Colm Tóibín: Marias Testament (Roman) |
Colm Tóibín: Marias Testament |
Inhaltsangabe:Nach der Kreuzigung ihres Sohnes in Jerusalem floh Maria nach Ephesus. Zwei Männer versorgen sie dort auch noch im Alter und drängen sie immer wieder, zu bezeugen, dass sie dabei gewesen sei, als ihr Sohn vom Kreuz abgenommen wurde. Die Männer schreiben über die Ereignisse von damals, aber Maria kann nichts davon lesen; sie ist Analphabetin. Ich weiß, dass er von Dingen geschrieben hat, die weder er noch ich gesehen haben. Ich weiß außerdem, dass er dem, was ich durchlebt habe und er mit angesehen hat, Ausdruck verliehen und dafür gesorgt hat, dass die Worte Gewicht haben werden und man auf sie hören wird.
Sie weigert sich, Aussagen nachzusprechen, die ihr in den Mund gelegt werden. Maria berichtet nur, was sie tatsächlich sah. Und daran erinnert sie sich nur allzu gut.
Etwas an der Ernsthaftigkeit dieser jungen Männer stieß mich ab, trieb mich in die Küche oder in den Garten. Um Arbeit zu suchen, gingen junge Männer damals nach Jerusalem. Kaum einer von ihnen kam zurück. Sie schickten Botschaften und Münzen und Stoff, sie schickten Nachrichten über ihr Leben, aber was immer dort war, es hielt sie mit einem Sog fest, es war der Sog des Geldes, der Sog der Zukunft. Ich hatte bis dahin noch niemanden über die Zukunft sprechen hören, außer sie sprachen vom nächsten Tag oder von einem Fest, das sie jedes Jahr besuchten. Aber nicht im Zusammenhang mit einer Zeit, in der alles anders und alles besser sein würde. Genau so eine solche Idee fegte damals durch die Dörfer wie ein trockener heißer Wind und riss jeden, der zu irgendetwas taugte, mit sich fort. Sie riss auch meinen Sohn mit sich fort, und das war für mich keine Überraschung, denn wäre er nicht gegangen, hätte er im Dorf auffallen können, und die Leute hätten sich vielleicht gewundert, warum er nicht ging. Auch ihr Sohn zog nach Jerusalem. Er scharte, sagte ich, eine Gruppe von Nichtsnutzen um sich, die wie er selbst bloße Kinder waren, oder Männer ohne Väter, oder Männer, die einer Frau nicht in die Augen sehen konnten.
Eines Tages kam Markus zu Maria nach Nazareth. Sie waren zwar nicht verwandt, aber er nannte sie Cousine, denn sie waren zur gleichen Zeit in benachbarten Häusern in Kana geboren worden und dann miteinander aufgewachsen. Markus unterrichtete sie darüber, dass man ihren Sohn bereits seit einiger Zeit beobachtete und seine Festnahme bevorstand. "Ich weiß, dass Lazarus gestorben ist. Zweifle nicht daran, dass er gestorben ist. Und dass er vier Tage lang begraben war. Zweifle nicht daran. Und jetzt ist er am Leben, er wird morgen auf der Hochzeit dabei sein."
Markus verließ die Hochzeitsfeier nach kurzer Zeit wieder. Es sei zu gefährlich für ihn, sich hier sehen zu lassen, erklärte er Maria und zeigte ihr einen Mann, der nicht nur als Spitzel für die Obrigkeit arbeitete, sondern auch als lautloser Würger. Von dem Geld, das er dafür bekam, kaufte er sich Olivenhaine. Er trug kostbare Kleider und bewegte sich so, als stünden ihm die Kleider von Rechts wegen zu. Sein Gewand war aus einem Stoff, den ich nicht kannte und dessen Farbe – ein Blau, das ins Violette spielte – ich noch niemals an einem Menschen gesehen hatte. Flüsternd warnte Maria ihn vor der geplanten Verhaftung, aber er unterbrach sie barsch.
"Weib, was geht's dich an, was ich tue?", fragte er, und dann noch einmal lauter, sodass es überall zu hören war: "Weib, was geht's dich an, was ich tue?" Als sich angetrunkene Hochzeitsgäste lautstark darüber beschwerten, dass der Wein ausgegangen war, ließ Marias Sohn sechs mit Wasser gefüllte Steingefäße bringen. Ich weiß nicht, ob jedes von ihnen Wasser enthielt oder Wein, das erste jedenfalls enthielt Wasser, aber bei dem ganzen Geschrei und Durcheinander wusste niemand, was eigentlich passierte, bis sie plötzlich anfingen zu schreien, er habe das Wasser in Wein verwandelt. Als Maria dann wieder in Nazareth war, dachte sie über die Entwicklung ihres Sohnes nach.
Und dann schuf die Zeit den Mann, der auf der Hochzeit zu Kana neben mir gesessen hatte, den Mann, der mich nicht beachtete, der auf niemanden hörte, einen Mann voller Macht, einer Macht, die scheinbar keinerlei Erinnerung an frühere Jahre zuließ, da er die Milch meiner Brust brauchte, meine Hand, die ihm beim Laufenlernen half, das Gleichgewicht zu bewahren, oder meine Stimme, die ihn in den Schlaf wiegte.
Maria hörte gerüchtweise, er sei übers Wasser gewandelt und habe die Wellen beruhigt, als seine Anhänger mit einem Boot aufs Meer hinausgefahren und in einen Sturm geraten waren. Und das Gesicht des Mannes leuchtete vor Energie, es ging ein Glanz von ihm aus, wenn er in den Käfig sah und dann auf seine Umgebung, fast lächelte er vor finsterer Freude darüber, dass der Sack noch nicht leer war.
In einer Gruppe römischer und jüdischer Männer, die hier augenscheinlich das Sagen hatten, entdeckte Maria Markus, ihren Freund aus der Kindheit, doch als sie zu ihm hinlaufen wollte, ließ er sie abdrängen. Kurz darauf machten Markus und der Spitzel, den Maria bereits auf der Hochzeit zu Kana gesehen hatte, einen anderen Mann auf sie aufmerksam. Vermutlich warteten die Häscher nur darauf, dass sie ihren Sohn nach dem Eintritt des Todes vom Kreuz abnehmen, waschen und bestatten werde. Damit hätte sie ihnen dann eine letzte Begründung für ihre Festnahme geliefert.
"Er war wahrhaft der Sohn Gottes", sagte er. Maria fragt rhetorisch: "Das also war der Sinn des Ganzen?" Und fährt dann fort: [...] wenn ihr sagt, dass er die Welt erlöst hat, dann sage ich, dass es das nicht wert war. Das war es nicht wert. |
Buchbesprechung:
In "Marias Testament" präsentiert Colm Tóibín die Ikone der Mutter Gottes als einfache Frau und erzählt aus ihrer Sicht die Leidensgeschichte einer Witwe, die ihren Sohn nicht erst durch die Kreuzigung verloren hat. Die Analphabetin liebt ihren Sohn, hält jedoch weder viel von seinen Reden noch von seinen Jüngern. Dass sein Tod einen Sinn hatte, bezweifelt sie. Und der neue Glaube interessiert sie nicht weiter; sie betet lieber im Artemis-Tempel. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Colm Tóibín: Porträt des Meisters in mittleren Jahren |