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EssayDer Cyberspace oder die Magie der Postmoderne hat mit Computern zu tun, mit allen Begriffen, die mit der Silbe "Tele", zu deutsch: Fern, anfangen, mit einem Netzwerk aus Glasfiberkabeln, Datenanzügen, Datenhandschuhen, Bewegungsmeldern, Sensoren, Detektoren, gesichtsschluckenden Kappenhelmen, Förderbändern, Federn, andern Gegenständen, die so zahlreich sind, daß mir ein Aufzählen hier nicht möglich ist, und mit zwei computerig tönenden Begriffen, die einem älteren Science-Fiction-Roman entnommen und verwissenschaftlicht worden sind, mit dem der "virtual reality" nämlich und mit jenem des "Cyberspace". Bis hierher war alles ganz einfach, doch jetzt zeigen sich die Grenzen, die dem Übersetzen von Ausdrücken gesetzt sind; da kann kein neuer Duden helfen und kein kluges Lexikon. Auf die Berichterstatter der NZZ und anderer gescheiter Blätter ist auch kein Verlaß, denn die haben sich das Lesen des begriffeprägenden Romans verkniffen und sich an einem Fremdwörterbuch vergriffen...[...] Uralten Begriffen kommt unter dem Einfluß technischer Errungenschaften unserer Zeit plötzlich eine komplett neue Bedeutung zu. So besagen "Cyberspace" und "virtual reality", daß mit Hilfe der rasanten Geschwindigkeit von ordinären Rechnern, die wir Computer nennen, Räume und Welten geschaffen wurden und werden, die für uns Menschen mit vier von unseren fünf Sinnen erfahrbar sind. Das heißt, daß wir diese Räume und Welten, die es in Wirklichkeit nicht gibt, betreten, betasten, hören, sehen und, so wie ich den Sarkasmus der Cyberpunks kenne, in kurzer Zeit sogar riechen können. "Mit Computern," werden Sie sich jetzt vielleicht sagen, "werde ich mich nie und nimmer herumschlagen!" - Seien Sie bloß nicht so voreilig; die Apparaturen, von denen hier die Rede ist und die zum Erfahren virtueller Realitäten notwendig sind, werden in nicht allzu ferner Zeit auch Ihre Wohnung bevölkern. Von der Decke Ihres Wohnzimmers wird ein Flaschenzug hängen, den Boden werden Matten verschiedenster Webart bedecken, auf dem Tisch wird ein superschneller Computer stehen, auf dem Büchergestell die andern Utensilien, welche von der Maschinerie benötigt werden. Und Kabel werden vorhanden sein! Kabel, Kabel - und mehr noch davon. Tja, die Maschinen werden den heute alles beherrschenden Fernseher ablösen. Was einst nur vorstellbar war, nämlich die erdachten Welten, ist - wer hätte das gedacht? - erlebbar geworden. Allerdings nicht ausschließlich vom heißgeliebten und viel umworbenen Sofa aus; Sie werden Ihre Augen brauchen, Ihre Ohren, Ihre Füße, Ihre Hände, Ihre Beine, Ihre Arme das Innere Ihres Kopfes und, da im Speziellen, Ihren Orientierungs-, Ihren Gleichgewichtssinn. Seit Mitte der sechziger Jahre lobpreisen die Einen das kommende "neue" Zeitalter, das Zeitalter des Wassermanns in den höchsten Tönen, den schillerndsten Farben, während uns Andere ein Ersticken im CO2, in den eigenen Fäkalien und Abfällen prophezeien. Das, was da tatsächlich auf uns zukommt, aber wagt alles Vorstellbare zu übersteigen, Horizonte schlicht zu übergehen, Weltbilder über den Haufen zu werfen, Ideologien von den Sockeln zu stoßen, Festgefahrenes aus den Geleisen zu heben und wollte einer es beschreiben, so könnte er das allerhöchstens mit "Schöner-als-das-Schöne", "Häßlicher-als-das-Häßliche", "Falscher-als-das-Falsche" oder - und was könnte schrecklicher sein? - "Wahrer-als-das-Wahre" tun. Das Zeitalter des Wassermanns wird dem "Homo Fiberoptikus" gehören, der sich mit Lichtgeschwindigkeit im Netz aus Glasfiberkabel oder über Satellit fort- und durch die Welten bewegt und sich mit seiner Mitwelt nur noch in unmißverständlich klaren, transparenten und eindeutigen Bildern verständigen wird. Der "Homo Fiberoptikus" wird zu Hause bleiben, nur im äußersten Notfall mit einem Verkehrsmittel verreisen und dennoch überall und zu jeder Zeit an jeder Ecke des Glasfiberkabelnetzes, sprich: der Welt, dem globalisierten Raum, anzutreffen sein. Wer das verstehen will, muß endlich aufhören
so zu tun, als wären wir mit einem Schrei aus tiefster Nacht aus
dem alten Ägypten hinaus- und über die Griechen hinüber
(die Magie im Herzen, die Zivilisation im Kopf) ins Land der Feen, der
Carnuten, der Kelten und Druiden hinein gestolpert. Er sollte sich Naheliegenderem
zuwenden: den Geschichten zum Beispiel, die wir Märchen nennen, den
Sagen, den Legenden, der arkadischen Poesie. Damals, da ich mit dem verzwickten Instrumentarium
der virtuellen Realitäten Bekanntschaft machte, mußte ich unwillkürlich
an "Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen" denken.
Ein Märchen - Sie erinnern sich? - Wintersonnwend ist angesagt; die
Nacht bricht in aller Früh herein; es ist bitterkalt. Ein Mädchen
in leichtem Kleid, ohne Mantel, Handschuhe, Mütze, wärmende
Schuhe, irrt frierend durch die Gassen, spricht die Leute, die es kennt,
an, aber diese Leute - Menschen wie Sie und ich - können das Mädchen
weder sehen noch hören; sie eilen an ihm und aneinander vorbei so
als begegnete ihnen keiner, als wäre außer jedem einzelnen
selbst keiner da. Es ist stockfinster. Das Mädchen kauert sich in
eine windgeschützte Ecke, steckt seine Hände in die Taschen
seines viel zu dünnen Kleides, ertastet scheinbar drei Schwefelhölzchen,
bringt diese zutage, reißt eines davon an: Licht flammt auf - und
das kleine Mädchen sieht sich mit anderen Menschen an einem hölzernen
Tisch sitzen, hört deren Worte, fühlt die wärmende Nähe
des Herdfeuers... Der Duft einer kroß gebratenen Gans, vermischt
mit jenem von Bratäpfeln, steigt ihm in die Nase. Das Mädchen
ist hungrig, voller Verlangen streckt es die Hand aus, greift nach Gänsekeule
und Apfel, hält beides fest, führt die Keule zum Mund - und
in dem Augenblick erlischt jäh das Licht. Die Gans ist weg, der Apfel
verschwunden, die Wärme fort, die Fröhlichkeit der Menschen
verstummt - ....[...] Doch sei's drum: wer sich traut, in einen Datenanzug zu steigen, sich einen mit Miniaturfernsehern, entsprechenden Kopfhörern und Sensoren ausgestatteten Helm über den Kopf zu stülpen, ein paar Datenhandschuhe anzuziehen und sich vor den vielen Kabeln, die einen mit einer bestimmten Anzahl von Prozessoren verbinden, die übrigens wiederum mit Prozessoren verbunden sind, nicht fürchtet, dem kann es ergehen wie es dem Mädchen mit den Schwefelhölzchen ergangen ist: er wird - beispielsweise - eine Fahrradtour machen, fester in die Pedalen treten, wenn's bergauf geht; bei Hitze schwitzen; keuchen, wenn die Steigung steil ausfällt; den Fahrtwind bei der Abfahrt spüren; Schmerz empfinden, wenn er stürzt - und dennoch keine blauen Flecke oder Wunden davon tragen. Alles wird sein wie im richtigen, im realen Leben. Nur mit dem Picknick dürfte er seine liebe Müh' und gewisse Nöte haben; das nicht vorhandene, gegrillte Hühnchen wird riechbar sein, greifbar, Widerstand leisten beim Zerteilen, bloß essen lassen wird es sich nachgerade nicht; es wird sich auflösen; es wird verschwinden. Die virtuellen Realitäten im Cyberspace täuschen nicht, wie das Fernsehen, allein das Aug', das Ohr; sie trumpieren alle unsere Sinne. Zu betreten sind die virtuellen Welten auf Knopfdruck
- und auf Knopfdruck sind sie wieder zu verlassen. Die Menschen, die dort anzutreffen sind, sind nicht dort, sind Tausende von Meilen entfernt, mit mir durch kompatibel gemachte Hard- und Software und das Glasfiberkabel verbunden, so daß ich ihren Händedruck spür' wie sie den meinen. Die Dinge, welche in der virtuellen Welt für mich sicht-, hör-, greif-, spür- und riechbar sind, sind nicht dort, nicht da! Nichts ist dort, nichts ist da! Niemand, keiner! Auftauchen ist und Verschwinden in den Hexenküchen der Beschwörer postmoderner Geister, in den Garküchen der Cyberpunks - wo keine Tunken blubbern, niemals Brühen brodeln, keine Kröten unken - wo die Bits mich äffen und die Pixel mich verkohlen. Der Computer, der uns als Datenverwalter und Denkverstärker dient, ist zum König der Magier und zum geliebten Zauberer, zum Verwirklicher kühnster menschlicher Träume geworden. Nun, ich weiß, weiß ja nicht, wovon
Sie träumen, was Sie sich wünschen, weiß wahrhaftig nur,
wovon ich träum', was ich mir wünsch. Was?, nur mit dem Kopf durch die Wand? Wie wär's
denn mit der im 17. Stock oder.... Wo ist die Rose, welche mir ihre Dornen in die Finger gestochen und die Handfläche geritzt? - Die Rose ist auf der Harddisk oder der CD. An einem Ort, der kein Ort ist, am Nichtort, wo sie immer blühen, nie verdorren, weder Blätter noch die spitzen Dornen je verlieren wird. Wer einmal in die virtuellen Welten des Cyberspace aufgenommen ist, wird dort - welch Entzücken - nie und nimmer altern, niemals eine Glatze, graue Haare, einen Bauchansatz, hängende Schultern oder gar Falten kriegen. Grünspan wird dort dem Kupfer nie beschieden sein und Silber seinen Glanz auf ewig, auf immer (solange die HD hält, die CD nicht zerbricht) bewahren. Virtuelle Welten sind staubfrei, kennen keinen Schmutz und keine Krankheiten erregenden Keime. (---) Daß die virtuellen Welten nicht dazu geschaffen worden sind, uns zu entzücken, liegt wohl auf der Hand. Virtuelle Realitäten sind Mittel zum Zweck, werden auf unzähligen Gebieten Nutzen bringen und auf einigen, wenn auch nicht ohne menschliche Hilfe, Schaden anrichten. Aber das ist eine ganz, ganz andere Geschichte - und die steht nicht hier, auf diesem Blatt. Wir - und das ist der entscheidende Punkt - betrachten uns als dem "Homo Sapiens Sapiens" zugehörig, bezeichnen uns demzufolge als "doppelt weise", und haben ohne mit der Wimper zu zucken und ohne jedes Aufmucken die Grenze zum Zeitalter des "Homo Fiberoptikus" überschritten. Wir, die wir allesamt "Erdlinge" sind, werden uns mit der Geschwindigkeit eines Tons durch den Äther, durch die Welt bewegen, vor den Toren Kijotos auftauchen und Augenblicke später in Paris unterhalten oder in New York. - Doch sei's drum: ich geb' es ja noch so gerne
zu - sie ist verlockend, magisch, verführerisch-anziehend, verzaubernd
und bezaubernd, die Welt des "Homo Fiberoptikus" - in der die
Wahrheit der Tiefe untergeht und das Schicksal des Scheins voll und ganz
aufersteht, 13. Jänner 1993 by Regula Erni |
Literatur-Event mit Nachgeschmack Die Poetologie der Information als Element der Netzliteratur Hommage für Friedrich Dürrenmatt
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