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EssayUnsere "Prothesenwelt", für die wir uns im besten Fall begeistern und an der wir im schlimmsten schier verzweifeln, läßt uns vergessen, daß wir gerade am Anfang der digitalen Revolution stehen. Schon morgen werden wir uns einen Online-Toaster beschaffen können, der uns zum Frühstuck die neuesten Aktienkurse direkt auf den Toast brennen wird und unsere Jacken werden mit Knöpfen versehen sein, welche eigentlich portable Computer, Telefon, Fax und Video in einem sind und uns, ohne daß wir etwas davon bemerken, täglich durchchecken, so daß wir erfahren, sollte unser Gesundheitszustand sich verschlechtern, was zu tun ist. Der Staubsauger wird nicht mehr von einer Hand geführt werden müssen; er verrichtet seine Arbeit tagtäglich exakt nach Computerprogramm und somit für uns: von selbst. Auch das jeden Sommer lästige Rasenmähen wird sich über den Computer erledigen lassen; keiner wird mehr einen Rasenmäher durch den Garten schieben und anschließend mit der Schere Kanten schneiden müssen. Die technischen Errungenschaften erleichtern uns das tägliche Leben und nehmen uns den Kleinkram, der sich immer wieder störend in unsere Arbeitswelt schiebt und nach unserer Aufmerksamkeit verlangt, wortlos, d.h. auch, ohne daß wir den entsprechenden Befehl erteilen, ab. Wenn wir das, was zur Zeit geschieht, "Informationsrevolution" nennen, sollten wir unser Augenmerk auf die gesellschaftlichen und kulturellen Folgen lenken, denn diese wurden weder von jemandem geplant noch beabsichtigt; sie ergeben sich, d.h., sie sind ganz einfach da und vorhanden - als Folge der Informationsrevolution. Der Computer ist eine Universalmaschine; ein und derselbe Computer kann Autos herstellen und autofahren, eine Intensivstation betreiben und den Verkehr regulieren, eine Firma betreiben, die Ausbildung von Menschen übernehmen und nebenbei noch einen Haushalt schmeißen. Das bedeutet, daß es in Zukunft - das wird in zwei, drei Jahren der Fall sein - der Phantasie des Anwenders überlassen bleibt, wozu er seinen Computer, der dann zu einer Universal-Prothese geworden sein wird, einsetzen will. Mit anderen Worten: die Verwendbarkeit des Computers wird keine Grenzen setzen, sondern Denkvermögen und Phantasie des Anwenders legen diese fest. Seit über zwei Jahrzehnten ist - von den meisten der Vielen unbemerkt - eine Revolution im Gange, die sich in zwei Lager teilt: ein technisches und ein gesellschaftliches. Bereits heute ist es mit Hilfe des Computers gelungen, Grenzen zu verwischen; in Zukunft wird derselbe Computer die Grenzen und festgefahrenen Strukturen ganz zum Verschwinden bringen und die ganze Gesellschaft von sach- und ortsgebundenen, aber auch von institutionellen Zwängen befreien. Vor uns liegt nicht mehr nur eine vage Zukunft; vor uns liegen Tausende von möglichen Zukünften. Es liegt an jedem Einzelnen, die sich ihm bietenden Chancen wahrzunehmen und sich die Zukunft zu gestalten. Solche Aussagen laufen allen bisherigen philosophischen Betrachtungsweisen wider den Strich; Philosophen kennen nur eine Zukunft und deren Farbe ist schwarz. Doch das ist ein ganz anderes Thema und steht nicht auf dieser Seite. Das ganze Leben wird zu einer Art Computerspiel. Und jeder weiß, daß zu diesem Spiel ein Austesten, Simulieren und Optimieren aller eventuell eintretenden Konsequenzen mit den realen Systemdaten gehört. Alle Dinge, die wir benötigen und benutzen werden so ausgerüstet sein, daß sie sich entweder selbst steuern oder über einen Zentralcomputer steuern lassen. Eingriffe von Menschenhand werden nur noch dann getätigt werden müssen, wenn ein Menüplan geändert wird, die Blutwerte nicht in Ordnung sind, der Blutdruck über die kritische Größe zu steigen droht oder der Zahlungsmodus nicht mehr stimmt. Betrachten wir die technologische Entwicklung positiv, so dürfen wir feststellen, daß sie uns eine Individualisierung von Lösungen anzubieten hat. Die Computer werden nicht nur schneller; sie werden kleiner und schließlich so winzig, daß sie von bloßem Auge nicht mehr erkennbar sind, in Geräte, Sessel, Schreibtische, sämtliche Kleider eingebaut werden können – und sogar in Menschen, um deren Bedürfnissen zu dienen. Ja, es wird soweit kommen, daß die Virtual-Reality-Systeme direkt mit unserem Gehirn kommunizieren; das heißt, der Mensch wird, dank bioelektronischen Implantaten Teil eines Netzwerkes sein, aus dem er alle realen und virtuellen "Zutaten" für ein Leben nach Maß beziehen wird. Was uns erwartet, ist demzufolge eine tatsächlich Schöne Neue Welt – sofern uns die Wahlfreiheit bleibt. Sofern wir uns alle Möglichkeiten offen zu halten in der Lage sind und wir frei und unabhängig wählen können, mit welchen virtuellen Räumen wir die tatsächlich vorhandenen überblenden, in welchen virtuellen Räumen wir uns aufhalten wollen. Fest steht, daß wir die wichtigsten Lebenserfahrungen nicht mehr in der tatsächlich vorhandenen Welt, sondern in einer virtuellen machen werden. Das hat natürlich den Vorteil, daß wir virtuell gemachte Fehler in Wirklichkeit nie machen werden. Oder, um Stephen Hawkins recht zu geben: wir gemachte Fehler jederzeit korrigieren können. Der Cyberspace wird für die Kinder von heute zu einem Teil ihrer natürlichen Umwelt. (Wobei sich "Umwelt" nicht im Sinne von Natur verstanden wissen will). So wie wir zwischen verschiedenen Fernsehprogrammen wählen, werden sich die Kids in die unterschiedlichsten Welten klinken; sie werden das, was wir in den Schulen gelernt haben, dort lernen. Sie werden sich in virtuellen Welten mit den anderen Menschen treffen und unterhalten, aber auch ihre Einkäufe tätigen. Vor allem aber werden sie ein aufgeschlosseneres Verhältnis zu allen Technologien entwickeln als wir. Das Nutzen der neuen Möglichkeiten wird zur Selbstverständlichkeit; der Nutzer keine Ausnahme, sondern die Regel sein. Wir werden die Welten dieser Kids, die uns in fast allen Belangen überlegen sein werden, in den meisten Fällen nur als Gäste betreten, denn sie wachsen in die Cyberspaces hinein, während wir noch uns schier unüberwindbar erscheinende Hürden zu überspringen haben. In den USA wird eifrig an den Cybernetic Organism, das heißt am Verschmelzen zwischen Mensch und Technik, geforscht und gearbeitet. Wenn jemand diese Arbeiten ganz konsequent verfolgt, wird er zweifellos wie ich zum Schluß kommen, daß wir in Zukunft über jede Menge künstlicher Körperteile verfügen werden, was bedeutet, daß der Mensch zu einem Gehirn in einem künstlichen Körper, einer vollständigen Prothese wird. Selbst vor den Toren Kyotos werden die Wissenschafter nicht ablassen von ihrem Bemühen, die Persönlichkeit eines Menschen auf Datenträger zu speichern. Sollte das je gelingen, würden wir Menschen von unseren wartungsanfälligen Körper befreit werden - und schließlich gar Unsterblichkeit erlangen. Wie die virtuelle Gesellschaft von Morgen – und das kann tatsächlich schon morgen der Fall sein – exakt aussehen wird, kann niemand vorhersagen. Daß die wissenschaftlichen Errungenschaften und technischen Entwicklungen unserer Zeit die bestehenden gesellschaftlichen Ordnungs- und Machtstrukturen unterlaufen, ist nicht nur absehbar, sondern bereits jetzt festzustellen. Der Staat oder Staatenbund verliert an Bedeutung; die öffentlichen Institutionen werden sich langsam aber stetig auflösen. Banken und Versicherungen werden wie Produktionsstätten menschenlos funktionieren. Das Bildungswesen der Zukunft wird nicht mehr an die uns bekannten Räume gebunden sein. Schulungs- und Ausbildungsprogramme, Unterrichtstechniken, -räume und –personal werden ersetzt durch intelligente Lern- und Supportsysteme, die vom Lernenden zu dem Zeitpunkt, zu dem er z.B. Hilfe braucht, abgerufen werden können. Das staatliche Bildungswesen wird reduziert auf ein minimales Pflichtprogramm und elementares Grundwissen im Umgang mit Multimedia vermitteln. Wer glaubt, das heutige Bildungssystem werde abgelöst durch eine neue Lerntechnologie, befindet sich auf dem Holzweg; das neue "Bildungssystem" wird durch die Fusion neuer Technologien, neuer Medien, virtueller Bibliotheken und anderem mehr entstehen. Die Grenzen zwischen Spielen, Lehren, Lernen, Arbeiten, Beraten und Unterhalten werden fließend sein. Lernmöglichkeiten werden direkt in unserer Umgebung auftauchen, damit wir uns neue Fertigkeiten exakt dann aneignen, wenn wir sie brauchen. Das ist nicht mehr als eine grobe Skizzierung dessen, was in einzelnen Sektoren der Volkswirtschaft vor sich gehen wird. Die Informationsfluten, die durch das Netz brausen, sind weder eindämmbar noch durch einen Staat, Staatenbund, Bill Gates oder sieben Weise kontrollier- oder gar regulierbar. Das weltweite Cyber-System wird einen Komplexitätsgrad erreichen, der es völlig intransparent macht. Es wird eine Eigengesetzlichkeit, jener der Thermodynamik nicht unähnlich, entwickeln. Viele Menschen verlieren in zunehmendem Maß den Wettlauf mit der Zeit, das heißt: mit der Technik; sie bilden sich nicht weiter, distanzieren sich davon oder zeigen Interesselosigkeit. Das macht einen Teil der Menschen, die heute im Arbeitsprozeß stecken, zu "Randständigen"; sie werden sich in den künftigen Welten nicht mehr zurechtfinden können – und dafür teuer bezahlen müssen. Die meisten der Vielen warten auf das Heraufdämmern des neuen Zeitalters, das ein "besseres" Leben verheißt und die wenigsten der Wenigen haben erkannt, daß das Zeitalter, welches gerade dabei ist, das industrielle abzulösen, ein kulturelles ist. Doch ehe das für jedermann offensichtlich ist, wird Anderes geschehen müssen. Was genau vor sich gehen wird, läßt sich nicht mit mathematischer Exaktheit berechnen. Mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit jedoch ist voraussehbar, daß das Gefüge Volks-, Privat- und Staatswirtschaft, der Staat als solches und die gesamte Massengesellschaft in ein Chaos stürzt - es ist bereits spürbar - und die Masse das Chaos durch simples Aufhaltenwollen noch verstärken wird. Die nächsten Jahre werden nicht paradiesisch sein, sondern für die meisten der Vielen mörderisch - im wahrsten Sinn des Wortes. Die technische Entwicklung verlangt nach einer Auflösung der Arbeits- und Leistungsgesellschaft. Diese Auflösung hat angefangen. Vor Jahrzehnten schon. Die Bausteine, aus denen paradiesische digitale Utopien gemacht sind, werden auch dazu dienen, digitale Höllen aufzubauen. Solange uns die Wahlfreiheit bleibt, sollten wir sie nutzen. - Ich für meinen Teil denke nicht daran, mich dem Schmoren in digitalen Höllen preiszugeben; da ziehe ich Paradiese vor. 10. Oktober 1997 |
Literatur Event mit Nachgeschmack Die Poetologie der Information als Element der Netzliteratur
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