Leseprobe:
Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis
Was hätte wohl Heinrich Böll dazu gesagt? Zur Umfrage einer Wochenzeitung kurz vor der letzten Bundestagswahl, in der von achtundvierzig bekannten Wissenschaftlern, Künstlern, Intellektuellen etwa ein Viertel mehr oder weniger deutlich, mehr oder weniger stolz ihre Wahlverweigerung öffentlich bekundeten? Wo dieses Viertel der Befragten egozentrische Sätze schrieb wie „selten war ich mir so unschlüssig“, unfreiwillig komische Sätze wie „früher habe ich noch an Parteien geglaubt“, denkfaule Sätze wie „wie soll man im differenzlosen Feld eine Entscheidung treffen“, und bemitleidenswert erschöpfte Sätze wie „Das Beste, was wir im Augenblick haben, ist die erzwungene Solidarität unter uns Wahlmüden.“ Was hätte er gesagt zu dem großen Essay eines angesehenen Wissenschaftlers, der wortgewaltig viel richtige Kritik an an hochkomplexen politischen Phänomenen äußerte, nur um dann mantraartig zu dem unterkomplexen Schluss zu kommen, die einzige Möglichkeit, darauf zu reagieren, sei, nicht mehr wählen zu gehen?
Was hätte Böll gesagt angesichts von Medien, die diese todschick gewordene Politikverdrossenheit, diese Denk- und Entscheidungsfaulheit nicht bloß transportieren, sondern lustvoll vervielfältigen, indem sie ausgerechnet den Nichtwähler zum Superstar aufbauen, der einfühlsam zu seinen Beweggründen interviewt wird? Wo sich Talkmaster auch in gehobenen Programmen als unerbittliche Ankläger gerieren, die dem Angeklagten, also dem Politiker, der ohnehin vorverurteilt ist, aus ihren unendlichen digitalen Quellen seine Fehlleistungen, Tränen und falschen Versprechungen vorspielen?
(S. 13)
© 2015 Kiepenheuer & Witsch, Köln.