Melanie Raabe: Die Falle (Kriminalroman) |
Melanie Raabe: Die Falle |
Inhaltsangabe:Linda Michaelis ist unter dem Pseudonym Linda Conrads berühmt, denn seit langem sind ihre im Jahresrhythmus geschriebenen Romane Bestseller. Sie war schon als Kind dafür bekannt, dass sie sich Geschichten ausdachte, die sie am Ende selbst mit der Wirklichkeit verwechselte. "Linda und ihre Geschichten", sagten die Leute kopfschüttelnd. Die Fantasie ist eine großartige Sache, so großartig, dass ich eine Menge Geld mit ihr verdiene.
Vor zwölf Jahren, am 23. August 2002, wurde ihre drei Jahre jüngere Schwester Anna mit sieben Messerstichen ermordet. Linda, die über einen Schlüssel für Annas Mietwohnung in München verfügte, entdeckte nicht nur die Leiche, sondern blickte auch noch kurz ins Gesicht des Mörders, bevor dieser durch die Terrassentüre floh. Der Fall wurde nie aufgeklärt. Meine bezahlte Verbindung zur Außenwelt.
Hin und wieder kommen auch der Verleger Norbert und die Literaturagentin Pia vorbei. Ihre in München lebenden Eltern hat Linda seit vielen Jahren nicht mehr gesehen, und die Telefongespräche mit ihnen sind selten geworden. Und natürlich bin ich den modernen Kommunikationsmitteln und den Medien extrem dankbar, dass sie es mir möglich machen, mir die Welt in mein Haus zu holen. In einer Nachrichtensendung starrt sie einen Reporter an, der vor dem Reichstag steht und über die letzte Auslandsreise der Bundeskanzlerin berichtet. Das Gesicht des Mörders!
Der Mann im Fernsehen, dessen Anblick mich so verstört hat, war echt. Nachdem sie sich von der Panikattacke erholt hat, fährt sie ihren Laptop hoch und ruft die Website der entsprechenden Nachrichten-Redaktion auf. Nach nur wenigen Klicks finde ich ihn. Das Monster. Ich schrecke zusammen, als sein Bild plötzlich auf dem Monitor erscheint [...]. Ich lese seinen Namen. Seine Vita. Ich lese, dass er Preise gewonnen hat. Dass er Familie hat. Ein erfolgreiches, erfülltes Leben führt.
Er heißt Victor Lenzen und ist 53 Jahre alt. Nach dem Politik-, Geschichts- und Journalismus-Studium absolvierte er ein Volontariat bei einer Frankfurter Tageszeitung. Er stieg zum Redaktionsleiter eines Münchner Blattes auf und war dann jahrelang als Auslandskorrespondent im Nahen Osten, in Afghanistan, Asien, aber auch in London und Washington. Vor einem halben Jahr kam er nach Deutschland zurück, wo er inzwischen sowohl fürs Fernsehen als auch für mehrere Printmedien arbeitet. Er wohnt in München. Aus seiner gescheiterten Ehe hat Victor Lenzen eine 13-jährige Tochter: Marie. Seine Lebensgefährtin Cora Lessing lebt in Berlin.
"Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns", sagt er mit fast anklagendem Ton.
Während Linda an ihrem Roman arbeitet, bereitet sie sich auch mental und körperlich auf die Auseinandersetzung mit dem Mörder vor. Als Bestseller-Autorin kann sie sich erstklassige Experten leisten, zum Beispiel einen Fitness-Trainer, einen auf Phobien spezialisierten Verhaltenspsychologen, der eine Vogelspinne auf ihre Hand krabbeln lässt, einen Trainer der Reid-Methode, die 1948 von dem Polizisten John E. Reid in Chicago entwickelt wurde, um bei Vernehmungen Geständnisse zu erlangen. Außerdem lässt sie eine Reihe versteckter Überwachungskameras und Mikrofone installieren. Linda Conrads: Blutsschwestern
Als die 27-jährige Künstlerin Sophie Peters ihre drei Jahre jüngere Schwester Britta in deren Wohnung in München besucht, findet sie die Grafikdesignerin tot vor. Bei der offenen Terrassentür steht ein Mann und starrt Sophie kurz an. Dann ist er verschwunden. "Sie haben den Tod Ihrer Schwester nicht verkraftet. Morgen wird man Sie in Ihrer Badewanne finden. Sie konnten einfach nicht mehr."
Es klingelt, lang und schrill. Der Mörder zuckt zusammen. Sophie nutzt die Ablenkung, um aus Pauls Umzugskartons einen Golfschläger zu reißen und zuzuschlagen.
Sobald Linda die Vorbereitungen abgeschlossen hat, vereinbart sie mit einer Münchner Zeitung, für die Victor Lenzen tätig ist, ihr erstes Interview nach mehr als zehn Jahren. "Meiner Meinung nach ist Sophie [...] keineswegs zerbrochen. Sie wäre beinahe am Tod ihrer Schwester zugrunde gegangen, das stimmt wohl. Aber letztlich hat sie sich zusammengerissen, um den Mörder ihrer Schwester zu überführen, und das gelingt ihr schließlich auch." Der Journalist fragt die Schriftstellerin, warum sie den Mörder als seelenlosen Soziopathen dargestellt habe, als Klischee, obwohl sie für ihre differenzierten und facettenreichen Charaktere berühmt sei. Dann kommt er auf das Mordopfer zu sprechen. Britta hält er für idealisiert. Ein besserwisserischer Gutmensch wie Britta müsse die Schwester genervt haben, meint er. Linda gesteht sich ein, dass sie oft wütend auf ihre selbstgefällige und manipulative Schwester war, aber das kann sie dem Mörder nicht sagen.
"Wissen Sie", fährt Lenzen ungerührt fort, "am meisten habe ich mich ja über die Auflösung gewundert. Ich habe tatsächlich die ganze Zeit über gedacht, dass es den Killer gar nicht gibt und dass sich am Ende die scheinbar am Boden zerstörte Schwester als Mörderin entpuppt." Linda kommt ins Grübeln:
Vielleicht gab es ja gar keinen flüchtenden Mann. Nur mich und Anna. Vielleicht war der flüchtende Mann nur eine Geschichte, eine so schöne Geschichte, wie sie sich nur Autorenhirne ausdenken können.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht, Obwohl Linda zu zweifeln begonnen hat, kann sie sich noch immer vorstellen, dass Victor Lenzen ein Mörder ist. Und als er ins Jackett greift, befürchtet sie, dass er ein Messer bei sich hat. Deshalb reißt sie die mit Klebeband unter der Tischplatte befestigte Pistole ab und richtet sie auf ihr Gegenüber. Ich schiebe jeden Zweifel beiseite. Lenzen wird dieses Haus nur als geständiger Mörder wieder verlassen – einen anderen Ausweg gibt es nicht. Mit der Waffe in der Hand wendet sie die Reid-Methode an und setzt Victor Lenzen mit einem Stakkato von Fragen unter Druck. Dass er den Ahnungslosen spielt, steigert ihren Zorn. Ungläubig fragt er, welches Geständnis sie von ihm erwarte. Ob er Anna Michaelis gekannt habe, fragt Linda. Er sagt nein. Die Frage, wo er am 23. August 2002 gewesen sei, kann er nicht beantworten. Schließlich scheint er zu begreifen, dass Linda ihn für die Mörderin ihrer Schwester hält.
"Sie glauben wirklich, dass ich der Täter bin." Er beteuert, er sei Pazifist und Menschenrechtler, habe noch nie jemandem etwas angetan. Victor Lenzen schluchzt und übergibt sich am Tisch.
Was, wenn der Punkt, an dem ein Victor Lenzen unter dem Druck, der auf ihn ausgeübt wird, zusammenbricht, längst erreicht ist? Wenn er nur deswegen noch nicht gestanden hat, weil er nichts zu gestehen hat? Plötzlich atmet Victor Lenzen auf.
"Ich war zu dieser Zeit nicht in München", sagt er. Er sei am 20. August 2002, am Tag vor dem Geburtstag seiner damaligen Ehefrau, nach Afghanistan geflogen, sagt er, und habe eine Woche lang von dort berichtet. Darüber müsse es noch etwas im Internet geben.
Er blufft.
Statt selbst ihr Smartphone zu benutzen, lässt sie Victor Lenzen auf seinem suchen. Nachdem er eine Weile getippt und gewischt hat, legt er sein Smartphone auf den Tisch und schiebt es zu Linda hinüber. Spiegel online. Tägliche Berichte von Victor Lenzen aus Afghanistan vom 21. bis 28. August 2002. Victor Lenzen kann nicht der Mörder sein, den Linda vor zwölf Jahren kurz gesehen hat. Er hat ein Alibi. Der Verbrecher läuft noch irgendwo ungeschoren herum. "Versetzen Sie sich doch mal in meine Situation. Die damalige Hauptverdächtige eines viele Jahre zurückliegenden Mordfalls schreibt ein Buch, in dem ebendieser Mord in aller Ausführlichkeit geschildert wird. Das ist doch eine Sensation!" Linda glaubt, sich verhört zu haben, aber Victor Lenzen behauptet, mit dem damaligen Leiter der Ermittlungen gesprochen zu haben. Die Polizei sei lange Zeit davon ausgegangen, dass Linda ihre Schwester Anna ermordet habe, sagt Victor Lenzen.
Victor Lenzen ist zu mir gekommen, nicht um ein Gespräch mit einer weltberühmten Bestsellerautorin zu führen, sondern um festzustellen, ob besagte Schriftstellerin nicht nur exzentrisch, sondern auch eine Mörderin ist. Mitten in der Nacht – Victor Lenzen ist längst gegangen – ruft Linda erstmals nach vielen Jahren ihre Eltern an. Ihre Mutter hebt ab – und legt gleich wieder auf, als sie begreift, wer am Apparat ist. Halten auch die Eltern sie für Annas Mörderin? Ist das der Grund, warum der Kontakt abgebrochen ist? Hatte sie einen Grund, Anna zu töten? Ja, ich habe sie verabscheut, ja, ich habe sie gehasst, ja, ich war eifersüchtig, ja, ich fand es nicht in Ordnung, dass meine Eltern grundsätzlich immer sie bevorzugt haben, die Kleinere, die Hübschere, sie, die so gut manipulieren konnte, sie, die so niedlich und unschuldig aussah.
Als Linda noch einmal Victor Lenzens Reportagen aus Afghanistan prüfen will, findet sie keine mehr davon. Offenbar hat er ihr mit einer getürkten Website etwas vorgemacht und ihr dann auch noch eingeredet, sie könne ihre Schwester selbst erstochen haben. Vielleicht mischte er ihr unbemerkt etwas in den Kaffee, das sie beeinflussbar machte. Er weiß jetzt, dass sie nichts gegen ihn in der Hand hat. Um das herauszufinden, war er bei ihr. "Sagen Sie ihm einfach, dass ich hier war. Linda Michaelis. Sagen Sie ihm, dass ich ihn gefunden habe. Den Mann, den Mann von damals. Er heißt Victor Lenzen. Können Sie sich das merken? Victor Lenzen."
Die Adresse kritzelt sie auf ein aus ihrem Notizbuch gerissenes Blatt. Dann setzt sie sich wieder ins Taxi, klebt sich das Handy unter dem Pullover auf die Haut und lässt sich hinfahren. "Ich hätte mir denken müssen, dass Sie kommen würden", sagt er.
Linda verlangt von ihm, ihr die Wahrheit zu sagen und hört zu, als er redet. "Denk ja nicht, dass du mich einfach so wegschmeißen kannst. Wenn ich mit dir fertig bin, dann hast du nichts mehr. Keine Frau, keinen Job und kein Kind." Anna beschimpfte und demütigte ihn, bis er ausrastete, ein Küchenmesser ergriff und auf sie einstach. "Was in dieser Nacht damals passiert ist, war ein grauenhafter Fehler", sagt er. "Nur ein Moment, ein einziger Moment des Kontrollverlusts. Schrecklich und unverzeihlich." Nach dem Geständnis fordert Victor Lenzen seine Besucherin auf, ihm ihr Handy zu geben. Er ahnt, dass sie alles aufgenommen hat. Er wirkt traurig und resigniert. Er weiß, was als Nächstes kommt, und es gefällt ihm nicht.
Linda holt das Handy unter ihrem Pullover hervor. Er entspannt sich. Aber statt ihm das Mobiltelefon auszuhändigen, reißt sie ein Fenster auf und wirft es hinaus. Weil der Mörder zwischen ihr und der Zimmertür lauert, flieht Linda auf den Balkon. Er folgt ihr und hat unvermittelt die Pistole in der Hand, von der sie glaubte, er habe sie in den Starnberger See geworfen. Er wird sie mit ihrer Waffe erschießen und bei der Vernehmung behaupten, die psychisch labile Schriftstellerin habe ihn damit bedroht. Man wird ihm Notwehr zugestehen. Ob er tatsächlich vorgehabt habe, das Land am nächsten Morgen zu verlassen, fragt Linda. Er schüttelt den Kopf. Sie begreift, dass er ihr eine Falle stellte und dafür sorgte, dass sie übereilt zu ihm kam. |
Buchbesprechung:
In ihrem Kriminalroman "Die Falle" veranschaulicht Melanie Raabe differenziert und facettenreich, wie sich eine traumatisierte Frau von den Einschränkungen durch ihre Ängste befreit und gestärkt aus der Krise hervorgeht. Die psychischen Vorgänge werden gründlich ausgeleuchtet. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Melanie Raabe: Die Wahrheit |