt noch Maiers Geschäft. (Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 13. Januar 2009) Übrigens machte Andreas Maier keine guten Erfahrungen mit Potsdam. Nachdem er sich erfolgreich als erster Stadtschreiber von Potsdam beworben hatte, sollte ihm dort von November 2004 bis Februar 2005 eine Wohnung und ein Stipendium in Höhe von 6000 Euro zur Verfügung stehen. Am 1. November 2004 gab es allerdings weder eine Unterkunft noch einen unterschriftsreifen Vertrag. Die Medien griffen den Skandal auf: Die einen behaupteten, Andreas Maier habe ein Zimmer im Schloss verlangt, die anderen protestierten dagegen, dass ihn die Stadt angeblich in einem Plattenbau unterbringen wollte. Einige Geschäftsleute aus Potsdam – darunter Wolfgang Cornelius –, die sich um den Ruf von Potsdam sorgten, boten dem Schriftsteller daraufhin auf eigene Initiative eine Wohnung in der Fußgängerzone an, aber der Tumult veranlasste Andreas Maier, auf die Förderung zu verzichten. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008
Andreas Maier: Wäldchestag |