Martin Mosebach: Das Blutbuchenfest (Roman) |
Martin Mosebach: Das Blutbuchenfest |
Inhaltsangabe:
Sascha Wereschnikow brüstet sich mit seinen Kontakten und lässt dabei Namen wie Henry Kissinger und Boutros Boutros-Ghali fallen. Anfang der Neunzigerjahre, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, plant er in Jugoslawien eine Konferenz mit dem Titel "Die Wurzeln und Fundamente der menschlichen Würde in den Kulturen des Balkans" und hofft auf Teilnehmer aus den verschiedenen Bevölkerungsgruppen Jugoslawiens: Gelehrte, Kommunisten und Dissidenten, Separatisten und Unionisten. In der Gaststätte des aus Niederösterreich stammenden Wirts Merzinger in Frankfurt am Main spricht er den Ich-Erzähler darauf an, einen Kunsthistoriker Mitte 30. Der soll den Kongress mit einer Ausstellung über den jugoslawischen Bildhauer Ivan Mestrovic bereichern, den "Michelangelo Bosniens", der 1930 auf dem Höhepunkt seiner Erfolge war. Winnie auf irgendeine Art von Beständigkeit festzunageln, wäre nicht nur sinnlos, sondern auch grausam gewesen. Weil zu seiner Entscheidungsunfähigkeit die Unlust gehört, die Wohnung aufzuräumen, fragt er die junge Frau, die das Treppenhaus putzt, ob sie bereit sei, auch seine Wohnung zu übernehmen. Als er dabei ihren Namen erfährt – Ivana Mestrovic – fragt er sie nach dem Bildhauer Ivan Mestrovic. Ja, den kenne sie. Nicht persönlich, er sei tot, in Amerika gestorben, aber, sie rechnete kurz nach, nah verwandt. Er stamme aus demselben bosnischen Dorf wie sie, sei nicht der Bruder ihres Großvaters, sondern sein Vetter, die Urgroßväter waren Brüder.
Ivana stammt aus einem bosnischen Bergdorf. Bei ihrer Familie handelt es sich um katholische Kroaten, die seit Generationen neben muslimischen Nachbarn leben. Ivanas Vater hatte Anfang der Sechzigerjahre ein Haus für sich, seine Frau und die acht Kinder gebaut. Arbeiter zu bezahlen, wäre nicht möglich gewesen; die Familienmitglieder mussten mit anpacken. Die Backsteine brannte Ivanas Vater selbst, und nachdem der Eigenbedarf gedeckt war, verdiente er damit Geld, aber als um 1970 herum die ersten Industriebacksteine nach Bosnien importiert wurden, stellte er den Familienbetrieb sofort ein. Während das Gehöft der Mestrovics sich leerte, ging auch Ivana fort – anders als ihre Schwester Anna, die bei den Eltern blieb. Maruscha hielt es für angemessen, dass Herr Breegen ihren Freund Sascha Wereschnikow so respektierte, wie sie selbst das tat, und nicht auf ihn herabsah, bloß weil Sascha nicht wusste, dass sie auch Breegens Geliebte war. Wenn Maruscha Geld benötigt, nimmt sie es sich von einem ihrer beiden Liebhaber. Maruscha war das längst selbstverständlich; sie nahm ihm das Geld, das sie von ihm haben wollte – nie besonders viel, sie war maßvoll und bürdete keinem Mann mehr auf, als er leisten konnte –, unmittelbar und in blitzartigem Überfall ab, einfach die Brieftasche aus der Jacke ziehend, alle darin liegenden Scheine ratsch-ratsch an sich nehmend, die Tasche geschickt und sanft zurückgleiten lassend. Während Maruscha mit Breegen auf dem Sofa im Schlafzimmer sitzt und im Fernsehen ein Interview mit Sascha Wereschnikow anschaut, von dem sie annimmt, dass es live gesendet wird, hört sie, wie ihr anderer Liebhaber die Türe aufsperrt. Aus den Tiefen des Korridors rief gleichfalls Wereschnikows Stimme, heiter und unternehmungslustig: "Liebling", und mischte sich mit der Fernsehstimme – Wereschnikow überall, Zeit und Raum überwindend. Rasch drückt Maruscha Breegen die Schuhe in die Hand und schiebt ihn zu der Wendeltreppe, die in den ein Stockwerk tiefer liegenden Teil der Wohnung führt. Dort gibt es zwar auch eine Außentüre, aber sie ist abgeschlossen. Breegen sitzt in der Falle und versteckt sich in einem Wandschrank. Schränke waren, in einem von Breegen geplanten Haus selbstverständlich, innen beleuchtet, allerdings, wie sinnvoll, nur solange die Tür geöffnet war.
Nachdem Breegen eine Weile im Dunkeln gestanden hat, wird die Schranktür aufgerissen. Aber es ist nicht Wereschnikow, sondern die Putzfrau Ivana, die gerade zur Arbeit kam und von Maruscha sofort damit beauftragt wurde, einen Herrn zu befreien. "Wir Frauen ahnen alles, uns kann man nichts verheimlichen …" –, Herr Breegen hatte ein Verhältnis mit Ivana gehabt, oder ein solches hatte sich zumindest angebahnt – und nun war er klug genug, sich zu befreien und zu Frau Breegen zurückzukehren. Die Entrüstung, die sich zunächst in ihr geballt hatte, wurde alsbald von einer Riesenwoge aus Erleichterung und Dankbarkeit hinweggeschwemmt.
Kurz nachdem Breegen sich im Wandschrank verstecken musste, lernt Maruscha in Merzingers Gaststätte den 23 Jahre alten Tomislaw aus Montenegro kennen, der dichtet und sein Geld als Fensterputzer in Horst Wildflecks Window-Clean GmbH & Co. KG Gebäudereinigung verdient. Wenn du mit zwei Liebhabern nicht zurechtkommst, musst du einen dritten nehmen, sagt Maruscha sich, und beginnt eine Affäre mit Tomislaw ("Tommy"). Dafür trennt sie sich von Sascha Wereschnikow. Aber was hatte die chinesische Schildkröte mit der bosnischen Schildkröte zu tun?
Ivana bringt einen Sohn zur Welt. Von Anfang an ist klar, dass das Kind nicht bei den Eltern bleiben kann, sondern bei Ivanas Mutter in Bosnien aufwachsen wird. Als der kleine Branko zwölf Wochen alt ist, reist Ivana mit ihm und Stipo zur Hochzeit ihres jüngsten Bruders Mirko nach Jugoslawien. Der Ich-Erzähler nutzt die Gelegenheit, um seine Putzfrau zu begleiten, erfährt jedoch in deren Heimatort, dass Ivan Mestrovic zwar dort geboren worden war, die Eltern jedoch unmittelbar nach seiner Geburt nach Zagreb zogen. Und der Direktor der Mestrovic-Stiftung will auf keinen Fall bei einem Projekt mitwirken, an dem auch Serben beteiligt sind. "Du hast mir doch gesagt, der Mann macht Ausstellungen, der Mann ist interessant, der Mann kriegt Geld von euch … Ich kann dir sagen: Der Kerl ist eine stinklangweilige Null!"
Beate Colisée kommt nach dem Tod ihrer Nichte Winnie ins Pflegeheim. Rotzoff tat, als hole Merzinger sich Rat bei ihm. Merzinger sei unbelehrbar. Er, Rotzoff, habe ihm stets geraten, den Schwarm der Parasiten und Schnorrer abzuschütteln. Das Pack gehöre in den Steinbruch mit einer Eisenkugel am Bein, zehn Stunden Arbeit täglich mit der Spitzhacke.
Dann wirft Rotzoff das Ruder mit einer spontanen Idee herum: "Ich bin übrigens an einer ganz dicken, ganz heißen Sache." Er plane ein großes, exklusives Fest, raunt er Merzinger zu, und dabei komme dem Wirt eine Schlüsselstellung zu. Im
"Mein Fest?" Doktor Glück tat äußerst verwundert – nein nein, mit ihm habe das nicht das geringste zu tun, er stelle nur die Örtlichkeit zur Verfügung. Am Ende verschickt Inge Markies im Einverständnis mit Dr. Glück Einladungen für das Blutbuchenfest an distinguierte Kunden ihrer Agentur und reißt die Organisation an sich. Rotzoff lässt es zu, weil er damit im Fall eines Misslingens die Verantwortung wegschieben kann. Aber er kann es sich nicht verkneifen, Dr. Glück zu warnen. Als erfahrener Public-Relations-Spezialist sei er natürlich nie glücklich, wenn ihm eine Idee weggenommen, wenn nicht geradezu geklaut werde – dies Fest sei samt Finanzierung im Grunde fix und fertig entwickelt gewesen. Glück steige da nun ein, übernehme die Chose, trage dann freilich auch die Verantwortung. Auf Merzingers erfahrenes Personal möge er da aber lieber weniger rechnen: Die Kellnerin Evi sei eine Freizeitprostituierte, der Kellner Kevin ihr Zuhälter, der von großzügigen Griffen in Merzingers Kasse lebe, Merzinger zu blöd, um etwas zu merken.
Ivana, die inzwischen nach Frankfurt zurückgekehrt ist, erhält den Auftrag, Merzingers Personal beim Blutbuchenfest zu beaufsichtigen. Weil sie gerade zwei ihrer Stellen verloren hat – bei Breegen und Beate Colisée – ist Ivana froh über die Verdienstmöglichkeit, zumal nur Arbeit sie vom Schmerz über den Tod ihres Sohnes ablenken kann. Du mit deinen brillanten Verbindungen. Schickst mir einen kleinen akademischen Versager, der nur meine Büromädchen vögeln kann, und wunderst dich, dass deine Projekte nicht ins Laufen kommen.
Als Ivana endlich wieder jemanden in Bosnien erreicht, spricht sie mit ihrer Schwester Anna. Der Lastwagen blieb bei der versuchten Durchquerung eines Gebirgsbaches stecken. Die Flüchtlinge sind jetzt zu Fuß unterwegs. Hinter sich sehen sie das Gehöft brennen. Wir fanden sehr spät zueinander, erst in der Auflösungsphase des Festes. |
Buchbesprechung:
In seinem Roman "Das Blutbuchenfest" kontrastiert Martin Mosebach das Auseinanderbrechen Jugoslawiens 1991 mit einem Jahrmarkt der Eitelkeiten in Frankfurt am Main. Während katholische Bewohner eines Bergdorfs in Bosnien im Bürgerkrieg zwischen Serben und Kroaten, Christen und Muslimen in Existenznot geraten und auf der Flucht ihr Hab und Gut verlieren, wird in der dekadenten Frankfurter Gesellschaft Champagner getrunken und ein Kongress über "Die Wurzeln und Fundamente der menschlichen Würde in den Kulturen des Balkans" geplant. Verknüpft sind die beiden Handlungsebenen durch die aus Bosnien stammende, in Frankfurt lebende Putzfrau Ivana Mestrovic. Er gab Maruschas Nummer ein – warum war er darauf nicht früher gekommen? Die beklopptesten Bergsteiger schickten ihre Rettungsrufe aus dem Himalaja. Er funkte sein SOS aus dem Wandschrank – nein, das tat er leider nicht: Leuchten konnte das schwarze teure Ding, aber nicht senden, hier im Schrank gab es keinen Empfang.
Tatsächlich wurden erst 2010 am Basis-Lager des Mount Everest in 5200 Metern Höhe Sendemasten aufgestellt. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Martin Mosebach (Kurzbiografie / Bibliografie) |