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Politische
Theologie des Kapitalismus
Das Kapital ist der neue Fürst dieser Welt, meint der kürzlich verstorbene
Historiker Heinz Dieter Kittsteiner.
Rudolf Maresch über den unterhaltsamen Abgesang auf
Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht
Viel
ist vor vierzig Jahren darüber gerätselt worden, wie jener »Schachautomat« zu
deuten ist, den Walter Benjamin an den Anfang seiner »geschichtsphilosophischen
Thesen« stellt. Eine Puppe sitzt dort vor einem Schachbrett, das auf einem
Tische ruht, der mit Hilfe vieler Spiegel beim Betrachter den Eindruck weckt, er
sei durchsichtig. In Wahrheit verbirgt sich dort aber ein Zwerg, der heimlich im
Hintergrund die Strippen zieht und die Spielzüge der Puppe mit Schnüren lenkt.
Zu der »Apparatur« soll es, behauptet Benjamin, in der Philosophie ein
»Gegenstück« geben, das durch das Verhältnis der Theologie zum Historischen
Materialismus bestimmt wird.
A revolution happened
Oh sorry, you haven't heard?
Pulp, The Day After The Revolution
Strippenzieher
Heftig umstritten war unter den Linksintellektuellen damals, wer Puppe und wer
Zwerg ist, wer wen wofür in Anspruch nimmt, und: welche Rolle dabei dem
politischen Subjekt zufällt. Braucht der Historische Materialismus den Zwerg, um
im Weltbürgerkrieg zu triumphieren? Oder nimmt die Theologie nur die Puppe an
den Haken, weil ihr das Subjekt im Klassenkampf fehlt?
Für Jürgen Habermas war klar, dass die Theologie der Zwerg ist und sie die Puppe
nicht in Dienst nehmen kann. Da ihr politischer Messianismus
fortschrittsfeindlich ist, könne sie sich den Historischen Materialismus, der ja
gerade mit dem Fortschritt rechnet, nicht einfach »wie eine Mönchskutte«
überstreifen. Für Benjamin dagegen blieb, obwohl er im Innersten Theologe war,
die Puppe stets Herrin des Geschehens. Freilich könne der Historische
Materialismus das Match nur gewinnen, wenn »er sich die Dienste der Theologie
sichert.«
Ihm ging es weniger (wie Habermas) um die Konstruktion eines politischen
Subjekts als vielmehr um eine Vitalisierung (Software) der Puppe, die ansonsten
leblose Hardware bliebe. Und es ging ihm, ähnlich wie Carl Schmitt, um eine
harsche Kritik am Historismus, der tatsachengläubig ist und meint, mit seinem
Bewusstsein die Geschichte nicht nur zu erfassen, sondern kraft desselben auch
vollstrecken und beherrschen zu können.
Kontinuum aufsprengen
Heinz Dieter Kittsteiner, jüngst und plötzlich verstorbener Ideenhistoriker
der Viadrina Universität in Frankfurt/Oder hat sich eine Generation lang an
diesem »Gestell« abgearbeitet. Und zwar bereits als Student im Umkreis von Jacob
Taubes. Vor allem die zwielichtige Figur des »buckligen Zwergs« hatte es ihm
angetan. Seine Lösung, die er 1967 im Heft 10 der linksradikalen Zeitschrift
»alternative« präsentierte, war, der politisch aufgeheizten Lage damals
entsprechend, situationsgebunden. Um der Puppe mehr Leben einzuhauchen, sollte
theologisches Wissen, auch säkularisiertes, dem marxistischen »als dessen
manifest rationalem Kern« zugeschlagen werden.
Nur mit Hilfe dieser theologischen Denkfigur wäre das fatale Kontinuum von
Herrschaft und Unterdrückung aufzusprengen. Und nur so wäre dem latenten
Faschismus, den die 68er der westdeutschen Gesellschaft unterstellten, wirksam
zu begegnen. Gedacht war an eine Arbeitsteilung zwischen Theorie und Praxis, in
der die Theologie (als Ort der Überlieferung) die Rolle des Erinnerns übernimmt,
während der Marxist mit dem Historischen Materialismus im Rucksack die
Konfrontation mit der Gegenwart sucht. Es war wohl diese Verzahnung von
marxistischem Klassenkampf und geschichtlicher Diskontinuität, die den bewegten
Studenten Kittsteiner damals an Benjamin faszinierte und ihn intellektuell in
seinen Bann zog. Von der Theologie zu lernen, hieß damals für den politischen
Himmelsstürmer noch, siegen lernen.
Impotente Moderne
Von dieser revolutionären Gesinnung nach Aufbruch und Neuanfang ist nichts
mehr geblieben. Außer Lektüre der Klassiker vor allem eins: die »ungeheure
Warensammlung« der »kapitalistischen Produktionsweise«. Von ihr erzählt
bekanntlich und ausführlich der erste Band des Kapitals. Wo früher Götter,
Heroen und geschichtliche Akteure walteten und schalteten, agieren heute Dinge
und ihre Wertformen. Seitdem sie den »Reichtum der Gesellschaften« bilden, ist
aus der Puppe, die den Geschichtsprozess lenken sollte, der Zwerg geworden. Der
Marxismus nimmt die Rolle der Theologie ein. Er ist nun der impotente Zwerg,
der, wie es bei Benjamin heißt, »klein und hässlich« ist und sich »nirgends mehr
blicken lassen darf«. Es verwundert daher nicht, wenn Revolutionen eher als
Griff nach der Notbremse erscheinen.
Mittlerweile, davon ist Kittsteiner schon Anfang der 1980er überzeugt, greift
aber auch der noch ins Leere. Anders als Marx sich das ausgedacht hat (siehe
Vorwort im Kapital), erweist sich der entfesselte Kapitalismus als ein »fester
Kristall«, gegen den Widerstand und Aufbegehren unwirksam ist. Dieser »Fall ins
Kristall«, schreibt der Geschichtsphilosoph jetzt ernüchtert und
desillusioniert, ist »irreversibel«. Der Glaube an den »Fortschritt im
Bewusstsein der Freiheit« ist ebenso dahin wie jener, der auf eine Verbesserung
des Menschheitsgeschlechts in moralischer Absicht gehofft hat. Die Moderne ist
verwüstet, und die Zukunft leer, ohne Glücksversprechen und Zukunftserwartungen.
Kultur des Prolls
Im Posthistoire, das der (westlichen) Epoche ihren Namen gibt, ist Rebellion
bestenfalls noch eine Frage der Mode, des Stils und ästhetischen Ausdrucks. Es
passiert zwar viel, aber nichts wirklich Neues. Die Moderne ist in einen
»hochtourigen Stillstand« verfallen. Geschichte und Politik agieren nur noch im
Zustand des »als ob«. Die neue Ethik beruht im Wesentlichen, wie bereits Arnold
Gehlen in den 1960ern notiert, auf den Anpassungsleistungen der Individuen an
die »großen Produktions- und Verteilungsgefüge«. Diese »Anpassung, die zum
Überleben befähigt«, ergänzt Kittsteiner in den Achtzigern, ist eine »Art von
Angstabwehr«. Sie »ist ein partieller Tod, das Aufgeben eines Teils des
Individualität.«
Sichtbarstes Zeichen dafür ist für Kittsteiner aktuell die »Kultur des Prolls«.
Der »Proll« fungiert nicht, wie man erwarten könnte, als soziales
Distinktionsmerkmal. Er ist vielmehr »phänomenologisch-neutral« und beansprucht,
eine universelle Erfahrung zu sein. Zum Proll wird unterschiedslos jeder, der im
Kapitalismus lebt und nur noch dessen Kultur des Nehmens über sich hat. Zu ihr
gehören eben nicht nur Hartz IV Empfänger, RTL II-Seher oder SUV-Fahrer, sondern
auch Parteisoldaten und Investmentbanker, Gewerkschaftsfunktionäre und
Schnäppchenjäger. Was sie jenseits ihrer unterschiedlichen Lebenslagen,
Lebensstile und Lebensformen indes eint, sind die Jagd und das stete »Gieren
nach den gleichen Waren«.
Diese prollige Kulturlosigkeit macht auch nicht vor den politischen Parteien und
Verbänden Halt. Ihre Programme sind willkürlich und lassen sich bestenfalls noch
danach unterscheiden, ob sie die Verhältnisse in bunten Bildern malen
(Regierungsparteien) oder vorhandene Missstände überdramatisieren
(Oppositionsparteien). Je nach Konjunkturlage, Aufschwung oder Krise, kann diese
Position rasch wechseln. Vor allem dann, wenn die eine Partei die Regierung
übernimmt, die andere dagegen auf den harten Bänken der Opposition Platz nehmen
muss.
Unterhaltsamer Abgesang
An dieser pessimistischen Weltsicht hat sich für den »undogmatischen Salon-
und Edelmarxisten«, wie er mitunter auch bezeichnet wurde, bis auf den heutigen
Tag nichts Grundlegendes geändert. Dieser kühle Blick prägt auch sein
allerletztes Buch. Gleichwohl sind Haltung und Einstellung, die er aktuell zu
den Dingen einnimmt, anders geworden. Die Zeitdiagnose, die der
Geschichtsphilosoph entwirft und aus Comics, Zeitungslektüre und Ideen montiert,
tritt uns ungemein gelehrt, aber auch erfreulich unakademisch entgegen.
Wenn sich die Apokalypse so heiter darstellt, wie sie Kittsteiner schildert,
möchte man glatt deren Zeuge sein, nur um hinterher sagen zu können, man wäre
dabei gewesen. Selten ist es einem Autor gelungen, dem Leser die Sinn- und
Ziellosigkeit der Geschichte so unterkühlt wie unterhaltsam, ebenso witzig wie
gelassen im Ton, nahe zu bringen. Wer das Buch zur Hand nimmt, versteht sofort,
warum Jürgen Kaube im Deutschlandradio gerufen hat: »So einen Professor möchte
man gehabt haben!«
Suspekt ist freilich Kittsteiners verbohrter Elitismus. Zu den Prolls zählt er
sich nämlich nicht. Intellektuelle seiner Kategorie stehen außen vor. »Keine
zehn Jumbos brächten mich auf die Malediven«, formuliert er keck. »Da ist Dir
aber was entgangen, Du Armer!«, möchte man ihm spontan zurufen, schwuppdiwupp
zur Proll-Kultur überwechseln und ihn zugleich an Janis Joplins unvergessenen
Ruf erinnern: »Oh Lord, won't you buy me a Mercedes-Benz!«
Materialistischer Klartext
Entwickelt wird das Geschichtsbild, dem Buchtitel entsprechend, in einer
Triade. In der Epoche des »Weltgeistes« dominieren Erwartungen, Hoffnungen und
Glücksversprechen. Als Zeugen werden aufgerufen: Bernard Mandeville und Adam
Smith gegen die später Rousseau und Hegel opponieren. Private Laster und
Leidenschaften, nicht Tugenden, so in etwa die Kernthese der berühmten
»Bienenfabel« Mandevilles, fördern das Gemeinwohl. Dies verleitet den
schottischen Ökonomen später dazu, von der »unsichtbaren Hand« zu sprechen, und
den preußischen Philosophenkönig von der »List der Vernunft«, die das
Menschengeschlecht aller Unannehmlichkeiten zum Trotz voranbringt.
Der »Weltmarkt« setzt diesen Fortschrittsglauben in harte Währung um. Die »freie
Konkurrenz« bringt wachsenden Wohlstand und Reichtum. Andererseits führt sie
aber auch zu sozialen Verwerfungen, auf die Karl Marx später mit der
Vergesellschaftung privaten Eigentums und John Maynard Keynes mit staatlichen
Konjunkturprogrammen antworten. Dass sich jener bei der Umrechnung von Werten in
Preise verrechnet, weil er eben kein Ökonom, sondern eher ein »Philosoph der
Ökonomie« ist; und dass dieser einem »totalen Staat« das Wort redet, den die
Nationalsozialisten dann kreieren, sind nur einige der vielen Sottisen, die
Kittsteiner immer wieder in den Text einstreut.
Deutschland AG versenkt
Doch Markt und Wettbewerb lassen sich, einmal entfesselt, nicht zügeln,
weder durch hehre Worte noch durch staatliche Planung und Lenkung. Das hat das
sozialistische Experiment, sowohl in seiner globalen als auch nationalen
Ausrichtung, hinlänglich gezeigt. Längst hat der moderne Kapitalismus seinen
Gegenpart wieder eingesammelt. Darum ist für Kittsteiner der Weltmarkt, und
nicht die Geschichte, wie Hegel noch dachte, das »Weltgericht«. Er herrscht
blind über die Menschheit und verwüstet sie. Beispielhaft vorgeführt wird das an
der Übernahmeschlacht von Mannesmann durch Vodafone. Mit dem Prozess gegen die
Herren Ackermann, Esser und Zwickel ist zugleich die Deutschland AG versenkt
worden, mithin jener rheinische Kapitalismus, der sich einst über geschickt
geknüpfte Netzwerke und gegenseitig sich gut absichernde Seilschaften
sozialpartnerschaftlich definierte.
Die sogenannten »Heuschrecken«, mit denen Franz Müntefering einst die
Aktivitäten der Private Equity-Fonds belegte, oder das »V-Zeichen«, mit dem
Josef Ackermann vor dem OLG Düsseldorf die Öffentlichkeit verprellte, sind
Ausdruck der Wucht, mit denen die »soziale Marktwirtschaft« abgewickelt wird.
Sie machen das Land endgültig mit jenem »Willen nach Beute« (O. Spengler)
vertraut, der dem angelsächsischen Kapitalismus eigen ist. Seither der liberale
Kapitalismus über den »Willen zur Macht« (Nietzsche) triumphiert, geht es nicht
mehr um ein »bisschen soziale Marktwirtschaft«, sondern nur noch »um den
bestmöglichen Kapitalismus«.
Dauerndes Gejammer
Allen Gutmenschen rät der Querdenker, endlich einzusehen, dass »echte
politische Theorien« den Menschen als hochproblematisch einschätzen. »Dies sich
einzugestehen«, bemerkt er, »bedeutet nicht, ein schlechter Demokrat zu sein.«
Vielmehr ist es »die Normalform« der Demokratie. Und allen Neo-Sozialisten und
Kapitalismuskritikern legt er nahe, sich schleunigst mit »dem Begriff des
Profits anzufreunden«. Mit dem rasanten Aufstieg, den die neuen Mächte Indien
und China hingelegt haben, sind die Zeiten vorbei, in denen Europa den Reichtum
der Welt aneignen, verwalten und entsprechend umverteilen konnte.
Dies schmerzt vor allem die Sozialdemokratie, deren Erfolgsrezept Jahrzehnte
lang die Umverteilung war, aber die gern verschweigt, dass der Siegeszug der
Arbeiterbewegung und der Partei »Teil eines Aufschwungs des europäischen
Imperialismus und seiner Dominanz auf dem Weltmarkt« gewesen ist. Und weil genau
dieser Teil der Entwicklungsdynamik des Kapitals wegbricht, trifft der globale
Kapitalismus vor allem jene Länder am schlimmsten, die eine besonders
erfolgreiche Arbeiterbewegung aufzuweisen haben. Gerade wegen dieser Tradition,
die das »Gespenst« Lafontaine geschickt für seine politischen Zwecke
populistisch nutzt, stecken beide besonders tief in der Patsche.
Als gut geschulter Hegelianer unterlässt Kittsteiner es, Personen an den Pranger
zu stellen oder individuelle Schuldzuweisungen auszusprechen. Die »objektive
Gier«, welche die Kapital- und Finanzmärkte leitet und die jetzt die »Vernunft
in der Geschichte« (Hegel) repräsentiert, ist systemimmanent und hat nichts mit
subjektiven Bösartigkeiten zu tun. Sie prägt das Verhalten ausnahmslos aller,
die Hochlohnpolitik der Gewerkschaften und die Beutezüge der Sozial- und
Steuerpolitiker genauso wie die Optionen und Bonuszahlungen für Manager oder die
Verteilung von Listenplätzen und Vorstandsmandate.
Ungewisser Ausgang
Von der Politik, also von Parteien, Verbänden oder zivilen Akteuren,
erwartet sich der Zeitdiagnostiker nichts. Von allen Gutmenschen, die durch
»Schwafelregen«, den sie »über die Welt ausschütten«, glauben, die Verhältnisse
würden besser, wenn »alle Menschen so gut würden wie sie selber«, ebenso wenig.
Und von liberalen Phrasen, die von Freiheit und Selbstbestimmung der Individuen
faseln, noch weniger. Sie hält er für »noch verkommener als die
sozialistischen.«
Mit Carl Schmitt ist Kittsteiner sich einig, dass »die Epoche der Staatlichkeit«
am Ende ist. »It's the economy, stupid«, die unser Schicksal geworden ist. Doch
genau da könnte sich Kittsteiner irren. Die Wirtschaft ist beileibe nicht in
jedem Fall »das dem Staat vorgängige Politische«, erst recht nicht unter
Bedingungen eines entfesselten Kapitalismus.
Mal abgesehen, dass es höchst diskutabel ist, ob Technik und Wissenschaft,
Religion und Politik nur abgeleitete, von Gnaden des Kapitals lebende
Sachbereiche oder Tatbestände sind, ist keinesfalls sicher, wie Geoökonomie und
Globalisierung künftig verlaufen werden. Wir können keinesfalls davon ausgehen,
dass der Welthandel weiter so frei agieren kann, nur weil er so »profitabel«
ist. Und damit sind beileibe nicht bloß merkantilistische Strömungen und
Tendenzen gemeint, die sich in den USA, in Europa und anderswo ab und an
breitmachen. Gerade die aktuellen Turbulenzen an den internationalen Finanz- und
Kapitalmärkten demonstrieren das auf eindrucksvolle Weise. Ohne beherztes
Eingreifen der FED und des US-Finanzministers und der weitgehenden
Verstaatlichung prominenter Teile des Banken- und Kreditwesens wäre ein Debakel
kaum zu verhindern gewesen. Dass ausgerechnet die US-Regierung sich entschließen
würde, den Sozialismus durch die Hintertür wieder einzuführen, um ihr
Finanzwesen vor dem Kollaps zu retten, hätte, von Alexandre Kojève mal
abgesehen, wohl vor binnen Wochenfrist kaum einer für möglich gehalten.
Schließlich: Blickt man in die Vergangenheit, dann spricht die Geschichte eine
andere Sprache. Jedes Mal, als der Welthandel, forciert und unterstützt von
neuartiger Medientechnik, einen neuen Anlauf zur Erschließung und Anbindung
neuer Gebiete, Märkte und Konsumenten an das »Kernland« nahm und sich neue
politische Ordnungen und Mächte bildeten, wurden seine »Frieden schaffenden«
Maßnahmen von Revolutionen, großen Kriegen und wirtschaftlicher Depressionen
abrupt und blutig gestoppt.
Jedes Mal ging dem Weltgericht, das der Weltmarkt beansprucht zu sein, der
Weltuntergang voraus. Post 1492 waren es die Konfessionskriege. Post 1850 die
beiden Weltkriege, die Oktoberrevolution und der Kalte Krieg. Und post 1989?
Warum sollte die dritte Welle der Globalisierung diesmal, wo sich das Ende des
Pax Americana abzeichnet, das Machtzentrum sich in den asiatisch-pazifischen
Raum verlagert und der Kapitalismus eine autokratische Heimstatt findet, ohne
Krieg enden? Diese Gefahr sieht Kittsteiner durchaus für gegeben. Die künftige
Frage wird sein, schreibt er in einer Fußnote, wie sich Islam und
Konfuzianismus, Theologie und Autokratie mit dem Kapital verbinden.
Zwar wurde der Kapitalismus durch all diese Kämpfe »zwischen Geld und Blut«
letztlich nicht aufgehalten, für die Menschen brachte das aber massenhaften
Mord, millionenfaches Leid und Elend und unzählige Vertreibungen mit sich. Ob
Ähnliches auch der Klimawandel mit sich bringt, den der Autor als mögliches »Katechon«
präsentiert, ist wegen der vielen Unwägbarkeiten, die in dem Begriff stecken,
jedoch ungewiss.
»Alle großen Kriege sind Glaubenskriege«, schrieb Werner Sombart anno 1915 in
»Händler und Helden«. »Das menschliche Leben«, sekundiert Leo Strauss später,
»ist wesentlich ein unausweichlicher Kampf«, einer »zwischen Werten und
Idealen«. Es könnte mithin durchaus sein, dass nicht die Wirtschaft, wie Walter
Rathenau damals meinte, »das Schicksal« ist, sondern doch die Politik, wie Carl
Schmitt behauptet.
|
Heinz Dieter Kittsteiner
Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht
Wilhelm Fink Verlag 2008
273 Seiten, Kart.,
EUR 29.90 / CHF 50.50
ISBN 978-3-7705-4419-6
Artikel als PDF-Datei zum Ausdruck |