"Außer Liebe und Tod ist alles nur Gewäsch" - Trauerarbeit im Roman von Anna Mitgutsch
"Wenn ich zwei Leben gehabt hätte, dann hätte ich ihm eines davon ohne Vorbehalte geschenkt, ganz und gar. Das andere, das zweite wäre für mich gewesen. Aber ich hatte nur eines, er musste teilen, mehr von mir herzugeben war mir nicht möglich, und meine Freiheit war eine andere als die seine." - "Kannst du dir vorstellen zu bleiben? Fragte er." Wenn du wiederkommst. "Ein wenig länger als sonst?" - Doch Jerome ist nicht mehr. Er ist von ihr gegangen, um nicht wiederzukommen. Nie wieder wird er sie am Flughafen abholen...
Der Untergang hat schon begonnen – Thomas Kraft und Norbert Niemann haben Stimmen versammelt, die den Literaturbetrieb hinterfragen.
Das Wichtigste, was zu tun wäre: neue Fragen zu stellen, diesen ausgewalzten Filz der Quasi-Antworten, auf dem wir uns turnend amüsieren, von der Weltoberfläche zu nehmen, damit wir wieder einen klaren Blick auf unsere wirklichen Herausforderungen bekommen. Es scheint, als habe Neil Postman mit seinen frühen Warnungen Recht behalten: die Welt wird immer gleichgestrickter bunt und trivialer. Wir haben uns von der textgeprägten Kultur zur bildgeprägten hin verändert und viele nehmen Literatur nur noch als Beipackzettel wahr...
Die enge Verbindung von Körper und Geist - über die tiefen Grundlagen unserer Kultur
Die Frage nach der Verbindung von Körper und Geist hat Generationen von Philosophen beschäftigt. Wirklich virulent wurde das Thema mit Descartes’ berühmter Trennung des Körperlichen vom Geistigen in seiner berühmten Sentenz „Je pense, donc je suis.“ Durch das „Ich denke, also bin ich“ hat er, nach Anwendung seiner Methode des grundlegenden, alles in Frage stellenden Zweifels, den Geist als vom Körper unabhängige Instanz und als Begründung des Daseins schlechthin identifiziert. Späteren Generationen stellte sich die Frage nach dem ...
Birgit Kreipes Schwimmende Insel. Überlegungen zum Leseheft Nr. 20
Ortsbestimmung: „an einem blauen dorn“, behauptet das lyrische Ich, „hing ich über dem meer / im himmel also“. Ortsbestimmung? Entweder der blaue Dorn ist mit dem Himmel eines und derselbe, dann hängt das lyrische Ich am und nicht im Himmel, weil es sonst in ihm aufginge; oder Dorn und Himmel sind unterschieden, dann gibt es zweierlei Blau, über die man weiter nichts erfährt, sich aber Gedanken machen kann.
„das absolute gedicht würde allen / gefallen.“ Dann ist dieses Gedicht hier, das wie zu Anfang zitiert beginnt, kein absolutes Gedicht...
Nichts Neues aus einem temporären Dazwischen - Karl-Markus Gauß "Im Wald der Metropolen"
Karl-Markus Gauß, dem eine ausgeprägte Affinität zu den östlichen Rändern Europas eignet, ist wieder unterwegs – diesmal allerdings zu innereuropäischen Grenzen, wo angestammte Sprachen und Kulturen aufeinander treffen, nebeneinander existieren und sich bisweilen wechselseitig befruchten. Wie Berichte von Sternfahrten, deren Routen sich wie ein Netz über den Kontinent der Regionen spannen, muten seine sorgfältig recherchierten Reiseskizzen an, die nicht nur von 'Entdeckungen' auf dem Balkan zu berichten wissen...
Parteinahme und Narration - Fritz Breithaupts transdisziplinärer Zugang zu den „Kulturen der Empathie“
Mit Fritz Breithaupt nimmt sich ein Literaturwissenschaftler eines Themas der Kognitionstheorie an: Empathie. Als Experte für Erzähltes erweitert er im Paradigma des „narrative turn“ die enge Sicht neurobiologischer Empathieforschung um die Kulturgeschichte der Einfühlung, wie wir sie in Literatur und Philosophie vorfinden – „Untersucht und aufgetan werden soll der Raum zwischen der neuronalen Aktivität und dem Ausbilden von Verstehen, Mitgefühl und Mitleid, das heißt der Raum der Kulturen der Empathie“...
Was mit Schwere geschehen kann - wenn Worte zu tragen beginnen. Christoph Leistens neuer Band Gedichte
Der Dichter Christoph Leisten ist ein Wanderer im besten Sinne, einer, der offen ist für Eindrücke, für Unerwartetes, für Gelebtes. Sein aktueller Band „bis zur schwerelosigkeit“ (Rimbaud Verlag, Aachen 2010) verdichtet die Erfahrungen der Sinne, des Emotionalen und die Begegnung mit Kultur und Kulturen zu einem Panorama, dessen Schwerelosigkeit transzendent im besten Sinne ist – getragen von einer leichten, sanften Sprache der kleinen Nuancen. "aus dem verblichenen monat / kommen diese verse zu dir...
Das Buch einer Geliebten - Celans Kreidestern
Paul Celan, einer der prägenden Lyriker in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, hat nicht nur mit seinen dunklen Werken die Deuter auf den Plan gerufen, auch sein Leben, das im April 1970 durch Freitod in der Seine endete, ist von manch einem Geheimnis umwittert. Nachdem in jüngerer Zeit durch entsprechende Veröffentlichungen klarer geworden ist, unter welchen seelischen Belastungen der Dichter litt, fügt die neue Publikation „Celans Kreidestern“ von Brigitta Eisenreich den bisherigen Erkenntnissen einige Mosaiksteine hinzu...
Vom Zauberwürfel am Fuße der Klippen - Die Leinwand von Benjamin Stein
Benjamin Stein setzt sich in seinem Roman „Die Leinwand“ kongenial mit seiner eigenen Biografie auseinander. Entstanden ist ein Zauberwerk um Dichtung und Wahrheit, ein grandioses Kunstwerk literarischer Gattung. Unzweifelhaft einer der ganz großen Romane in diesem Jahr. Klippensurfen ist gefährlich. Denn an Klippen bläst einem nicht nur ein unsäglicher Wind um die Ohren, sondern es entsteht auch ein nahezu unwiderstehlicher Sog namens Neugier, der einen immer näher an den Abgrund führt, nur um einen Blick auf dessen Boden erhaschen...
Die heitere Resignation ist kein Strandkorb - der neue Roman von Thomas Kunst
Herbst 2009: Während im Stadtmuseum Dresden die Hose des Arztes, Literaten und Ex-Panzerkommandanten Uwe Tellkamp als „ungewöhnliches Zeitdokument“ dargeboten wird, erscheint in einem kleinen Leipziger Verlag der schmale Erzählband „Strandkörbe ohne Venedig“ des Bibliotheksassistenten und Dichters Thomas Kunst. Dort steht auf der vorvorletzen Seite: „Die armselige Literatur in Deutschland war nie weg. War immer da. All die Türmer und Türme des Bürgertums. Aber ich werde den Abstand zwischen euch und mir...
Kärnten und die Slowenen - Begriffe einer aufrechten Haltung bei Janko Messner
Die Situation in Kärnten bringt jeden neutralen Beobachter auf die Palme. Obwohl Palmen im Urlaubsland Kärnten nicht gedeihen, formuliert der Kärntner Slowene Janko Messner seit Jahrzehnten, was faul ist im Lande K. Zweisprachige Ortstafeln werden von aufrechten Kärntnern als bedrohliches Unheil dargestellt. (In Südtirol wird Zweisprachigkeit hingegen eingefordert und als Selbstverständlichkeit betrachtet. Indes verrückt im Burgenland kein Landeshauptmann Ortstafeln und niemand empört sich gegen die Zweisprachigkeit.)...
Der mütterliche Kosmos - In der nachgelassenen Erzählung „Der Lachartist“ überwindet Hermann Burger die Mutter
Hermann Burger war nicht nur ein großartiger, sondern auch ein getriebener Sprachkünstler, hinter dessen stilistischer Virtuosität komplexe Gedanken- und Gefühlslabyrinthe lauerten. Im Erzählband „Diabelli“ schrieb er 1977: „Die Fremdwörter-Orgien sind meine Marotte, um für gewisse Phänomene Begrifflichkeit zu schaffen.“ Streng komponierte und verschachtelte Satzgefüge, eine Vielzahl an literarischen Anspielungen und die Inflation an Wortklonen und Begriffszwitter, die er überhaupt erst erfand...
Vom Überlebenskampf einer Siedlerfamilie 1682 – ein neuer Roman von Toni Morrison
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts, als die Sklaverei sich zunehmend etablierte, siedelt Toni Morrison ihren neunten Roman „Gnade“ an, in Delaware, wo der holländischstämmige Siedler Jacob Vaark eine ererbte Farm bewirtschaftet. Seine Frau Rebekka hatte er in England eingekauft. Für die junge Frau aus einem bigotten Elternhaus bot diese Ehe die Chance, ein eigenes Leben zu beginnen, das in der Heimat bloß die Möglichkeiten Kindermädchen oder Prostituierte zugelassen hätte. Sie hat Glück, ihr Ehemann...
Ein Leben im Zeichen des Hodensacks - Jan Faktor erinnert sich
Erinnerungen und Rückblicke auf das eigene Leben und Erleben haben in der Literaturgeschichte Tradition. Die Liebe spielt dabei stets keine unwesentliche Rolle, egal ob es sich um Casanovas "Geschichte meines Lebens", Jean-Jacques Rousseaus "Bekenntnisse" oder Catherine Millets Beichte ihres Liebeslebens "Das sexuelle Leben der Catherine M." handelt. Jan Faktors zweiter Roman "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag" ist völlig anders und passt dennoch mit in diese Reihe...
"Nie ergab ich mich Schmeichelreden..." – Der Kasache Abai und seine Gedichte der Jahrhundertwende
Eingeführt wird Abai, Zwanzig Gedichte mit dem faktenreichen Vorwort des Herausgebers Herold Belger, der 1934 in der Autonomen Wolgarepublik geboren, 1941 nach Kasachstan deportiert wurde. Der Rußlanddeutsche Belger ist heute ein angesehener Bürger Kasachstans, ist Schriftsteller, Essayist, Übersetzer (kasachisch, russisch, deutsch) und Mitbegründer des kasachischen PEN. In seinem Vorwort erzählt er uns Lesern viele Details über das Leben Ibrahim Kunanbajews, den seine liebevolle Mutter Abai (der Kluge, der Einsichtige) nannte...
Der überraschende Klang beim Brechen der Zeile – neue Gedichte von Knut Schaflinger
193 von der UNO anerkannte souveräne Staaten (lt. Wikipedia), dazu die nichtanerkannten: Kriege, Wirtschaft, Prominenz, Sport und Politik – jeden Tag die weltweit wichtigsten Ereignisse zusammenzufassen, ist eine anspruchs- und verantwortungsvolle Aufgabe. Sich dabei, je nach weiterem Programm, auf ein Zeitfenster von 15-30 Minuten zu beschränken, setzt sekundengenaues Zeitmanagement voraus, die absolute Reduzierung auf das Wesentliche; kein/wenig Platz für Nebenschauplätze...
Von doppelter Unendlichkeit usw. - Mayröckers Fusznoten zu einem nicht geschriebenen Werk
Vom Grab ist sie nur noch einen Stolperstein entfernt. Einmal fällt sie spektakulär auf den Grabhügel direkt neben der frisch ausgehobenen Grube des gerade verstorbenen Wendelin Schmidt-Dengler. Ein andermal gerät sie an den Gräbern der Mutter oder ihres Lebensmenschen Ernst Jandl ins Straucheln. Das Leben der Hauptfigur von Mayröckers jüngstem Prosawerk "ich bin in der Anstalt" ist nur noch ein einziges Taumeln und Ausgleiten. Nach einer Lesung stolpert sie vom Podest. Die Überquerung der Straße zum Konsum wird zum unüberwindbaren...
Neues von Zé do Rock
Nach einigen Büchern in „Ultradoitsh“ nun ein abendfüllender Film: Wer es bislang noch nicht gewusst haben sollte, weiß jetzt, dass Schroeder in Brasilien liegt, so wie man und frau zu wissen glaubt, wo und wie es langgeht, das mit den Urteilen und Vorurteilen. Zé do Rock schöpft aus dem Vollen und greift zugleich ins Volle, wenn er zwischen Brasilien und Deutschland hin und her pendelt und Leute befragt. Die Demokratie schlägt gnadenlos zu, jeder darf seine Meinung kundtun und für wichtig erachten...
Zeit für alle Lichter – Nadja Küchenmeisters Gedichte
Wer die wichtigen Lyrikanthologien der letzten Jahre aufmerksam gelesen hat, der ist der jungen Berliner Autorin Nadja Küchenmeister schon begegnet. Ihre Stimme gehört zu jenen, die immer wieder angenehm aus der schieren Masse zeitgenössischer Dichtung herausstechen und hängen bleiben. Für ihren nun bei Schöffling & Co. erschienenen Debütband „Alle Lichter“ hat sie sich Zeit gelassen. Das merkt man ihren Versen auf jeder Seite an. „Alle Lichter“ ist ein Buch der leisen Töne...
Zum Stern von Algier - ein algerischer Musiker will hinaus & hoch hinauf
Moussa Massy lebt in Algier, eigentlich heißt er anders, doch als Sänger hat er sich diesen Namen zugelegt, ist 36 und hat große Ziele: ein Star zu werden wie Michael Jackson oder Prince, mit einer Musik zwischen Rock und Maghreb, seiner Heimat, der Kabylei, jedenfalls einer völlig neuen Musik und einem bislang nicht gekannten Gesang. Der erste Erfolg stellt sich ein, obwohl die Rahmenbedingungen keineswegs optimal sind. Hatte Moussa anfangs nur auf Hochzeiten aufgespielt, wird er nun von einem Barbesitzer engagiert...
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