7.-16.9.2017 – nine-eleven
7.9.2017
Die Antwort von Mamadou kam so schnell, als hätte er am Rechner gesessen.
Dass er mit Ekocredit in Bamako und Abidjan telefoniert und gemailt habe, die aber nur mit Unternehmen und Fabriken arbeiten würden. Das Schreiben hat er angehängt.
Sieht ganz anders aus als das, was man mir in Deutschland über Oikokredit gesagt hat.
Mamadou hat gemacht, was ich ihm geraten habe. Und wir sind wieder da, wo wir immer waren: er bittet dringend, 100 € zu schicken, damit er das Schaf bezahlen kann. Der Händler sei schon morgens um sechs Uhr vor seiner Tür gestanden und habe viel Lärm gemacht. Das habe ihn vor dem ganzen Viertel blamiert.
Also hat das Schaf sein müssen zu Tabaski. Auch wegen der Nachbarn.
Zu essen hätten sie gar nichts mehr.
Dasselbe nochmal und nochmal. Drei Mails in zwei Stunden.
Als ich in der Nacht aufwache, fällt mir sofort Mamadou ein. Da ist an Einschlafen nicht mehr zu denken, ich mache Licht und lese, bis der Akku leer ist.
8.9.2017
D‘AUTRES MONDES SONT POSSIBLES – andere Welten sind möglich. So steht es mit großen schwarzen Buchstaben auf dem Rücken von Mamadous weißem T-Shirt. Das Foto habe ich bei meinem letzten Besuch gemacht. Mamadou hat sich gerne dafür umgedreht, als ich ihn darum bat. Es hängt noch immer 40×60 cm groß an meiner Wand.
10.9.2017
Ich hatte Besuch.
Wenn nicht alles so gut ist, wie ich mir das vorgestellt habe – das Wetter nämlich – dann droht die Familie, wie ich sie erlebt habe. Ich bin die Enttäuschung, chancenlos, denke ich.
Halt, falsch! Ganz falsch! Ich bin hier und es ist jetzt und keiner droht.
Aber die Wolken über meinem Land – das muss doch etwas mit mir zu tun haben. Davon komme ich nicht los.
11.9.2017
nine-eleven
Wieder so ein Tag, der an die anderen erinnert, wo ich dachte: Jetzt kippt die Welt. Und es muss so sein. Wie schon bei den Raketen auf Israel im ersten Golfkrieg.
Und in dem Sommer, als die Flüchtlinge kamen.
Und Paris
und Cannes
und Berlin
und Barcelona
und London
London
London
und
14.9.2017
Ich muss ich aus meinem Leben in ein anderes steigen. Da ist die Steuer dran.
Die neuen Zahlen machen mir erst einmal Angst. Da muss ich wieder durch. Ist doch immer so.
Dazu brauche ich einen Rechner, der mitmacht. Meiner hängt sich oft mitten in der Arbeit auf und tut dann so, als wollte er gar nicht mehr hochkommen. Ein Fall für apple care. Ich muss wieder einmal telefonieren.
Der hilfsbereite Mann ist schnell genervt von mir, ich bin ihm zu aufgeregt.
Wie soll ich mich nicht aufregen, wenn ich vier Tasten ganz genau gleichzeitig drücken und gedrückt halten und eine fünfte drücken muss und dabei ihm an dem Telefon, das ich in der Hand halte, zuhören, um das zu tun, was er sagt, wenn er es sagt. Das kann er sich gar nicht vorstellen. Und dass sich meine Finger dabei sehr schmerzhaft verkrampfen, auch nicht. Ich soll das Telefon laut stellen. Aber wo? Ich finde kein Lautsprechersymbol. Ich höre den Mann schon verzweifeln. Ich hole schnell ein breites Stirnband, das den Hörer am Ohr hält. So geht es dann besser. Das soll sich der appleman lieber nicht vorstellen.
Vor meinem nächsten Anruf muss ich rauskriegen, ob ich mein fast neues Telefon für Freisprechen schalten kann.
Hausverwaltung – meine Mutter hat es gerne gemacht. Damals konnte man fast nichts falsch machen. Heute kann man – ich - es gar nicht mehr richtig machen.
Der größte Schreck ist die Gasrechnung. 700 € mehr als im letzten Jahr. Was ist da los?
Schnell ist klar: Ich habe auf das umweltfreundliche Gas umgestellt, als dieser Vorschlag herein geflattert ist. Ganz automatisch. Dass das soviel teurer ist als das übliche, darauf bin ich gar nicht gekommen.
„Da haben Sie etwas für die Umwelt getan.“ sagt die Sachbearbeiterin. Na schön – aber ob der das hilft?
Von den Menschen, die jetzt in meinem Haus wohnen, kann ich das nicht verlangen.
Online funktioniert die Umstellung nicht. Daran sind wir nicht schuld: mein Rechner und ich.
Ich muss zu den Stadtwerken in die Stadt, die mir sehr vertraut und ganz fremd geworden ist.
Ich muss vielen Menschen nachschauen, wie sie sich kleiden, die Hüte, die Stiefel, die wehenden Röcke, wenn sie es eilig haben. So geht das Leben dort weiter. Und ich bin draußen.
Tierarzt und Zahnarzt. Der Hund hat entzündete Löcher in seinem Fell, jeden Tag eine neue krustig-offene Stelle. Flohstiche sagt der Arzt. Igel hätten viele Flöhe. Ich sehe Yalla vor mir, wie sie den kleinen Igel anbellt. Und wenn die Igel weiterlaufen, lassen sie Flöhe zurück.
Ich habe mal wieder eine Nacht an meinen Zahn gegeben. Was wenn die Entzündung nicht wegzukriegen ist? Dann kann ich es mir aussuchen: Implantat oder Prothese.
Nein! Keine Prothese!!! sag ich sofort. Auf keinen Fall.
Der Zahnarzt schaut mich zweifelnd an. Ich glaube, der denkt: lohnt sich das denn noch?
Das denke ich jetzt auch.
Aber ein Versuch ist noch möglich: Penicillin. Ich kann mich nicht erinnern, wofür ich es schon einmal bekommen hätte. Aber wenn ich den Zahn damit behalten kann – soll es sein!
15.9.2017
Der Himmel ist wieder offen. Nur ganz wenig Weiß in dem Blau.
Das Lautsprechersymbol habe ich mit der Anleitung inzwischen gefunden. Natürlich schäme ich mich jetzt.
16.9.2017
Cat Stevens singt wieder. Mit derselben brüchigen Stimme wie vor über 40 Jahren.
Da hatte ich meine Ferienschwester aus der Psychiatrie geholt, dort war sie angekommen, nachdem ich sie bewusstlos am See gefunden hatte. Wir wussten nie, was sie eingenommen hatte und wieviel.
Diesmal war es ungefährlich und ich wollte sie zu uns nach Hause holen. Der Oberarzt meinte, ich könne doch an einem Freitag keine Zeit haben, da müsste ich einkaufen…
Im Autoradio hörten wir dann:
Morning has broken like the first morning
Blackbird has spoken like the first bird
Praise for the singing, praise for the morning
Praise for them springing fresh from the world
…
Mine is the sunlight, mine is the morning …
Als wir auf dem Rathausplatz Kaffee in der Sonne tranken, habe ich fest daran geglaubt, dass es auch für meine kleine Schwester hell werden könnte. Mit dieser Hoffnung haben wir sie zu uns geholt in eine neue Stadt, zu neuen Menschen. Aber sie kann es nicht wirklich geglaubt haben. Ihr siebter Versuch, dieses Leben zu verlassen, erreichte ein paar Jahre später sein Ziel, nachdem sie wieder nach Hause zurückgekehrt war.
Ihre große Schwester ist ihr vierzig Jahre später gefolgt, ein Jahr nachdem die Mutter gestorben war.
Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de