Melanie Raabe: Die Wahrheit (Thriller) |
Melanie Raabe: Die Wahrheit |
Inhaltsangabe:
Sarah Petersen arbeitet als Lehrerin in Hamburg und wohnt mit ihrem achtjährigen Sohn Leo in der Stadtvilla ihres seit sieben Jahren verschollenen Ehemanns. Philipp Petersen, der den von seinem 2002 verstorbenen Vater geerbten Konzern erfolgreich weitergeführt hatte, flog im Sommer 2008 geschäftlich nach Kolumbien. Er schickte seiner Frau noch eine SMS mit der Mitteilung, er sei gut in Bogotá gelandet. Der Letzte, der ihn sah, war sein Mitarbeiter Bernd Schröder, und zwar bevor Philipp Petersen losfuhr, um einen Termin mit einem potenziellen Investor in einem anderen Hotel der Stadt wahrzunehmen. Dort kam er nie an. Es wurde befürchtet, dass Farc-Rebellen ihn entführt haben könnten, aber es gab weder ein Bekennerschreiben noch eine Lösegeldforderung.
Kaum, dass ich sitze, fällt die Tür hinter uns ins Schloss, und das Geschrei der Fotografen dringt nur noch gedämpft an meine Ohren. Ich atme auf, schließe kurz die Augen. Keine zwei Sekunden später setzt sich der Wagen bereits in Bewegung. Ich erstarre, als ich die Augen wieder öffne. Leo und ich sind nicht allein im Wagen. Mein Kopf fährt herum. Unterwegs setzen sie Leo bei Sarahs bester Freundin ab, bei Miriam Becker, deren Ehemann Martin, dem achtjährigen Sohn Justus und dem Säugling Emily. Als der Wagen schließlich vor der Villa der Petersens hält, stürzt Sarah hinein und erreicht gerade noch das Bad, bevor sie sich übergibt. Hinter ihr betritt der Fremde das Haus. Heute hätte mein Mann nach Hause kommen sollen, mein über alles geliebter Mann, stattdessen war ein Fremder an Bord der Maschine. Es ist mir nicht gelungen, ihn gleich am Flughafen zu entlarven, man hat ihn neben mich in ein Auto verfrachtet. Wir wurden nach Hause gefahren. Jetzt bin ich hier. Barbara Petry vom Krisenstab des Auswärtigen Amtes kommt sofort, nachdem Sarah mit ihr telefoniert hat.
"Ich weiß, es klingt verrückt", sage ich. "Aber der Mann, den Sie und alle anderen für Philipp Petersen halten, ist nicht Philipp Petersen. Ich weiß nicht, wer er ist, aber er ist nicht mein Mann." Der Fremde schlägt eine Gegenüberstellung vor: "Du hast gerade gesagt, dass jeder, der mich kennt, sofort merken müsste, dass ich nicht Philipp bin", sagt er und lässt seinen Blick von mir zu Petry und wieder zu mir wandern. "Wie wäre es, wenn wir jemanden dazu bitten? Jemanden, der mich kennt. Würde dich das überzeugen?" Barbara Petry hält das für einen konstruktiven Vorschlag. Sarah meint allerdings: "Egal, wen wir fragen – jeder wird Ihnen bestätigen, dass das nicht mein Mann ist." Sarah will gerade Johann Kerber vorschlagen, einen väterlichen Freund der Familie, den sie bereits anzurufen versuchte, der allerdings gerade in China zu tun hat und auch nicht per Handy zu erreichen ist – was Sarah wundert, denn das Handy des Workaholic ist gewöhnlich rund um die Uhr eingeschaltet. Bevor Sarah den Namen ausspricht, fragt der Fremde:
"Wie wäre es mit Johann?" [...]
Johann ist in den nächsten Tagen nicht verfügbar. Die Freundschaft mit Miriam begann erst nach Philipps Entführung; die Beckers kennen ihn deshalb nur von Fotos. Philipps verwitwete, an Alzheimer erkrankte Mutter Constanze Petersen lebt seit Jahren in einem luxuriösen Pflegeheim, und Geschwister hat Philipp keine.
Natürlich weiß ich auch das Datum des Hochzeitstages, es war der 11. April. Es ist nicht so, als wäre es mir vorhin entfallen. Nach einer Weile weist er darauf hin, dass er seit 48 Stunden auf den Beinen und entsprechend müde sei. Mit dieser Begründung lehnt er es auch ab, das Hemd zu öffnen, als Sarah ihn dazu auffordert, weil Philipp ein markantes Muttermal auf der Brust hat.
"Ich verlange einen Gentest", sage ich. Seine Zustimmung zu einem Gentest beseitigt auch den kleinsten Zweifel Barbara Petrys an seiner Identität. Während der Fremde die Mitarbeiterin des Krisenstabs hinausbegleitet, sagt er: "Es geht meiner Frau nicht gut [...] Ich glaube, der heutige Tag war ein bisschen viel für sie. [...] Bitte versprechen Sie mir nur, dass Sie niemandem hiervon erzählen. Es wäre mir furchtbar unangenehm, und Sarah – sobald sie wieder ganz bei sich ist – erst recht. Nachts rennt Sarah barfüßig aus dem Haus und zur Hauptstraße. Ein Kombi hält an. Sarah fleht den Fahrer an, ihr zu helfen. Aber da ist auch schon der Fremde und sagt: "Sarah, mein Gott, was machst du denn nur für Sachen?" Dann wendet er sich ruhig an den Autofahrer: "Bitte entschuldigen Sie. [...] Meiner Frau geht es nicht so gut." Sarah begreift, dass sie so nicht weiterkommt, denn wenn es zum Kalkül des Fremden gehört, dass sie sich wie eine Verrückte verhält, hat sie ihm in die Hände gespielt. Es wäre naheliegend, dass der Hochstapler vorhat, sie in die Psychiatrie abzuschieben und sich auf diese Weise das Familienvermögen anzueignen. Wenn der Fremde vor Recht und Gesetz als mein Ehemann gilt – kann er mich dann wegsperren lassen? Und wenn er das kann, welche Verfügungsgewalt hat er dann noch? Wenn ich verunglücke und ins Koma falle – kann er mir dann die Maschinen abstellen lassen? Und was ist mit Leo?
Sarah holt die Pistole ihres Mannes vom Dachboden und versteckt sie im Schlafzimmerschrank.
"Constanze?", sage ich und erhebe mich. "Ich wollte Sie gerne überraschen. Philipp ist hier. Ihr Sohn." Die bösen Äußerungen der Schwiegermutter veranlassen Sarah, über sich nachzudenken. Ich weiß plötzlich, dass ich mich der Vergangenheit stellen muss, wenn ich in der Gegenwart bestehen will. Im Alter von 17 Jahren hatte sie ihre Mutter erhängt in der Küche vorgefunden. Danach verbrachte sie eine Wochen in der Psychiatrie, weil ihr der Bezug zur Realität verloren gegangen war. Als Lehramtsstudentin lernte sie Philipp kennen. Während eines Kalifornien-Urlaubs beschlossen sie spontan, in Las Vegas zu heiraten. Sarah hatte ohnehin keine Familie, die sie zur Hochzeit hätte einladen können, und Philipp wusste, dass seine Mutter die Eheschließung für nicht standesgemäß hielt. Als Sarah schwanger wurde, freute sich Philipp, aber sie selbst bekam Angst, dass sie ihr Kind nicht vor der Welt würde beschützen können. Nicht, dass ich nicht in der Lage sein würde, vernünftig für mein Kind zu sorgen, das nicht, nein. Ich hatte Angst, dass mein Kind es mir nachtragen könnte, es in diese Welt hinein zu schicken, ungefragt. In eine Welt, die ich ihm auch nicht erklären konnte. Die so voll war von Wundern und Grauen, so unfassbar und unerklärlich. Ich hatte Angst, weil ich keine Antworten hatte auf die elementaren Fragen. Nach zwei Fehlgeburten brachte Sarah Leo zur Welt. Sie hätten glücklich sein können, gerieten jedoch immer häufiger in Streit. Dann kam der Abend, an dem sie im Wochenendhaus am See einen Anruf der Babysitterin erhielten, die mitteilte, dass der knapp ein Jahr alte Leo Fieber hatte. Sie setzten sich sofort ins Auto. Sarah fuhr. Erneut stritten sie sich. Philipp herrschte sie an: "Schau nach vorne, verdammt!" Aber da polterte es bereits. Sie hielten an. Sarah dachte zunächst, sie habe ein Reh überfahren, aber dann sah sie einen toten Mann auf der Straße liegen. In dem Waldgebiet gab es kein Mobilfunknetz. Sie fuhren weiter und wollten von zu Hause aus die Polizei anrufen. Aber das unterließen sie dann doch. Die Frau, die Tag für Tag zur Schule geht und Teenagern von englischer Grammatik und deutscher Prosa erzählt, die durch die Straßen der Nachbarschaft joggt, die im Flüchtlingsheim aushilft und für ihre alte Nachbarin einkauft, die alleinerziehende Mutter, die sich so rührend um ihren Sohn kümmert und alles so bewundernswert auf die Reihe kriegt, und das, obwohl sie so viel Pech hatte im Leben, ist eine Mörderin.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
Kann der Fremde das wissen? Will er sie damit unter Druck setzen? Leo darf es auf keinen Fall erfahren. Sarah holt die Pistole. Sie zielt auf den Fremden und drückt ab, zweimal. Mit rudernden Armen fällt er nach hinten. Aber sie spürte weder einen Rückstoß noch hörte sie einen Knall. Und der Fremde beginnt schallend zu lachen. Die Waffe habe er gefunden und entladen, erklärt er, ist aber sichtlich erstaunt, dass Sarah tatsächlich auf ihn geschossen hätte.
Ich starre Philipp an, Philipp starrt mich an.
Während er von den Farc-Rebellen im Dschungel-Camp gefangen gehalten wurde, hatte es immer wieder geheißen: "Keiner will für dich zahlen!" Sieben Jahre lang dachte er rachsüchtig darüber nach, wer ihn verraten haben könnte. Bernd Schröder hätte mit in dem Auto sitzen sollen, aus dem heraus Philipp entführt wurde. Aber der ehrgeizige Mitarbeiter war im Hotel geblieben, angeblich wegen einer Erkältung. Sein väterlicher Freund Johann Kerber hatte ihn zu der Reise nach Kolumbien gedrängt. Wollte er Philipp ausschalten, um an dessen Vermögen zu kommen? Philipp wusste von den finanziellen Schwierigkeiten in Johanns Firma. Oder war Sarah die Drahtzieherin? Hatte seine Mutter nicht immer wieder behauptet, Sarah sei lediglich hinter seinem Geld her!
"Warum hast du mich hierher gebracht?", frage ich.
Philipp recherchierte damals und fand heraus, dass es sich bei dem Toten um einen 41-Jährigen handelte, der kurz zuvor arbeitslos geworden war. In vermutlich suizidaler Absicht ging Norman K. im Dunkeln auf der Landstraße durch den Wald und wurde von einem Auto erfasst. Der Fahrer beging Fahrerflucht, stellte sich aber später der Polizei. Bei den Untersuchungen stellte sich heraus, dass Norman K. von mehreren Autos überfahren worden war. Philipp versuchte zwei-, dreimal, es seiner Frau zu sagen, aber sie wollte nichts mehr über den traumatischen Abend hören. Als er für fünf Tage nach Kolumbien reiste, nahm er sich vor, Sarah nach seiner Rückkehr zu zwingen, ihm zuzuhören. |
Buchbesprechung:
Das Thrillerdrama "Die Wahrheit" von Melanie Raabe dreht sich um Identität und Veränderung, Schuld und Verdrängung. Die Kernidee des Plots kann man nicht verraten, ohne der Auflösung im Buch vorzugreifen. Melanie Raabe zitiert selbst einmal Gerhart Hauptmann mit dem Satz "Es gibt nichts so Grauenvolles wie die Fremdheit derer, die sich kennen." |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Melanie Raabe: Die Falle |