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Margit Kuchler-D'Aiello: Ein Mundwerk für Nellja.

Roman.
Graz: Leykam 2012.
144 Seiten; gebunden; EUR 19,50.
ISBN 978-3-7011-7795-0.

Link zur Leseprobe

Im Zentrum von Margit Kuchler-D'Aiellos Roman Ein Mundwerk für Nellja steht ein schwer aufzulösendes Paradox: Der Roman erzählt von dem Scheitern einer Beziehung aufgrund der Sprachlosigkeit, der Kommunikationsunfähigkeit eines der beiden Liebenden. Als fiktiver Autor des Romans erscheint dabei eben dieser sprachunfähige Liebende, ein frühpensionierter Amtsrat mit Namen Richard, der uns in seiner Niederschrift in Form eines Bewusstseinsstroms an den Ereignissen teilhaben lässt. Hat er also doch noch eine Sprache gefunden? Haben die zahlreichen Aufforderungen seiner Geliebten Nellja, sich endlich ein Mundwerk zuzulegen, gefruchtet, als es für die Beziehung schon zu spät war? Was ist passiert, das die Lücke zwischen erlebendem und erzählendem Ich schließen könnte?

Der Roman beginnt, als die Beziehung zwischen der wenig erfolgreichen Malerin Nellja und Richard schon beendet ist: Am 26. Februar, einem kalten Faschingsdienstag, wird der Ich-Erzähler von einem Jugendlichen bedroht und angegriffen. Er fällt in den Schnee. Am Boden liegend, blutend, verschwimmen die Zeitebenen und Nelljas Stimme übertönt die groben Beschimpfungen des Jugendlichen: „Dann bin ich ein Hurenbock, ein alter Penner. Schwul und eine Sau. Du nimmst die Realität nicht wahr, du bist weltfremd. Du sitzt in deinem Porsche und du glaubst, du bleibst unbehelligt.“

 Auf den nächsten Seiten setzt sich das Verschwimmen der Zeitebenen fort. Zuerst sind wir im Rathaus der kleinen Marktgemeinde, in dem der kurz vor der Pensionierung stehende Amtsrat seiner Nellja den Sitzungssaal zeigt und sie dort ihre Staffelei aufstellen lässt. Dann geht es noch weiter zurück, in die Kindheit des Ichs, zum gewalttätigen Vater. Nach ein paar Seiten, endlich, eine Zeitangabe, die uns wieder in die Gegenwartsebene führt: Fast ein Monat ist seit dem Sturz vergangen, es ist der 20. März, wir begleiten das Ich beim Joggen und lesen den irritierenden, aus einem ganz anderen Kontext bekannten Satz: „In den Lüften, da liegt man nicht eng.“ (aus Celans Gedicht Die Todesfuge)

In dieser Form, mit dieser achronologischen, oft uneindeutigen Zeitstruktur geht es weiter, und uns Leser/innen gelingt es nach und nach, einige zentrale, sinngebende Aspekte zu rekonstruieren. Der Amtsrat Richard erscheint als ein passiver Mensch, der zwar den gesellschaftlichen Aufstieg von „ganz unten“, der Arbeiterklasse, zum „Leiter der Gemeinde in Großklein“ geschafft hat, dem aber gesellschaftliche Integration, befriedigende Beziehungen, ein reflektiertes, bewusstes Verhältnis zu sich selbst versagt geblieben sind. Er nimmt seine Existenz als „randständig“ wahr, als Außenseiter. Beziehungen und Affären passieren ihm aus Langweile und bleiben nur wegen der Ausdauer und Konsequenz der beteiligten Frauen bestehen.

Ganz anders sind die Verhältnisse mit Nellja, die er in einem Café kennenlernt: Hier macht Richard zum ersten Mal in seinem Leben die Erfahrung, dass eine Partnerin nicht damit zufrieden ist, bei ihm ihre „Probleme aufzählen“ und sich floskelhafte Trostworte abholen zu können. Nellja verlangt, dass er spricht, sich ausspricht, sich traut zu sagen, was er zu sagen hat und aufhört nur das „Mannskind“ zu sein, der „Kindsmann mit dem Sprachknäuel im Mundwerk.“ Trotz der vielen Aufforderungen Nelljas ist aber keine Besserung in Sicht, die Beziehung bleibt gekennzeichnet von einer starken Asymmetrie, von einer Abhängigkeit des Ichs von Nellja, die bildhaft durch den Vergleich mit einem fiebrig hechelnden Hund dargestellt wird. Situationen, in denen Nellja ihre eigene Schwäche erfährt und der Unterstützung, der Anteilnahme – kurz: der Sprache – Richards bedurft hätte, enden enttäuschend. Die Beziehung steuert unweigerlich auf ihr Ende zu.

Auf der Gegenwartsebene begegnen wir einem Richard, der trotz der Trennung von Nellja nicht ohne Nellja ist. Ihre Stimme hat sich in sein Gewissen verlagert und begleitet ihn bei seinen Aktivitäten als Pensionist. Auf der Suche nach Informationen, in der Hoffnung etwas zu verstehen, bereist er die provinziellen Schauplätze ihrer Kindheit. Nelljas Gegenwart artikuliert sich als strenge innere Stimme, die nach einer ehrlichen Sprache Richards verlangt und auch keine Verlegenheitslügen durchgehen lässt: „Ich verspreche der Frau, mich um das Haus zu kümmern und weiß gleichzeitig, dass ich keinen Finger rühren werde und mein Mundwerk wieder nicht einsetzen. Verdammt. Höre ich Nellja fluchen. Ich lasse ihre Schimpftirade über mich ergehen und entdecke auf der Fensterbank einen dürren Fichtenzweig mit zerknittertem Lametta.“

Beim Lesen schwanken wir zwischen Mitleid und Wut, Resignation und Frohlocken über Richard. Mal scheint es, als setze das Reisen, die Erwanderung fremder Orte und die Betrachtung von Natur parallel zur räumlichen Bewegung eine innere Entwicklung in Gange, die zum Ende der Sprachlosigkeit und zur Entdeckung einer fast lyrischen Sprachbegabung führen könnte: „Weiter fahr' ich bis ins Grüne hinein, das sich aufgespaltet hat in die Farben der bestehenden Jahreszeit. Hier möchte ich mein Mundwerk für Nellja spitzen.“ Der Text spart auch nicht mit expliziten Hinweisen auf die Schreibmotivation als die Erfüllung von Nelljas Aufforderung zum Sprechen.

Doch ist es plausibel, dass ein in seiner Sprache derart verunsicherter, „hölzerner“, unbeholfener Protagonist wie Richard tatsächlich der fiktive Autor eines so fein komponierten, sprachsensiblen Textes sein kann? Oder spricht er gar nicht selbst, sondern Nellja „in ihm“, Nellja, die ihn als sein Gewissen gewissermaßen von innen in Besitz genommen hat? Aber wie lässt sich das mit der Celan'schen Todesmetaphorik zusammendenken, oder mit der am Ende noch einmal wiederkehrenden Anfangsszene, die mit ihrer kontextuellen Platzierung im Fasching, der Zeit der Masken und des Verkleidens, auch auf eine ganz andere Lesart verweisen könnte?

Margit Kuchler-D'Aiello gelingt es mit diesem rätselhaften, kleinen Roman in überzeugender Weise, ihre Leser/innen von einem Interpretationsversuch zum nächsten zu jagen. Ein hinsichtlich der Personenkonstellation an Bachmanns Malina erinnernder Text, beim dem sich die Sprachproblematik auf der inhaltlichen Ebene und die anspruchsvolle formale Gestaltung sehr eindrücklich wechselseitig verstärken!

Gianna Zocco
11. Juni 2011

Originalbeitrag

Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser verantwortlich.  Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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