Essay

"Unlängst" steht über der nächsten halben Stunde.
Unlängst ein - wer hätte das nicht bemerkt? – wunderlicher Titel, der entstanden ist, weil ich, als ich zusagte, hier noch einmal redend meinen Mund auf und zu zumachen - womit noch lange nicht gesagt ist, daß ich am Ende dieses Vortrages auch Etwas gesagt haben werde – meinte, wenn ich ein Manuskript aus der Ablage zöge, es läse, ein paar Änderungen und zwei, drei Ergänzungen anbrächte, wäre für den heutigen Abend gesorgt, später aber sah, dass ich mich getäuscht hatte - und wie ich mich getäuscht haben sollte - einen Blick auf das Datum warf und dachte: Unlängst.

Ja, unlängst standen die Türen der Häuser noch offen; der Reisende aus der Fremde wurde mit Respekt empfangen; ihm standen die Gaben des Hauses zu, und er wußte, daß erwartet wurde, daß auch er Etwas gab - und sei's auch noch so wenig. Besaß er ein besonderes Talent, durfte er damit nicht hinterm Berg halten; wußte er etwas Neues, so hatte er's zu berichten; hatte er nur Meinungen, so waren diese in die Debatte zu werfen und war ihm das alles der Sprache wegen versagt, so blieben ihm noch Gesten und Zeichen, mit denen er zu geben vermochte, denn jemand, der nur stumm verweilte und nahm, war nicht mehr als eine Laus am Rosenstrauch.

Heute sind die Türen der Häuser verschlossen; der Fremde ist kein Reisender mehr. Er begehre, sagt man, nicht die Gaben sondern das Haus und so ist ihm selbst der Zugriff auf die Gaben verwehrt.

Unlängst, in einer Welt, in der jeder Mensch kostbar war.

Unlängst – wie unwiderstehlich!

Unlängst - das ist, wer wüßte das nicht? - ein Zeitpunkt, der ein paar Tage oder mehr oder weniger als 25 Jahre zurückliegen kann - in einer Buchhandlung beim Durchstöbern von Neuerscheinungen, stieß mich Etwas, aber ich schaute nicht hin, wandte mich ab, wandte mich ab von den Büchern, wandte mich im nächsten Augenblick - das kann gestern, vor drei Wochen oder zwei Jahre später gewesen sein - in einem Kunsthaus, die Abteilung gehörte der Postmodernen an, den Bildern zu, da tauchte Es wieder auf, prallte mit einem freundlichen Eindruck zusammen, der es unter sich begrub. Und kurz vor Einbruch des Winters im Gedränge auf Zürichs Bahnhofstrasse, abends um fünf, den milden Blick mit der scharfsichtigen Brille vertauscht, an Flucht war nicht zu denken, sprang Es mich an, und ich wußte plötzlich: Das ist nur an den Tag zu bringen mit diesen gesichtslosen Geschichten, den faden, schemen- und schattenhaften Figuren, den gesichtslosen zu einem Brei verschmelzenden Gestalten, den maskenhaft-glatten von keinem Leben gekennzeichneten Visagen, diesen entpersonifizierten Jedermanns mit den konturlosen Stimmen, dem Gerede von Nacht und Nichts und den in sich gekehrten Augen.

Unlängst – wann auch immer das gewesen sein mag – auf der Straße sind mir die Augen aufgegangen. Menschen! Menschen – auf den kleinsten gemeinsamen Nenner organischen Lebens gebracht, als wären sie entbehrliche, ja überflüssige Dinge, als hätten sie weder Leib noch Seele und schon gar keine Gesichter, denen ein Leben seinen Stempel aufzudrücken vermag.

Sehen ist das eine, wahrnehmen das andere. Und das Wahrhabenwollen steht noch einmal auf einem ganz anderen Blatt. Es gelänge mir wahrscheinlich, hier glaubhaft zu machen, daß das, was ich gesehen habe, was ich sehe, für jeden, der es sehen wolle, sichtbar sei, daß es aber keiner sehen wolle, nur Wenige es sähen, von den Wenigen die einen verstummt seien, während sich die meisten der Wenigen in ferne und fernste Vergangenheiten oder virtuelle Welten zurückgezogen hätten und nur die allerwenigsten der Wenigen sprechend und handelnd mit offenen Augen durch die Welt gingen. Das heißt, daß sich das, was ich sehe, vor aller Augen abspielt, fast jeden – vielleicht auch einige von Ihnen – betrifft und von kaum jemandem gesehen wird – gesehen werden will.

So einfach aber ist es leider nicht. Obwohl sich das, wovon hier die Rede ist, im Licht der Öffentlichkeit und nicht im Verborgenen abspielt, ist es keineswegs für jeden sichtbar, ja überhaupt nur sehr schwer wahrnehmbar. [....]

Ihnen geht es gut – da bin ich mir ganz sicher, sonst wären Sie nicht hier - uns allen hier drinnen geht es gut, nicht wahr?, über Wohlstand wird gelästert, fast überall herrscht Frieden und die Demokratie wird mitsamt der Freien Marktwirtschaft, die unlängst selbst noch im Westen eine soziale war, jetzt auch über die Länder des Ostblocks verteilt. Was sich abspielt in der Welt, die Geschehnisse und Ereignisse werden über den Fernseher in unsere Stuben getragen, sind sichtbar, sind hörbar.
Abend für Abend wird von einer drohenden, bevorstehenden Gefahr gesprochen, - zur Zeit gerade von der ökologischen, der man mit wissenschaftlichen Daten- und öffentlichen Papier- und Büchsensammlungen entgegenwirken zu können meint, und die dann immer alle andern, vor allem die noch Ungeborenen, Ungezeugten, in deren Namen schon oft der gröbste Unfug angerichtet worden ist, aber uns selber nie und nimmer trifft. Und mit dieser Konzentration auf nur gerade dieses Eine, wird einfallsreich, aber wirkungsvoll über alle anderen unliebsamen Tatsachen hinweg geredet. [...]

Über die Gefahr, die gegenwärtiger nicht sein könnte, und die das Menschsein, wo es nicht schon im Aufkommen erstickt worden ist, bedroht, spricht kaum einer und noch weniger von der Entpersönlichung, von der Verdinglichung des Menschen, die jetzt, in diesem Augenblick, da Sie mir zuhören, in vollem Gange ist. Ununterbrochen redend wird verschwiegen, was zu sagen wäre.

Das Licht der Öffentlichkeit, dessen Schein nur das erfaßt, was gesehen werden soll, verfinstert die Zeit, in der wir leben, und von der wir sagen, sie gehöre uns.

Darum versuche ich hier - ausgewiesen durch nichts als "etwas Welterfahrung, die mit verbrannten Fingern, die über das Feuer schreiben, zu tun hat", einer Neigung zum Nachdenken und etwas Übung darin - etwas zur Sprache zu bringen, das wie die Sprache selbst nicht sichtbar, nicht greifbar, dennoch vorhandener als nur gerade vorhanden ist, nämlich das Gewebe, das aus Lebensfäden gemacht ist, und, weil solch vorhandener, aber unsichtbarer Stoff von Menschen durch Zusammenwirken, durch Zusammenhandeln gewoben ist, auch von der Einzigartigkeit eines jeden einzelnen Menschen.

Von einem Gewebe, das aus Lebensfäden gemacht ist, spricht heute keiner mehr, dafür aber von einem System menschlicher Beziehungen, was dasselbe sein soll, dasselbe aber schlechterdings nicht sein kann.

Was ein Lebensfaden ist, brauche ich Ihnen nicht zu sagen, und wie es aussehen könnte, dieses Gewebe, in das Menschen seit Jahrhunderten ihre Lebensfäden verweben, können Sie sich ganz sicher selbst vorstellen. Der Mittelpunkt besagten Gewebes wird seit alters her von einer Sache, einer Idee, einem Gegenstand gebildet. Und diesem Mittelpunkt, der nicht austauschbar ist, gilt das gemeinsame Interesse der Menschen, die ihre Lebensfäden sprechend und handelnd in das Gewebe verweben und damit das bereits Vorgewobene so verändern, wie die Fäden, mit denen sie dabei in Berührung kommen, verändernd auf sie wirken. Das gemeinsame Interesse der Menschen am Mittelpunkt ist der Stifter der Bezüge zwischen den Menschen. Gäbe es das gemeinsame Interesse nicht, hätten sich die Lebensfäden der Menschen nie berührt und das Gewebe hätte sich wohl niemals bilden können. Die Besorgnis der Menschen gilt dem Mittelpunkt, zu dessen Wohl sie miteinander sprechen und handeln. Durch das Miteinandersprechen und –handeln offenbaren Menschen, wer sie sind und zeigen aktiv die Einzigartigkeit ihres Wesens.

Ist ein Lebensfaden einmal zu Ende gesponnen und im Gewebe des Miteinanders verwoben, läßt sich der Teil eines Lebens anhand des Musters im Gewebe zurückverfolgen. Jeder Faden erzählt eine andere, eine sich von allen anderen unterscheidende Geschichte.

Menschen bewirken, wenn sie ihre Absichten sprechend und handelnd, also mit Worten und Taten, zu verwirklichen trachten, völlig unbeabsichtigt Geschichten. Lebendige Geschichten.

Und das, was von einem Menschen schließlich in der Welt verbleibt, ist seine, ist eine Geschichte. Jeder Mensch hinterläßt eine Geschichte. Jeder. Diese Geschichten, die, weil das Gewebe aus Lebensfäden gemacht ist, andere Geschichten bewirkten, die wiederum ganz andere Geschichten auslösten – und heute noch Geschichten auslösen können.

Sie werden immer wieder hervorgeholt, diese Geschichten, erzählt und wieder und wieder erzählt und von allen nachfolgenden Generationen im Gewebe des Miteinanders nacherzählt und in allen möglichen Materialien vergegenständlicht.

Aber solche Geschichten, deren "Helden" in den Datensammlungen der Enzyklopädien nicht erwähnt sind, bringen dem "Social Engeneering", einem Wissenschaftszweig, der – nicht zu Unrecht – darauf hofft, die Massengesellschaft wie ein Werkzeug, einen Hammer, einen Schraubenzieher, handhaben und als Mittel zum Zweck verwenden zu können, nicht das Geringste. Die alten Gewebe stiften in den Augen der Gesellschaftsingenieure nur Verwirrung; sie sehen ein Chaos darin, wollen dem ein Ende setzen und endlich Ordnung in die menschlichen Beziehungen bringen. Und darum haben die Gesellschaftstechniker unlängst mit dem Entwerfen, Verwerfen, Bauen, Aneinanderreihen, Schaltstellenbestücken, Inbetriebsetzen und Wiedereinreißen von ordentlich korrekten, in jeder Einzelheit übersichtlich angeordneten Netzwerken, die Bezugssysteme genannt werden, angefangen.

Die Bauweisen dieser Systeme sind je nach dem mit größeren oder kleineren Fischernetzen vergleichbar. Dort, wo die Fäden der Netze verknüpft sind, befindet sich jeweilen eine Schaltstelle im Bezugssystem und diese Schaltstelle ist mit je einem Menschen, der sich nur in vorbestimmter Richtung zur nächstliegenden Schaltstelle bewegen darf, bestückt.

Der Mittelpunkt eines solchen Systems ist variabel, d.h. jederzeit austauschbar, das gemeinsame Interesse der Menschen ein künstlich geschaffenes, fremdbestimmtes, dem jeweiligen System dienendes. Hat ein System seinen Zweck erfüllt oder erweckt es einfach nur den Eindruck, diesen nicht zu erfüllen, wird es von einem Sekundenbruchteil zum anderen eingerissen und durch ein anderes ersetzt; die Schaltstellen werden mit anderen Menschen bestückt.

Will ein Mensch, der gezwungenermaßen an ein solchen System gebunden ist, an einen anderen gelangen, so kann er das nur und ausschließlich, indem er den vom System vorgeschriebenen Weg einschlägt und mit peinlichster Genauigkeit einhält.

[...]

Und die Gesellschaftstechniker? – Oh, sie haben einfach dafür zu sorgen, daß die Systeme vorhanden sind. Für das Funktionieren der Systeme sind die Behavioristen zuständig, die mit dem Zweig der Verhaltensforschung befaßt sind, dem die Reduktion menschlicher Wesen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner von gleichartigen Reaktionen obliegt.

Die Bezugssysteme sind, damit sie vollumfänglich funktionieren, auf Wesen angewiesen, die sich von sich selbst verabschiedet haben, sich nicht mehr spüren und als Mittel zum Zweck benutzt werden können. [...]

Die Behavioristen sind davon überzeugt, daß es keiner besonderen Anstrengung bedürfe, die alten Gewebe zu zerstören. Der Ruin, so behaupten sie, gehe auf sehr subtile, fast unmerkliche Art und Weise von innen heraus vor sich...

Das Traurige an all dem ist, daß sich jede dieser Behauptungen bestätigt.

Unlängst erst hat es angefangen und zwar damit, daß man die Einzigartigkeit eines jeden einzelnen Menschen in Abrede gestellt hat. Wo Einzigartigkeit, das weiß jeder, mit der Sprache zusammenkommt, läßt sie sich auf überhaupt nichts ein und schon gar nicht in Sätze zwingen, ist allerhöchstens, und das auch nur im allerbesten Falle, aus dem, was ungeschrieben zwischen den Zeilen steht, herauszulesen.

Hin und wieder findet er noch Verwendung, der Begriff Einzigartigkeit – wo es um eine Rose geht, um ein Tulpenbeet, um einen Stein. Dort, wo es um Menschen geht dagegen, ist er verschwunden; da ist nur noch von einem "Individuum" die Rede, mit einer "Individualität", wobei letzteres Eigenart meint, was ein anderes Wort ist für Seltsamkeit und der Einzigartigkeit doch noch etwas näher kommt als ersteres, das ein einzelnes Wesen meint, das auch eine Maus sein kann, ein Pilz, ein Kohlkopf oder ein Tintenfisch. Die Eigenarten eines Individuums lassen sich beschreiben, auflisten und auf die ganze Gattung, Sorte, Art übertragen – wie ein Virus übertragen wird oder gewisse Bakterien.

Dieser Abwertung des Menschen Etwas abgewinnen, kann wahrscheinlich nur, wer seit Darwin vom Affen abzustammen meint, seit Freud mit dem Modell seiner selbst, seinen Ängsten, Sehnsüchten und Trieben, vor allem aber seinen ureigensten aus der Kindheit heraufdrängenden Monstren kämpft, seit Lorenz im Verhalten von Gänsen das eigene sucht und sich seit Eibl-Eibesfeldt für einen programmierten biologischen Automaten hält, dessen Gefühle aufgrund eines biochemischen Vorgangs, "Triggern" genannt, zustande kommen und menschliche Einzigartigkeit im besten Falle für eine abartige Verhaltensnorm im schlimmsten für eine absurde Chromosomenstruktur halten wird. [...]

Ob das allerdings schon genügt, Menschen zu kategorisieren, zu typisieren und zu charakterisieren, ist für mich fraglich, denn ein Charaktertyp mit Eigenschaften, die dieser mit Hunderttausend anderen teilt, mag alles mögliche und unmögliche sein, vermag aber niemals eine Persönlichkeit widerzuspiegeln und wird auch nie in der Lage sein, etwas über das Menschsein eines Menschen auszusagen.

Das Allertraurigste am Charaktertypen-Unwesen aber ist, daß Menschen, die einmal typisiert worden sind, nicht nachlassen in ihrem Bemühen, dem Typenschild zu entsprechen, das ihnen jeweilen aufgeschweißt wird - als wären sie das Fahrgestell eines Autos, eines Motorrades -.

[....]

Als wäre all das nicht schon des Unfugs genug, hörte ich, wie könnte es auch anders sein, unlängst den Oberguru für die Ausbildung von Topmanagern sagen, "...es ist wichtig, daß sich die Menschen in Chamäleonmenschen verwandeln; daß sie einen Chamäleongeist bekommen..., damit sie sich von sich selber verabschieden... und sich instrumentell nutzen lassen...".

Unlängst hörte ich diesen Satz. Und heute ist exakt dieser Satz zum Prinzip geworden; nach diesem wird gelehrt und gelernt. Der Chamäleonmensch hat überall Einzug gehalten; er fügt sich nahtlos in jede Umgebung ein, nimmt die jeweilen vorherrschende Farbe problemlos an, ist einsetzbares Mittel zu jedem Zweck, denn er hat – ohne jeden Eingriff in die Erbmasse – Paßform. Chamäleonmenschen werden darauf trainiert, für die Öffentlichkeit sichtbar zu agieren. Wahrgenommen wird dieses Agieren nicht und wenn doch, mit einem Achselzucken abgetan.

[...]

Der schier unerträgliche Zynismus aber, der da ganz offen zutage tritt, ist vor allem jenen anzulasten, die diese Systeme präsidieren, beherrschen und propagieren. – (Damit meine ich – nein, nein, natürlich nicht Sie oder Sie – uns alle, das heißt: auch mich.)

[...]

Wir sind lebendige Menschen und gegen gar nichts immun. Alles, womit wir in Berührung kommen hinterläßt in uns unsichtbare Spuren - exakt so wie wir - ich glaube, das war: unlängst - Spuren in anderen hinterlassen haben. Mit andern Worten: Systeme und Chamäleonmenschen wirken uns verändernd auf uns ein.

[...]

Zum Schluß frage ich mich allen Ernstes: wäre ich hier, wenn ich mich der Systematisierung oder auch nur dem System – was immer das auch sein mag, was immer das auch ist – widersetzte? Wäre ich hier, wenn ich noch keine Paßform angenommen hätte? Wäre ich gebeten worden, hier, in diesem Raum vor Ihnen meinen Mund auf- und zu zumachen, wenn ich nicht schon längst zu einem Chamäleonmenschen geworden wäre?

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