Anja Snellman: Zeit der Haut (Roman) |
Anja Snellman: Zeit der Haut |
Inhaltsangabe:
Die finnische Erzählerin ist noch keine vierzig. Vor drei Jahren sah sie zum ersten Mal die offenen, eitrigen Wunden an den Beinen ihrer verwitweten, einundachtzigjährigen Mutter. Fünf Monate lang versuchten die Erzählerin und ihre zehn Jahre ältere Schwester, ihre Mutter zu Hause gesund zu pflegen. In dieser Zeit gebar die Erzählerin ihre erste Tochter. Die eine spricht undeutlich, und die andere hört schlecht. (Seite 138)
Schließlich lassen die Geschwister ihre Mutter gegen deren Willen ins Krankenhaus bringen. Als eine Krankenschwester der Patientin den Schlüpfer vom Leib schneidet, betrachtet die Erzählerin die ihr jetzt ausgelieferte nackte Mutter erbarmungslos und so neugierig, wie sie es als vierjähriges Kind getan hatte. Männliche Humanität und männliches Einfühlungsvermögen brachten in dieses Reich der Frauen nur die jungen Männer ein, die in ihre Sommerjobs als Pfleger und Bader ausschwärmten – meistens waren es Hilfskräfte aus dem Ausland. (Seite 82) In dem Krankenzimmer liegen sechs sterbende Frauen. Eine von ihnen befindet sich seit zehn Jahren in einem Wachkoma. Die Erzählerin, die in der Nähe des Krankenhauses wohnt, besucht ihre Mutter vormittags und abends; ihre Schwester geht am Nachmittag nach dem Büro und an den Wochenenden hin.
Ich bin überrascht und fast erschüttert von Mutters Fähigkeit, mit anderen Menschen Umgang zu pflegen. Meine Mutter, die Frau, die ich bisher gekannt hatte, ist ihrem Wesen nach eine Einsiedlerin, misstrauisch und immer auf das Schlimmste gefasst, jemand, der ausweicht, sich Sorgen macht. Jetzt sehe ich an Mutter eine gesellige Seite, eine gesprächige, neugierige, unbefangene, die nicht nur im Sarkasmus, sondern auch sonst komisch sein kann. Auch die anderen todkranken Patientinnen erhalten regelmäßig Besuch von ihren erwachsenen Töchtern. Wir schlurfen tagaus, tagein dieselben Bahnen entlang, zu den Betten und zurück zum Waschbecken. Wir schleppen die skelettartigen Wesen zur Toilette und zurück. Wir bürsten die fratzenhaft grinsenden künstlichen Gebisse, holen mit einem Streichholzende Speisereste aus den Zwischenräumen zwischen den Zähnen, summen Psalmen und Schlager, schieben in den weit aufgesperrten Rachen ein Stück Brot und reichen zum Nachtrinken dünnen Saft, riechen die frisch herausgerutschte Scheiße und können schon allein dem Geruch nach genau deren jeweilige Farbschattierung und Konsistenz bestimmen, schneiden die gekrümmten Nägel, unter denen sich ein Pilz oder wer weiß was noch für schwarzer Bewuchs eingenistet hat. Wir kämmen die Haare, von denen der größte Teil im Kamm zurückbleibt. Wir entfernen still und ausdruckslos blutige Klümpchen bald aus den Ohren, bald zwischen den Zehen. (Seite 112) Die Atmosphäre dieser Krankenhausabteilung für todgeweihte Patienten empfindet die Erzählerin nicht nur als morbid, sondern zugleich als erotisch:
Ich könnte mich jederzeit zum Höhepunkt bringen, die Gegenwart des Todes versetzt mich ein ums andere Mal in heftige Erregung [...]
Als die Erzählerin ihre Mutter nach der Geburt ihrer zweiten Tochter darauf hinweist, dass sie nun auch zwei Töchter habe wie sie, bleibt die Kranke still. (Den Grund dafür wird die Erzählerin erst später verstehen.)
Sie drückte ihren Brustkorb heraus und genoss es, dass die dunklen Höfe ihrer Brustwarzen sich unter der weißen Spitzenbluse abzeichneten [...] Jetzt, wo sie etwas mehr von der Vergangenheit ihrer Mutter weiß, ahnt die Erzählerin, die mitunter mehrere sexuelle Beziehungen gleichzeitig hatte, dass "die in ihren Adern pochende Leidenschaft doch von der Mutter stammt" (Seite 67). Erst jetzt wagt sie, die Tochter, auch diese dunkle Doppelseite zu betrachten: Die bekannte, von jeder Leidenschaft entleerte Frau, ganz nahe, einen Atemzug entfernt, auf dem Bett liegend, mit den Händen nach dem klitschnassen, zerwühlten Bettzeug greifend, tiefe Kehllaute ausstoßend, keuchend, nach mehr flehend, der feuchte Mund voller Speichel, die schmalen Lippen von Küssen geschwollen, erst jetzt stellt sie sich die hellen, schmalen Schenkel geöffnet vor [...] (Seite 216) Sie weiß nicht, was sie mehr erschüttert, die Erkenntnis, "dass jene im Küchenwinkel hockende Gestalt in Wirklichkeit eine lebenshungrige Frau war" (Seite 67f) oder das Wissen, dass die Mutter ihr erstes Kind verlassen hatte, um ihrem eigenen Glück hinterherzujagen. |
Buchbesprechung:
In ihrem Roman "Zeit der Haut" zeigt die finnische Schriftstellerin Anja Snellman eine gleichaltrige Romanfigur mit autobiografischen Zügen, die ihre sterbende Mutter pflegt und sich dabei an frühere Zeiten erinnert. Nach dem Tod der Mutter begreift sie, dass diese Frau auch Seiten hatte, die ihr bis dahin verborgen blieben: Charaktereigenschaften, die sie an sich selbst auch beobachtet hat. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005 |