21.-29.6.2017 – unter Finnen

21.6.2017

Mittsommer
Ich fahre staunend von Helsinki nach Turku durch Lupinen in allen Farben zu beiden Seiten der Autobahn.

22.6.2017

Attu
Wie wenig es zu schreiben gibt, wenn man nicht allein lebt. Ein Mensch ist da, und der Strom fließt mit gesprochenen Worten ab.
Wenn es an Johannis regnet, sterben weniger Finnen, sagt Jaana.
Wenn es nicht regnet und man draußen feiert, fallen viele Betrunkene in das Wasser, das überall ist. In diesem Jahr regnet es viel. Auch an Johannis.

23.6.2017

Ich hab mich nah am Flutsaum unter Sternen schlafen gelegt, die auslaufenden Wellen in den Ohren. Bis der Regen wiederkam. Wir – Yalla und ich – sind mit unserem Bett wie in der Nacht zuvor auf die Veranda umgezogen.
Als ich zwischen den Kiefern und Birken das Licht über dem Meer sehe, die vom Wind geschüttelt das Wasser aus der Nacht abwerfen, krieche ich aus dem Schlafsack und gehe ins Wasser. Das werde ich jeden Morgen so machen. Irgendwie göttlich ist das. Ich bin dankbar und möchte heute Abend, wenn ich aus der Sauna ins Meer laufe, genauso glücklich sein wie jetzt.

© H. Tarnowski

24.6.2017

Einen Tag lang mit Jaana über die Schären.
Jaana über die Finnen: Wenn sie einen Witz erzählen und die anderen lachen, dann erzählen sie denselben Witz noch einmal.
Wir sind auf dem Heimweg. Nachdem wir schon eine ganze Weile fahren, ruft sie: „Das kommt mir zu lang vor – kehr um!“ Also kehre ich um und wir kommen an die Stelle, wo wir waren, fahren wieder auf der selben Straße, alles nochmal – wie mir das gegen den Strich geht! Ich rase mit zusammengebissenen Zähnen. Wir fahren weiter als das erste Mal. Und Jaana wieder: „Das kommt mir… kehr um!“
Ich schreie. „Nein! Ich kehre erst um, wenn ich weiß, wo ich bin!“ Fahre weiter, ohne Zeichen, ohne Elche, aber Rehe, Hasen.
Dann steht da ohne alles: ATTU. Nach rechts. Juhuu!!
Jetzt verstehe ich, dass so kleine Inseln nur eine ausgebaute Straße haben. Da gibt es nur richtig oder falsch. Auch das hatten wir schon: die falsche Richtung.
Jaana: Ich habe nichts Falsches gesagt! Ich habe nicht geschaut – Ich: das war der Fehler –
Nachdem wir dreimal Fähren verpasst haben. Zuletzt die vorletzte, eineinhalb Stunden vor der allerletzten.
Nach dem Hin und Her rollen wir um halb zwei zur letzten Fähre hinunter. Alles still. Telefon? Keins da. Ein silberner Knopf über einem Schild: press the button. Wir drücken oft. Zu oft. Oben im Fährhaus ist jetzt Licht, unten die Schranke hoch und die Klappe herunter gegangen. Wir sind schon drauf und gleich drüben, winken zum Fenster hinaus, bis die Straße einen Bogen macht. Ich habe es nicht mehr geglaubt.
Jaana schon, weil es hier immer so ist. Die Fähren sind Straßen mit anderen Mitteln. Ich lerne.

 

© H. Tarnowski

Jaana wird 83. „Das wird schlimmer“ sagt sie immer, wenn ich von meiner Unzufriedenheit mit mir und meinen „Gedanken“ spreche. Das wird schlimmer. Wegen dieser Auskunft bin ich eigentlich nicht gekommen, denke ich. Hätte mir mehr Altersweisheit gewünscht, die zum Vorbild dienen könnte. Ist wohl nichts. Dafür Staunen über die Bewältigung von Tagen, die erst mit der Wirkung von Schmerztabletten beginnen. Mit Händen, die nur wenig halten können, Füßen, die nichts spüren, Beinen, die bei jedem Schritt wieder Halt auf der Erde suchen, wenn sie erst mal das Gewicht des Körpers angenommen haben. Jedes Aufstehen tut weh. Wenn dann noch der Satz kommt: als ich so alt war wie du, da habe ich noch … laufen und Rad fahren und schwimmen … können, dann sage ich mir: da kannst du einpacken –

25.6.2017

Ich wusste nicht, wo ich Schlaf finden sollte. Hätte einfach aufstehen wollen und den Tag anfangen. Wenn der nicht so weit weg gewesen wäre, wo es doch schon so lange hell ist. Yallas Knurren und Bellen weckt mich nicht auf, so hellwach wie ich bin. Ich halte sie fest, als sie losrennen will, um den Hirsch zu verjagen, der um diese Zeit herumstreift. Der Hirsch gibt nach – oder ist es ein Reh?
Das Meer ist verstummt. Ganz und gar verstummt. So spiegelglatt wie es daliegt, läuft auch nicht die winzigste Welle auf den Sand.
Dann muss ich endlich eingeschlafen sein. Als ich aufwache, ist das Licht schon über dem Wasser, das bewegt sich wieder, kleine Wellen lassen sich hören, auf den Steinen lauter als auf dem Sand.
Kein Regen hat mich vertrieben, es sind nur ein paar Schritte vom Bett in das Wasser. Zwei Schwäne rufen sich etwas zu, kommen näher, was mein Hund nicht zulassen kann. Ich kann ihm das Bellen nicht ausreden, und der Erfolg gibt ihm Recht: die Schwäne ziehen weiter.

26.6.2017

Die Mühe hat sich gelohnt. In jedem Tag sind Momente, wo mich diese Gewissheit mit dem finnischen Boden verbindet, dem Sand, dem Wasser, den Steinen, die noch eine Weile die Wärme des Tages bewahren, auch wenn die Sonne schon hinter dem Wald verschwunden ist.
Und jetzt hier. Das rote Leuchten hat mich aus dem Schlafsack geholt. Das Meer ein Spiegel unter der Sonne wie unter dem Mond. Der geht auf den Vollmond zu. Wenn er rund ist, werde ich Attu wieder verlassen.
Diesen Rand, an dem ich sitze, das Wasser vor mir, das Feuer hinter mir, das ich gemacht habe, um die Sauna zu heizen. Magisch, mystisch – wo hinüber?

© H. Tarnowski

27.6.2017

Es sind immer wieder Bilder da, die sagen: hier bist du nicht.
Das Aufwachen ist ein Schock. Zwei Wirklichkeiten stoßen aufeinander, kämpfen, bis eine von ihnen siegt. Am Ende ist es immer der Tag, der sich über die andere legt.
Und der beginnt unglaublich groß.
Mit einem leichten Rot im Osten um vier Uhr. Um halb sechs liegt das ganze Licht auf einem stummen Spiegel. Seine Ränder sprechen noch nicht. Sie beginnen erst mit zaghaftem Flüstern, wenn die Sonne höher steht. Das Boot ganz weit draußen schickt eine kleine Aufregung, die schnell vorübergeht.

28.6.2017

Die sanfte Gewalt der Wellen nach dem Sturm. Die Nacht war von ihnen laut, ein Aufschlag folgte dem anderen. Ich halte den Atem an, wenn wieder eine Welle ausläuft, als könnte es sein, dass es aufhört, still wird, das Rauschen verstummt.
Nein. So nicht. Die Ruhe kommt langsam, wenn sie kommt, das Wasser braucht Stunden, bis es wieder schweigt.
Auch hier warte ich darauf, dass das Licht über das Wasser kommt. Nach den Bäumen, nach dem Schilf. So ist es hier jeden Morgen, wenn die Sonne scheint.
Wir – Yalla und ich – haben zum ersten Mal gehört, wie ein Hirsch ruft.
Die Töne kamen aus der Richtung, wo nichts ist außer Wiese und Wald. Yalla blieb stehen und ließ sich durch Rufen keinen Millimeter bewegen, den Kopf dorthin gerichtet, wo die Töne hergekommen waren, einmal und dann noch einmal. Weil Yalla nicht kommt, kehre ich um und sehe ihn springen, den Hirsch. Das Weiße am Hinterteil hüpft auf und ab, bis der Hirsch stehen bleibt. Wir kommen ihm näher und näher, es ist ganz nah dieses schöne Tier. Bis wir ihm zu nahe kommen. Da springt es durch ein Feld zum Wald, und das Weiße hüpft, bis es weg ist.
Ich kann Yalla gerade noch davon abhalten, der Hasenfährte zu folgen, die sie schon in der Nase hatte. Gesehen habe den Hasen nur ich. Er war groß und er war allein. Ich scheine den einsamen Hasen durch Europa zu folgen, treffe überall mal wieder einen. Wenn ich das nicht selber bin.

29.6.2017

Jaana möchte mich mit ihrer ganzen großen – wunderbaren – Familie und ihren Freunden zusammenbringen. Allmählich verliere ich den Überblick. Am Tag gemeinsames Nacktsein in der Sauna am Meer, am Abend die Gespräche ums Feuer am Wasser. Ich spüre offene Freundlichkeit und ruhige Sympathie. Und Interesse: Wer ist diese Freundin der Mutter?
Jaana sagt „stolze Frau“ zu mir. Und sie sagt es für alle. Sagt sie.
Soll das das Neue sein, was mich in FIN erwartet hätte?
Ich bin erfüllt von dankbarem Staunen.
Dann wird es Zeit für eine Pause. Wo ist Finnland für uns allein?


Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de