Uwe Timm: Vogelweide (Roman) |
Uwe Timm: Vogelweide |
Inhaltsangabe:
Christian Eschenbach lebt von März bis Oktober 2011 als Insel- bzw. Vogelwart allein auf einer nur bei Ebbe mit dem Pferdewagen erreichbaren Sandinsel im Wattenmeer unweit der 1989 aufgeschütteten Insel Nigehörn. Er sprang für eine Zoologin ein, die wegen einer problematischen Schwangerschaft ausfiel. Auf der sonst unbewohnten Insel steht ihm eine Hütte zur Verfügung. Theologie hatte er studiert, nicht nur um den Vater und die Mutter zu ärgern, die als bekennende Atheisten auftraten, sondern weil ihn die Frage umtrieb, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts. Vor 20 Jahren gründete er mit einem Mathematik- und Germanistikstudenten zusammen ein Software-Unternehmen zur Optimierung von Arbeitsabläufen. Sie beschäftigten sich mit der Verschlankung von Prozessen, Verkürzung von Arbeitswegen und Einsparung von Zeit. Alle möglichen Abläufe berechnen, vereinfachen und optimieren. Kurz, Ordnung ins Chaos bringen.
Sieben Jahre nach der Firmengründung konnte er sich ein Loft in Berlin leisten, von dessen Dachterrasse er in den Zoo schauen konnte.
Dann brach ein großer Auftrag weg und ein anderer Kunde zahlte nicht, der war bankrott gegangen. Und einer wanderte mit dem Partner, den ich auszahlen musste, ab. Genauer, der Partner nahm den Kunden mit. Und es waren zu viele Leute in fester Anstellung. Ich hätte Leute entlassen müssen, so muss ich heute nüchtern sagen. Und, und, und. Zum Schluss war es ein kunstvolles Gewölbe, wie Kleist es so beschrieben hat, alle Steine stürzen, darum halten sie. Es waren viele Schulden, und die hielten sich gegenseitig. Als ein Stein dann tatsächlich aus dem Gewölbe herausbrach, stürzte alles ein. Ich lag unter Trümmern begraben. Zwei Monate später erhielt er einen Anruf vom Assistenten der Leiterin eines Demoskopie-Instituts am Bodensee. Sie wollte herausfinden, wie sexuelles Begehren messbar gemacht werden könnte. Eine merkwürdige Recherche, deren Ziel die Berechenbarkeit des Begehrens sein sollte. Eschenbach nahm das Angebot an, im Rahmen der Materialsammlung für 300 Euro pro Stunde Interviews zu führen. Ursprünglich waren 100 Stunden Interviews geplant, aber er brach die Tätigkeit vorzeitig ab, und vor einem Jahr starb die Meinungsforscherin. Inzwischen sammelt sich all das, was nicht zu Ende geführt ist. Jetzt habe ich die Schicksale hier herumliegen, ein Haufen Papier.
Der Lektor des Verlags, für den er dann Reiseführer redigierte, drängte ihn, die Gesprächsprotokolle zu ordnen und in Buchform herauszugeben. Damit beschäftigt Eschenbach sich auch auf der Insel, allerdings halbherzig. Sie hatte ihm gesagt, was die Ehe für sie und Ewald bedeute. Dass erst durch sie diese Beliebigkeit des Begehrens unterbrochen werde. Es war ein Wort, das ihn aufhorchen ließ, von dem er noch nicht wusste, dass es einmal Gegenstand seiner Befragungen und Recherchen werden würde. Eschenbach gelang es jedoch, sie zu einem angeblich letzten persönlichen Gespräch zu überreden. Dabei sagte sie: Beide haben wir Glück. Lieben unsere Partner. Warum also das? Es gibt keinen Mangel an Liebe. Das ist zutiefst unmoralisch, man ist glücklich und will noch mehr. Das ist maßlos. Trotzdem ging sie an diesem Abend mit ihm in sein Loft, und sie schliefen miteinander. Es war der Anfang einer amour fou. Mit der Lüge, er habe seinen Schlüssel verloren, nahm Eschenbach Selma den Zweitschlüssel für seine Wohnung ab, damit sie ihn und Anna nicht überraschen konnte.
In der Folge sahen sie sich unter den aberwitzigsten Umständen. Er lief, rief sie an, aus Besprechungen, sagte, entschuldigt, denn alle duzten sich im Büro, ich muss zum Arzt. Und er sagte sich solche albernen Sätze vor, sie ist mein Arzt, sie kann mein Herz beruhigen. Was unsinnig war, denn seine Herzfrequenz stieg bei ihr spürbar an. Sie kam zwischen zwei Unterrichtsstunden, da sie sich aber für nur eine entschuldigt hatte, weil sie zum Arzt müsse, dann aber die Zeit vergaß, wohl auch vergessen wollte, kehrte sie in die Schule zurück und fand die Kinder allein im Werkraum beim Malen. Nach drei Monaten klingelte Ewald bei ihm. Als Eschenbach nicht öffnete, schlug der Architekt die Tür ein und stürzte sich auf ihn. Du Schwein, du machst mir meine Ehe nicht kaputt. [...] Die Frau gehört mir.
Erst als Ewald wieder fort war, hörte Eschenbach seinen Anrufbeantworter ab. Anna hatte ihm eine Nachricht hinterlassen. Sie habe nicht mehr lügen wollen und Ewald alles gesagt, hieß es da. Und er solle sie in Ruhe lassen.
Er zeigte zu den Kamtschatkarosen, dort, da hinten sitzt ein Falke. Ein Vogel mit scharfen Augen. Die haben ihm nichts genutzt, als ihn ein Sturm vor ein paar Tagen vom Festland herüber geweht hat. Er ist der einzige Falke, den ich hier gesehen habe. Ein Raumfalke. Er gehört auch nicht hierher. Anna ist von Ewald ebenso wenig geschieden wie Eschenbach von Bea. Sie meint: Deshalb finde ich eine evangelische Bischöfin, die geschieden ist, ganz unmöglich. Sie kann saufen, sie kann bei Rot über die Kreuzung fahren, Affären haben, aber sie kann und darf sich nicht scheiden lassen. Warum sie vor sechs Jahren nach New York zog? Flucht, sagte sie. Es war Flucht. Vor Ewald. Vor den Trümmern der Familie. Flucht vor dir, vor uns. Alles, vor allem ich mir selbst, war mir unerträglich geworden.
In Tribeca eröffnete die ehemalige Lehrerin eine Galerie. Inzwischen hat sie eine in Los Angeles, wo sie mit Herbert, einem Universitätsdozenten für spanische Literatur, zusammen lebt. Sie brachte in den USA auch noch einen Sohn zur Welt.
Was für ein altertümliches Bild, dachte er [Eschenbach], eine Frau, die in einem Pferdewagen wegfährt. Sie winkte. Auch er winkte, aber nicht lange, ging dann, noch winkte sie, hinüber zu dem Strandabschnitt, den er nach angeschwemmtem Müll absuchen wollte. |
Buchbesprechung:
In seinem Roman "Vogelweide" variiert Uwe Timm Johann Wolfgang von Goethes "Wahlverwandtschaften": Zwei Paare brechen auseinander und gruppieren sich vorübergehend neu. Ausgelöst wird das durch die ebenso unvernünftige wie unmoralische bzw. anarchische Begierde zwischen einem der beiden Männer und einer der Frauen. Die entfesselte Leidenschaft kontrastiert mit dem Versuch eines Demoskopie-Instituts, die Anziehung zwischen Mann und Frau messbar zu machen und den bereits vorhandenen Algorithmen, mit denen Partnerschaftsbörsen beispielsweise im Internet optimale Paarbeziehungen vermitteln wollen.
Liebe kennt auch den Verzicht, das Begehren nicht.
Der Roman "Vogelweide" kreist um das Thema Liebe/Begehren. Auf die platonische Liebe der Minnesänger Walter von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach spielt Uwe Timm schon mit dem Titel und dem Namen der Hauptfigur an. Vielleicht dachte er dabei auch an die Oper "Tannhäuser" von Richard Wagner, denn es gibt auch reichlich Querverweise auf andere Personen der Kulturgeschichte wie zum Beispiel Martin Luther, William Shakespeare, Johann Wolfgang von Goethe, Theodor Storm, Niklas Luhmann. In der "Norne" vom Bodensee ist unschwer Elisabeth Noelle-Neumann zu erkennen, und in der geschiedenen Bischöfin Margot Käßmann. Ich bin ein Ballonfahrer, der Ballast abwerfen musste, so gewinnt man wieder Höhe und sieht mehr von Land und Leuten. Den Roman "Vogelweide" von Uwe Timm gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Burghart Klaußner (Regie: Bernhard Jugel, Hamburg 2013, 550 Minuten, ISBN 978-3-8371-2273-2). |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Uwe Timm: Die Entdeckung der Currywurst (Verfilmung) |