Margaret Millar: Liebe Mutter, es geht mir gut ... (Roman) |
Kritik: Margaret Millar erzählt ohne jede Effekthascherei, schnörkellos und psychologisch stringent. Der packende Psychothriller "Liebe Mutter, es geht mir gut ..." läuft wie ein präzises Uhrwerk ab: Da greift ein Rädchen ins andere. ![]() |
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Margaret Millar: Liebe Mutter, es geht mir gut ... |
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Inhalt: Helen Clarvoe erhält einen Anruf von einer Frau, die sich als ihre frühere Schwägerin Evelyn Merrick ausgibt. Die Anruferin weiß erstaunlich gut über Helen Bescheid und behauptet, sie schwer verletzt in einer Kristallkugel zu sehen. Verstört und verängstigt wendet Helen sich daraufhin an ihren Vermögensverwalter Paul Blackshear und bittet ihn, ihr zu helfen ... ![]() |
Originalausgabe: Beast in View |
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Margaret Millar: Liebe Mutter, es geht mir gut ... |
Inhaltsangabe:
Helen Clarvoe, eine unverheiratete Frau Anfang dreißig, zog nach dem Tod ihres Vaters Harrison Clarvoe vor einem Jahr zu Hause in Beverly Hills aus und mietete ein Apartment in dem zweitklassigen Hotel "Monica" in Hollywood. Da ihr der Vater ein Vermögen hinterließ, hätte sie sich eigentlich etwas Besseres leisten können. Mit ihrer Mutter Verna wechselt sie allenfalls einmal ein paar Worte am Telefon; auch ihren jüngeren Bruder Douglas, der noch zu Hause wohnt, hat sie seit der Trauerfeier nicht mehr gesehen. Helen ist einsam und wagt sich kaum auf die Straße. Sie achtet darauf, dass ihr Apartment stets abgeschlossen ist und auf ihrem Schreibtisch nichts herumliegt. "Mein Akt wird in jedem Kunstmuseum des Landes zu sehen sein. Jedermann wird die Möglichkeit haben, mich zu bewundern. Macht Sie das nicht neidisch, Clarvoe?" (Seite 6) Dann behauptet Evelyn, mit einer Kristallkugel in die Zukunft sehen zu können und fährt fort: "Ah, jetzt sehe ich es. Sie haben einen Unfall gehabt. Sie sind verletzt. Ihre Stirn ist aufgerissen, Ihr Mund blutet – Blut, Blut, überall Blut …" (Seite 7)
Verstört und verängstigt schickt Helen ihrem Vermögensberater Paul Blackshear eine Nachricht und bittet ihn, sie so rasch wie möglich aufzusuchen. Der Fünfzigjährige, der mit ihrem Vater befreundet war, kommt sofort. Helen erzählt ihm von dem Anruf. Er rät ihr, für einige Zeit zu verreisen, aber davon will sie nichts wissen. Stattdessen bittet sie ihn, nach Evelyn Merrick zu suchen. "Deine Strafe ist, so zu sein, wie du bist, Helen, und mit dir leben zu müssen." (Seite 83) Am Abend belauschte Helen ihre Eltern, die im Bett über den Vorfall redeten, und hörte, wie ihre Mutter sagte: "Du kannst eben keine Rose aus einer Distel machen [...] Ein Jammer, dass wir keine Tochter haben wie Evie." (Seite 83f)
Seit dieser Zeit übertrumpfte Helen ihre Freundin bei jeder Gelegenheit mit Lügen: Wenn Evelyn einen Freund hatte, behauptete sie, mit zwei Männern zusammen zu sein. Darüber zerbrach ihre Freundschaft. "Evelyn ist jederzeit bereit, Menschen gefällig zu sein. So ist sie, das ist so ihre Art; und für Freunde würde sie alles tun." (Seite 87)
Annabel Merrick macht sich Vorwürfe, weil sie es zuließ, dass Evelyn und Douglas Clarvoe heirateten. Die Flitterwochen wollten die beiden in Las Vegas verbringen, doch Evelyn kam nach ein paar Tagen allein zurück und ließ die nicht vollzogene Ehe annullieren: Sie hatte in Las Vegas herausgefunden, dass Douglas homosexuell ist.
"Ist es jemand, den ich kenne?" Helen kommt in einem Massagesalon im Rotlichtviertel zu sich. Ihr Kopf dröhnt. Bella, die fette Besitzerin des Etablissements, behauptet, sie sturzbetrunken vor der Tür aufgelesen zu haben und muss lachen, als Helen einwendet, das könne nicht sein, weil sie niemals Alkohol trinke. Immerhin muss Helen zugeben, dass sie stark nach Schnaps riecht. Sie flüchtet auf die Straße, aber auch da fühlt sie sich verfolgt. Evelyn! In jähem Entsetzen wich sie zurück. Auch die Frau im Fenster wich zurück. Blitzartig, bevor noch die Angst ihr ganzes Denken auslöschte, erkannte Helen, dass diese Frau ihr eigenes Spiegelbild war. (Seite 148)
Vor Schreck läuft Helen vor ein Taxi. Zum Glück wird sie nur leicht verletzt. Weil sie immer noch eine starke Fahne hat, glauben der Fahrer Harry Reis und die Unfallzeugen, sie sei betrunken. Reis bietet sich an, sie in ihr Hotel zu bringen.
"Alle haben sich deinetwegen geängstigt", sagte Evelyn. "Wo warst du denn bloß?" Als Evelyn fragt, ob Helen bei Jack Terola gewesen sei, lässt diese sie stehen und geht zum Aufzug.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht, Am Telefon erfährt Verna von Evelyn, dass Helen wieder im Hotel ist. Wenige Minuten später trifft Paul ein. Helen öffnet nicht. Paul und Evelyn hören jemand in dem Apartment, aber es ist nicht Helens Stimme, sondern eine schrille, fast schreiende Frau. Paul drängt Helen, zu öffnen. Es dauert lang, bis jemand an die Tür kommt.
Es knackte im Schloss, die Sicherheitskette wurde zurückgeschoben und die Tür langsam geöffnet und Miss Clavoes zermartertes Gesicht schaute misstrauisch heraus. Sie sprach zu Blackshear, und ihr bleicher Mund arbeitete mühsam, um die Worte zu bilden: "Helen ist nicht hier. Sie ist weit weg gefahren. Sie ist alt und krank und todunglücklich und möchte in Ruhe gelassen werden." (Seite 163) Sie hält einen Arm auf dem Rücken, und in einem Wandspiegel bemerkt Paul, dass sie einen Brieföffner in der Hand hat. Er bittet sie, ihn wegzulegen, aber sie durchsticht sich damit die Kehle. |
Buchbesprechung:Aus einem einfachen Plot hat Margaret Millar einen sorgfältig durchdachten, intelligenten Psychothriller gemacht: "Liebe Mutter, es geht mir gut …" Die beklemmende Atmosphäre, die sie auf der ersten Seite evoziert, hält sie bis zum Ende bei. Margaret Millar erzählt ohne jede Effekthascherei, schnörkellos und psychologisch stringent aus wechselnden Perspektiven. Die Charaktere werden durch Szenen, Dialoge und pointierte Beschreibungen lebendig. Aus mehreren über das ganze Buch verteilten Andeutungen entwickelt Margaret Millar auf virtuose Weise eine Schlusspointe, die alles umkippt, was man als Leser bis dahin annahm. Erst wenn man die Auflösung kennt und noch einmal zurückblättert, merkt man, dass "Liebe Mutter, es geht mit gut …" wie ein präzises Uhrwerk abläuft und ein Rädchen ins andere greift. Tatsächlich erschien selten die Auflösung einer Kriminalgeschichte so überraschend und zugleich so offensichtlich. Tat und Täter liegen so unmittelbar vor den Augen des Lesers wie Poes "Stibitzter Brief", und doch sieht sie keiner. (Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 13. Mai 2006) Margaret Millar wurde 1915 in Ontario geboren. Ihr Mädchenname war Margaret Ellis Sturm. In Toronto studierte sie Philologie und Archäologie. 1938 heiratete sie Kenneth Millar, der unter dem Pseudonym Ross Macdonald erfolgreiche Kriminalromane schrieb. Margaret Millar war zwar eine ausgezeichnete Konzertpianistin, aber nach der Geburt ihrer Tochter verlegte sie sich aufs Schreiben und veröffentlichte 1941 ihren ersten Kriminalroman: "The Invisible Worm". Für "Liebe Mutter, es geht mir gut ..." wurde sie 1955 mit dem "Edgar Allen Poe Award" ausgezeichnet. Im Alter von neunundsiebzig Jahren starb Margaret Millar 1994 in Santa Barbara, Kalifornien, an Herzversagen. Margaret Millar: Bibliografie (Auswahl)
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006 |