Donna Tartt: Der Distelfink (Roman) |
Donna Tartt: Der Distelfink |
Inhaltsangabe:Theodore ("Theo") Decker ist 13, als seine Mutter Audrey aufgefordert wird, mit ihm zu einer Besprechung in die Schule zu kommen, denn man will ihn vom Unterricht suspendieren. Den Grund kennt auch Theo noch nicht. Ich war krank vor Sorge, Mr Beeman könnte irgendwie herausgekriegt haben, dass Tom Cable und ich in leere Ferienhäuser eingebrochen waren, bei meinen Besuchen bei ihm draußen in den Hamptons. Ich sage eingebrochen, obwohl wir kein Schloss geknackt und auch sonst nichts beschädigt hatten (Toms Mutter war Immobilienmaklerin, und wir klauten einfach die Ersatzschlüssel von dem Brett in ihrem Büro). Hauptsächlich hatten wir Schränke durchstöbert und Schubladen durchwühlt, aber wir ließen auch ein paar Sachen mitgehen: Bier aus dem Kühlschrank, Spiele für die Xbox, eine DVD (Jet Li, Entfesselt) und auch Geld, insgesamt ungefähr 92 Dollar, zerknüllte Fünfer und Zehner aus einem Glas in einer Küche, jede Menge Kleingeld aus den Wäschekammern. Theo und seine Mutter leben in New York. Theos Vater Larry hat die Familie einige Monate zuvor verlassen und bezahlt auch keinen Unterhalt für seinen Sohn. Weil Audrey sich ohnehin in der Werbeagentur, in der sie beschäftigt ist, einen halben Tag frei nehmen muss, um mit Theo zur Schule fahren zu können, wollen sie vor dem Termin mit dem Lehrer noch in einen Park. Doch ein Regenschauer vereitelt den Plan, und die beiden flüchten ins Metropolitan Museum of Art. Audrey, die aus Kansas nach New York gekommen war, hatte als Kellnerin und Teilzeitmodel Geld verdient und Kunstgeschichte an der New York University studiert. Sie zeigt ihrem Sohn das Gemälde "Der Distelfink" von Rembrandts Schüler und Vermeers Lehrer Carel Fabritius. "Das ist ungefähr das erste Bild, das ich jemals wirklich geliebt habe", sagt sie.
Theo hat jedoch nur Augen für ein rothaariges Mädchen, das mit einem älteren Herrn – vermutlich dem Großvater – durch die Ausstellung schlendert. Schließlich beauftragt Audrey ihn, zwei Ansichtskarten zu kaufen, während sie sich noch rasch Rembrandts Anatomiestunde anschauen und dann im Museumsshop ein Geschenk für eine Bekannte aussuchen möchte. Weil Theo seine Blicke nicht von dem Mädchen lösen kann, zögert er den Gang zum Museumsladen hinaus. Plötzlich wird er von einer Explosion umgeworfen. Die untere Hälfte seines Körpers lag verdreht auf dem Boden wie ein Haufen schmutziger Wäsche. Der Schwerverletzte fragt nach Pippa. So heißt offenbar das Mädchen, mit dem Theo ihn sah. Aber das Kind ist nirgendwo zu sehen. Neben dem Mann liegt das Gemälde "Der Distelfink". Der Junge hebt es auf und will es ihm geben, aber der Alte fordert ihn auf, es wegzubringen. "Nimm es mit!", bedrängte er mich. "Geh!" Der Sterbende zieht seinen schweren Goldring ab.
"Nein, den will ich nicht." Ich scheute davor zurück. "Warum tun Sie das?"
Nachdem der Greis gestorben ist, robbt Theo durch eine Öffnung ins Freie. Überall sind Feuerwehrautos. Ein Sanitäter schreit: "Es gibt noch eine Bombe!" Ich hatte zwar formal gesehen einen Satz Großeltern – den Dad und die Stiefmutter meines Vaters in Maryland –, aber ich wusste nicht, wie ich sie erreichen konnte. Das Verhältnis zwischen meinem Dad und seiner Stiefmutter Dorothy, einer ostdeutschen Einwanderin, die sich vor ihrer Ehe mit meinem Großvater ihren Lebensunterhalt als Büroreinigungskraft verdient hatte, war gerade noch höflich zu nennen. Der Latino kommt auf Theos Großeltern Bob und Dorothy Decker zu sprechen.
"Moment", sagte ich. Ich war fassungslos angesichts dessen, wie schnell hier alles außer Kontrolle geriet, und angesichts auch der fälschlich angenommenen Wärme und Vertrautheit in der Art, wie er die Worte Grandma und Grandpa aussprach.
Ohne lange nachzudenken, nennt Theo die erste Telefonnummer, die ihm in den Sinn kommt, die seines Schulfreundes Andy Barbour. Die Sozialarbeiter bringen ihn zu der großbürgerlichen Familie mit acht Bediensteten. Mr und Mrs Barbour, die selbst vier Kinder haben – Andy, dessen älteren Bruder Platt, die neunjährige Katherine ("Kitsey") und den siebenjährigen Toddy – nehmen Theo erst einmal bei sich auf und stellen ihm das Zimmer ihres ältesten, im Internat wohnenden Sohnes zur Verfügung. Andys Mutter [...] – eine Frau, die den Bürgermeister anrufen konnte, wenn sie eine Gefälligkeit brauchte – agierte offensichtlich irgendwie oberhalb der bürokratischen Zwänge von New York City. Trotz aller Verwirrung und Trauer hatte ich das Gefühl, sie regelte Dinge hinter den Kulissen, machte sie leichter für mich und beschützte mich vor den rabiateren Auswüchsen der Maschinerie des Jugendamts und – dessen bin ich heute ziemlich sicher – der Presse. Am Tod seiner Mutter fühlt Theo sich schuldig, denn seinetwegen hatte sie sich freigenommen und war mit ihm in die Stadt gefahren.
Warum hatte ich nicht darauf bestanden, frühstücken zu gehen, statt ins Museum? Nach einiger Zeit fährt Theo mit dem Bus ins Village und klingelt bei Hobart and Blackwell. Ein 50 oder 60 Jahre alter Mann öffnet, und Theo hält ihm den Goldring des Verstorbenen hin.
Er starrte den Ring an, dann mich.
Der Kunstschreiner heißt James Hobart, wird aber von seinen Freunden Hobie genannt. Welton ("Welty") Blackwell war sein Geschäftspartner, ein Kaufmann, zuständig für den Antiquitätenladen, für den Hobie Möbel restauriert. "Jeder Kunsthändler und antiquario in New York kennt Samantha Barbour. Sie war eine Van der Pleyn, bevor sie heiratete." In der Zeitung las er, dass sie einen Jungen aufnahm, der seine Mutter bei dem Sprengstoffanschlag verloren hatte.
"Was stand über mich in der Zeitung?" Theo fragt nach dem Mädchen, das den alten Mann begleitete. Es handelt sich um Pippa. Welty war ihr Onkel, ein Halbbruder ihrer Mutter Juliet, 30 Jahre älter als diese. Als Juliet vor sechs Jahren einem Krebsleiden erlag, nahm er Pippa zu sich. Das traumatisierte Kind liegt ihm Bett, hat starke Schmerzen und kann kaum länger als eine halbe Stunde sitzen.
"Sie hat einen bösen Schlag auf den Kopf bekommen. Schädelbruch. Um die Wahrheit zu sagen, sie hat eine Zeitlang im Koma gelegen, und das linke Bein war an so vielen Stellen gebrochen, dass sie es beinahe verloren hätte. 'Ein Strumpf voller Murmeln'." Er lachte ohne Heiterkeit. "So hat der Arzt es beschrieben, als er die Röntgenaufnahmen gesehen hatte. Zwölf Brüche. Fünf Operationen. Letzte Woche", fuhr er fort, "haben sie die Nägel herausgezogen, und sie hat so sehr gebettelt, nach Hause kommen zu dürfen, dass sie es erlaubt haben. Aber wir mussten eine Teilzeitkrankenschwester einstellen."
Pippa rede von ihm, verrät Hobie seinem Besucher. Da sei doch ein Junge gewesen, sage sie immer wieder. Nachdem Theo kurz zu ihr hineingeschaut hat, vertraut Hobie ihm an, dass Margaret Blackwell Pierce, Weltys andere Halbschwester, gekommen sei, um Pippa mit nach Texas zu nehmen. Dort hat sie bereits einen mit Pferden arbeitenden Therapeuten für ihre Nichte engagiert. "Er muss veranlassen, dass dieser Betrag", beim Anblick der Summe, auf die er zeigte, $ 65 000, fielen mir beinahe die Augen aus dem Kopf, "auf dieses Konto überwiesen wird." Er fuhr mit dem Finger zu einer Zahlenfolge, die direkt darunter stand. "Sag ihm, ich hätte entschieden, dich auf eine Privatschule zu schicken. Er braucht deinen Namen und deine Sozialversicherungsnummer." Als Theo zögert, ohrfeigt Larry ihn, packt ihn und brüllt ihn an, bis der Junge zum Telefon greift. Der Jurist erklärt ihm, dass seine Mutter zwar eine Ausbildungsversicherung für ihn abgeschlossen und ein UTMA (Uniform Transfer to Minors) für ihn eingerichtet habe, er davon jedoch nur Rechnungen einer Schule bezahlen könne. Seine Mutter habe sicherstellen wollen, dass sein Vater nicht an das Geld herankommt. "Ich weiß nicht, ob ich dir das erzählen sollte, aber es wurde bereits zwei Mal von unautorisierter Partei versucht, eine größere Geldsumme von dem Konto abzuheben."
Nachdem Larry eingesehen hat, dass er nicht über das Guthaben seines Sohnes verfügen kann, betrinkt er sich, gerät mit seinem Wagen auf die Gegenfahrbahn, rast frontal gegen einen Sattelschlepper und ist auf der Stelle tot. Meine Karriere als Händler hatte mit etwa siebzehn Jahren begonnen, als ich an einem der seltenen Nachmittage, an denen Hobie beschlossen hatte, den Laden zu öffnen, zufällig nach oben kam. Zu diesem Zeitpunkt war das Ausmaß von Hobies finanziellen Problemen bereits zu mir durchgedrungen. Hobie ist ein geschickter Kunstschreiner, aber kein Verkäufer. Hobie – der fälschlicherweise davon ausging, dass jeder, der seinen Laden betrat, ebenso fasziniert von Möbeln war wie er selber, und ihn deshalb äußerst nüchtern auf die Makel und Vorzüge eines Objekts hinwies – hatte ich entdeckt, dass ich über das genau entgegengesetzte Talent verfügte: die Gabe der mysteriösen Verschleierung. Ich konnte auf eine Art über minderwertige Stücke sprechen, dass die Leute sie haben wollten. Um die drohende Insolvenz zu verhindern, ließ Theo Kunden glauben, dass es sich bei einigen von Hobie angefertigten bzw. restaurierten Möbeln um echte Hepplewhites bzw. Sheratons handele und verkaufte sie zu weit überhöhten Preisen. Auch als die Krise überwunden war, machte Theo damit weiter. Ich zweifelte keinen Moment daran, dass Hobie bass erstaunt sein würde, wenn er erfahren sollte, dass ich seine Wechselbälger als echt verkauft hatte. Zum einen waren viele seiner kreativeren Arbeiten voller kleiner Ungenauigkeiten, Insider-Witze beinahe, und er war mit seinen Materialien nicht immer so wählerisch, wie es jemand gewesen wäre, der vorsätzlich Fälschungen produzierte. Aber ich hatte die Erfahrung gemacht, dass es leicht war, selbst relativ erfahrene Käufer zu täuschen, wenn ich ein Stück zwanzig Prozent billiger verkaufte als das Original. Die Leute liebten es zu glauben, sie würden ein Schnäppchen machen. In vier von fünf Fällen übersahen sie, was sie nicht sehen wollten. Ich wusste, wie man ihre Aufmerksamkeit auf die außergewöhnlichen Aspekte eines Objektes lenkte, die handgemachte Furnierung, die edle Patinierung, die ehrwürdigen Macken.
Einem Mann namens Lucius Reeve dreht Theo einen Schubladenschrank an. Als der Kunde sich über den Betrug beschwert, bietet Theo ihm an, das Möbelstück zurückzunehmen, aber darum geht es Reeve gar nicht. Er ist hinter dem Gemälde "Der Distelfink" her, hat irgendwie herausgefunden, dass Theo es damals aus dem Museum mitgenommen haben könnte und will ihn nun erpressen, ihm das Kunstwerk für eine halbe Million Dollar zu verkaufen. Andernfalls werde er bei der Kunstraubabteilung des FBI anrufen, droht er. Theo tut so, als verstehe er nicht und weist Lucius Reeve ab. [Aber] in Wahrheit sahen Pippa und ich uns vielleicht zwei Mal im Jahr, wir schickten uns E-Mails und SMS, allerdings nicht besonders regelmäßig, und wenn sie in der Stadt war, liehen wir uns Bücher und gingen ins Kino. Wir waren Freunde, mehr nicht. Meine Hoffnung auf eine Beziehung mit ihr war vollkommen irreal. Theo verfällt in eine Depression, und seine Drogenabhängigkeit verstärkt sich so, dass er alle paar Wochen tausende von Dollar dafür ausgibt. Aber Depression traf es gar nicht. Es war ein freier Fall der Trauer und Abscheu weit jenseits alles Persönlichen: ein widerwärtiger, triefender Ekel über die ganze Menschheit und alles menschliche Streben von Anbeginn der Zeit. In seiner Not beichtet Theo seinem Partner, er habe einen dummen Fehler gemacht und nicht nur Lucius Reeve einen angeblich von Affleck stammenden Schubladenschrank verkauft, sondern auch noch einige andere Möbelstücke für alt ausgegeben. "Zuerst hab ich es gemacht, um die Rechnungen zu bezahlen, um uns aus dem Gröbsten rauszubringen, und danach … ich meine, einige dieser Stücke sind fantastisch, sie haben mich getäuscht, sie standen in dem Lager bloß rum." Hobie fürchtet um seine Ehre und fordert Theo auf, jedem der geprellten Kunden den Kaufpreis zu erstatten. "Du brauchst ja nicht ins Detail zu gehen, sag einfach, es wären Fragen aufgetaucht, die Provenienz wäre zweifelhaft –, und biete ihnen an, die Stücke zum ursprünglichen Kaufpreis zurückzunehmen.
Doch dafür würden die finanziellen Mittel des Betriebs gar nicht ausreichen. "Niemand wird dieses Bild kaufen. Es ist unverkäuflich. Aber auf dem Schwarzmarkt, als Tauschwährung? Da kann es in alle Ewigkeit hin und her gehen. Es ist wertvoll, es ist transportabel. In Hotelzimmern – hin und her. Drogen, Waffen, Mädchen, Cash – was du willst."
Bei Theos Besuchen im Hause Barbour sind er und Kitsey sich näher gekommen. Kurz vor der geplanten Verlobung beobachtet Theo zufällig, wie Kitsey mit seinem früheren Mitschüler Tom Cable das Haus betritt, in dem sie sich mit Francie und Emily ein Apartment teilt. Es sieht nicht so aus, als sei Tom nur ein Bekannter, aber als Theo sie später zur Rede stellt, behauptet sie, es handele sich einfach nur um einen alten Freund. "Sie haben ihm einen sehr interessanten Schubladenschrank verkauft." Havistock Irving spielt dann auf ein wesentlich interessanteres Objekt an, an dem Lucius Reeve interessiert ist und fährt fort: "Tja, wissen Sie, Lucius ist es in letzter Zeit gelungen, Informationen über ein paar andere interessante Stücke in Erfahrung zu bringen, die Sie verkauft haben."
Boris taucht auf der Party auf und berichtet Theo, sein Verdacht habe sich bestätigt: Sascha hat das Gemälde "Der Distelfink" unterschlagen. Theo soll sich deshalb auf der Stelle zum Airport fahren lassen und noch am selben Abend nach Amsterdam fliegen, während Boris eine Verbindung über Frankfurt nach Antwerpen gewählt hat, wo sein Helfer Juri mit dem Auto auf ihn wartet. Die Tickets hat Myriam bereits gebucht. Theo braucht nur noch seiner Verlobten zu erklären, dass er unerwartet für zwei, drei Tage verreisen müsse, um sich den Nachlass einer alten Dame anzuschauen. "Wir hatten die Gelegenheit! Was sollten sie denn machen? Sie waren zu zweit – wir waren vier."
Boris klemmt sich das Paket mit dem Gemälde unter den Arm, doch als er in den Wagen einsteigen will, ruft ihn jemand bei seinem Namen. Ein Mann namens Martin nimmt Boris das Paket ab, und während er seine Pistole unter den Arm klemmt, um es aufschnüren zu können, bewacht sein Komplize Frits die vier Überfallenen mit einer Pistole in der Hand. Plötzlich drückt Boris ihm eine brennende Zigarette ins Gesicht. In dem folgenden Durcheinander wird Frits durch einen Kopfschuss getötet, Boris erleidet eine Schussverletzung am Arm, aber Theo, der noch nie in seinem Leben eine Waffe in der Hand hielt, hebt eine auf den Boden gefallene Pistole auf und erschießt damit Martin. Mein Hauptkontakt mit der Realität bestand mehr und mehr aus dem Zimmerservice.
Ein Ticket nach New York könnte er zwar mit seiner Kreditkarte bezahlen, aber seinen Pass schloss Boris im Handschuhfach des Autos ein. Am Heiligen Abend meldet Theo den Pass beim Konsulat der Vereinigen Staaten von Amerika in den Niederlanden als gestohlen. Aufgrund der Feiertage wird es allerdings nicht vor dem 28. Dezember möglich sein, seinen schriftlichen Antrag entgegenzunehmen.
"Sascha ist im Gefängnis?"
Juri, Cherry und Myriam, Dima und Anton bekommen auch einen Teil der Belohnung. |
Buchbesprechung:
Nachdem Theodore Decker im Alter von 13 Jahren seine Mutter bei einem Terroranschlag in einem New Yorker Kunstmuseum verloren und im Schockzustand das Gemälde "Der Distelfink" geraubt hat, gleitet er ins kleinkriminelle Milieu ab, wird depressiv und drogensüchtig, bis er einen weiteren Wendepunkt erlebt und auf den rechten Weg zurückfindet. Dabei lernt er nicht zuletzt, dass es zwischen Gut und Böse keine klaren Grenzen gibt. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Donna Tartt: Der kleine Freund |