17.9.2017 – Aqaba
17.9.2017
Die Schule hat wieder angefangen. In Ouaga, in Cotonou, in Timbuktu – überall in Westafrika tragen die Kinder Schuluniformen.
Wie auch in Israel, Syrien, Jordanien.
Aus Ägypten durfte ich nach Jordanien einreisen. Aber wer ich dort war, wusste ich noch nicht.
1992Aqaba
Jordanien für AnfängerDer Ägypter, der im Kiosk der Busstation von Aqaba Tee und Kaffee und Süßigkeiten verkaufte, hat es sich nicht nehmen lassen, mich – nachdem er den Tee, den er gerade zubereitete, in ein Gläschen gegossen und einem wartenden Fahrer gereicht hatte – zu dem Bus, der nach Ma‘an fahren sollte, dem Ort, nach dem ich ihn gefragt hatte, zu begleiten. Dort vertraute er mich dem Fahrer an, gab mir die Hand und verabschiedete mich mit einer Verbeugung und guten Wünschen für die weitere vor mir liegende Reise.
Good bye, lady! hat er dabei gesagt.
Ich bin keine lady – sieht er das nicht? Was meint er damit?
Mit dem Verlassen des ägyptischen Taxis im Hafen von Nuweiba hatte ich diesen Titel bekommen. Das Gespräch mit dem Fahrer war freundlich und von beiden Seiten um Verständigung bemüht gewesen. Schon bald war ich eingeladen in das Dorf, in dem seine Familie lebte, wenn ich das nächste Mal nach Ägypten kommen würde. Wunderbar sei es dort, ich sollte unbedingt kommen, das mußte ich versprechen. Ich war der erste Fahrgast am Morgen, und natürlich konnte der Fahrer auf den Schein, den ich ihm reichte, zu dieser frühen Stunde nicht herausgeben. Weil ich ja nur noch ein bißchen ägyptisches Geld brauchte für einen Kaffee und für Briefmarken – wenn ich die Post in Nuweiba-Port überhaupt fand –, sonst nichts, die Überfahrt würde ich mit Dollars bezahlen, ließ ich ihm und seiner Familie den Schein. Thank you, lady, sagte er, good bye. Mit diesem Abschied setzte er mich an der Schlange vor einem Schalter ab, fuhr eine Runde durch den Hafen, kam mit vollbesetztem Auto wieder an mir vorbei und rief noch einmal laut aus dem Fenster zu mir herüber, sodaß es jeder hören mußte: Thank you very much, lady!
Auf diese Weise mit mir selbst bekannt gemacht wurde ich die lady, die ich nicht war, und als die lady erfuhr ich eine ganz besondere Behandlung.
Alle meine Bemühungen, mich an den verschiedenen Abfertigungsschaltern in einer Reihe einzugliedern und den üblichen Fortgang abzuwarten, waren vergeblich, immer schon sah ich nach kürzester Zeit weit vorne vor der fast ausschließlich aus Männern gebildeten Schlange – die wenigen dazugehörenden Frauen mit den Kindern standen so unauffällig daneben, daß ich sie selbst nur sah, wenn ich mich dazu ermahnte – eine erhobene Hand, die mich zu sich winkte.
An der für mich zuständigen Paßkontrolle war ich die Einzige. Ob ich eine Bibel bei mir hätte, fragte mich lächelnd der Beamte, während er in meinem Paß las – ich dachte, ich höre nicht richtig, dreimal habe ich zurückfragen müssen, bis ich verstand: do you have a bible with you? und verneinen konnte –, ob ich verheiratet sei, Kinder hätte, wo sich mein Mann aufhielte, ob ich Jüdin sei. Ach so.– No, Christian. – Aha, Christian. Will er den Taufschein oder glaubt er mir? Schließlich gibt es die Vorschrift, daß kein Jude nach Jordanien einreisen darf. Er glaubt mir und ich darf.
Und wieder war er da: der angewinkelte Unterarm. Die Handinnenfläche nach vorne gerichtet und dabei die Finger wiederholt in winzigen Bewegungen einrollend – das war das Zeichen, das mich aus jeder Reihe holte und dem ich zu folgen hatte, als bunter Hund oder als lady: begleitet, hingesetzt, zurückgebracht, durchgeschleust.
Da vorne waren auch schon diese lockenden Finger, die nicht eher Ruhe gaben, als ich mich auf sie zu bewegte, auch wenn ich sie erst einmal übersehen wollte, um ganz normal wie jeder hier anstehen und mich umschauen zu können. Hier bekam ich diese Chance nicht, ich durfte die Halle bald verlassen, in einer Viertelstunde – eigentlich waren dafür zwei Stunden nötig – war ich auf dem Schiff, der großen Fähre, die Arbeit suchende Ägypter nach Jordanien bringt, von dort fahren sie nach Saudi-Arabien, Kuwait und in die Golfstaaten weiter.
Man behielt meinen Paß, den roten mit dem syrischen Visum, gegen ein kleines abgerissenes Blatt, auf dem mein Name stand, und ich mußte annehmen, daß ich ihn mit diesem Zettel beim Aussteigen wiederbekommen sollte.
Ich konnte gehen und mich nach einem Platz umsehen, um mich für die Überfahrt einzurichten. Ich strebte sofort nach oben, wo vielleicht der Wind die Hitze erträglich machte. Da war noch genügend Platz, ich konnte wählen und machte ein paar Schritte auf einen Eckplatz zu.
„The women are downstairs!“ – hörte ich auf einmal – die Frauen sind unten? –, ein Mann sprach streng zu mir. Stimmt, ich sah keine einzige Frau, ihre Abwesenheit war mir gar nicht aufgefallen, hatte ich doch bisher überhaupt fast nur Männer gesehen. Auf diese Weise zur Ordnung gerufen stieg ich hinunter ins Zwischendeck, das vollgestopft mit Frauen war, jungen und alten – wo kamen die nur alle auf einmal her? – und Kindern, größeren und vielen kleinen. Heiß war es da, die Gänge voller Koffer, Taschen, wenige Kinderwagen, jede Frau hatte ein Kind auf dem Schoß und eines neben sich, jeder Mann auch, sonst durfte er gar nicht herein. Einer, der weder Frau noch Kind vorweisen konnte, wurde schon am Eingang von einem anderen, der das kontrollierte, streng zurückgewiesen. Diese Enge, Hitze, keine Luft, keine Sicht – ein Privileg der Frauen. Ich saß da ohne Kind. Nicht lange, da bekam ich eines in die Arme gelegt, als seine Mutter mit dem Stillen fertig war. Stolz stellte sie es – einen Jungen natürlich – und gleichzeitig seinen Vater vor, der still und klein daneben saß und nun Abu Karim hieß, mit diesem Sohn hatte er endlich den für ihn bereitgehaltenen Namen, der ihn – in dieser Weise angesprochen – sichtlich größer machte: der Vater von Karim. Die Frauen nickten mir lächelnd zu, die Kinder betrachteten mich neugierig oder sie kamen, um mich prüfend anzufassen.
Die lady.
Nach vier Stunden, die man mit Essen, Dämmern und Dösen verbracht hatte, wurde es lebendig auf dem Schiff, und ich wagte es – ging doch alles schon durcheinander –, das Zwischendeck zu verlassen. „Dubai! Dubai!“ wurde gerufen, und junge Männer rannten die Treppen hinauf und hinunter, manche wurden herausgegriffen, angeschrieen, zurückgeschickt. Wie die Jungen den Älteren gehorchten. Einen Augenblick lang standen sie sich Auge in Auge gegenüber, dann gingen die Jungen und taten, wie ihnen geheißen. Ich hörte und sah kein Wort. Da gab es keine Diskussion. Dieses stillschweigende Anerkennen einer offenbar natürlichen Hierarchie. Das Verstummen der gerade noch lebhaft mit mir redenden Jungen, sobald ein Älterer auftrat, Verstummen und Verschwinden, weg waren sie, ehe ich mich versah.
Namen durch den Lautsprecher, englische, holländische, deutsche Namen. Dann glaubte ich meinen Vornamen zu erkennen – man benutze meinen Nachnamen nicht – und ging in die Richtung, wo ich die Gruppen von Europäern gesehen hatte. Ich wurde zu einem Schalter geschickt, der Beamte an dem Tisch buchstabierte meinen Vornamen und fragte mich stolz – meine Zustimmung nicht im Geringsten in Frage stellend –, ob er ihn richtig ausgesprochen habe.
Welcome in Jordan! sagte er und gab mir meinen Paß zurück.
Welcome in Jordan – richtig, er erinnert mich daran, daß ich inzwischen wieder über eine Grenze gegangen war. Wo lag sie, unter dem ersten Schritt auf das Schiff oder mitten im Roten Meer? Wieder war mir die Grenze entgangen. Das sollte mir doch nicht noch einmal passieren. Diesmal nützte auch das Umschauen nichts mehr.
Ein paar Tage später habe ich noch einmal diese Grenze gesucht, mich ihr mit einem Glasboot genähert, durch dessen Boden man auf den traumhaften Grund des Roten Meeres sehen konnte, nachdem ich lange am Strand in dem Café gesessen war und hinübergeschaut hatte zum nahen Sinai. Ich war die einzige Frau hier – ohne einen Mann oder andere Frauen kam eine Frau nicht hierher, was sollte sie da auch – bis sich ein junges Paar näherte, die Frau mit weißem Kopftuch und einem langen dunkelblauen Mantel-Kleid am Arm ihres Mannes. Ihre Füße in den Sandalen waren nackt. Die beiden hatten sich wie ich an einen Tisch, der mit den Füßen fast im Wasser stand, gesetzt und waren dann mit mir der Aufforderung des Fischers gefolgt, mit seinem Boot hinauszufahren. Dort zeigte der uns den Meeresboden, wo die Korallen am prächtigsten und die Fische am buntesten waren, und wies ernst in die Richtung der Grenze, auf deren anderer Seite Elat und Taba lagen, und man nickte verständnisvoll und ebenso ernst. Dann wollte der Mann ein Photo von uns dreien haben, gab dem Fischer seine Kamera und machte ein Zeichen, daß ich mich neben ihn setzen sollte, auch seine Frau nickte und lächelte mir freundlich zu. Er legte seine Arme um sie und um mich, so wollte er es haben. Eine Ungeheuerlichkeit im Vergleich zu den minimalen Annäherungen, die sonst in der Öffentlichkeit sichtbar wurden. Mehr als ein winziges Streicheln mit einem einzigen Finger habe ich hier nicht gesehen. Ob dieser hier seine Frau in diesem Augenblick ebenso fest drückte wie mich, kann ich nicht wissen, doch ich bin sicher, daß er es nicht tat. Jedenfalls haben sie nun ein Bild von der Lady in seinem Arm.
Als wir an den Strand zurückkamen, hatten die Männer ihre Stühle schon mit allen vier Beinen ins Wasser gestellt, um Kühlung für ihre Füße zu finden. Ich wurde zum Tee eingeladen. Wie es immer begann, so auch hier: Wie mir Jordanien gefiele, ob ich verheiratet sei, Kinder hätte, wieviele. Ich möchte erfahren, wo ich die Busstation finde, es scheint nicht schwer zu sein: Aqaba wurde mir zum Jordanien für Anfänger: Wie das alles zusammenhängt mit den Bussen und den Taxis, das habe ich dort gelernt.
So bin ich zu dem Ägypter gekommen. Er war der Dolmetscher an der Busstation, wo ich mich nach den Fahrzeiten und -zielen erkundigte. Jeder Taxifahrer, den man etwas fragte und der nicht englisch sprach, ging zu ihm, um mit den Touristen in den Handel zu kommen. Ich wollte mit einer Deutschen und einem Paar aus Neuseeland, die im gleichen Hotel wohnten, einen Tag in die Wüste fahren, ins Wadi Rum – wo kein Bus hinfuhr, wie man mir sagte –, dort bis zum Sonnenuntergang bleiben und danach wieder nach Aqaba zurückkehren. Wenn man nicht den ersten von einem Fahrer genannten Preis bezahlen wollte, war es ein langer und umständlicher Handel, zumal der beleibte Ägypter laufend seine Tee- und Kaffeekunden zu versorgen hatte. Er stellte mir einen Stuhl neben die Tür seines Kiosks, in dem er in nachts schlief, offensichtlich nicht abgeneigt, aus dem Handel eine Unterhaltung zu machen, und damit ich dabei einen Tee nicht im Stehen trinken mußte. Wieder: Wo ich herkäme, wo ich hinwollte, warum mein Mann nicht dabei sei und wieviele Kinder ich hätte. In den Pausen, wo er keine Zeit hatte, versuchte ich, mit dem Fahrer selbst ein paar Worte zu wechseln, was uns nicht weiterbrachte, wir warteten beide bald wieder schweigend auf den Ägypter mit seinem langen weißen Gewand über dem runden Bauch und der sehr starken Brille. 20 Jahre stand er schon in diesem Kiosk, ich schätzte sein Alter auf gut 50 Jahre, Fehleinschätzungen – die Menschen sehen hier so oft älter aus als bei uns – bereits eingerechnet. Ob ich schon in Ägypten gewesen sei, nein, nicht wirklich, so müsse ich unbedingt dorthin, es sei wunderschön. Aber er müsse Geld verdienen für seine Familie, darum lebte er hier wie so viele Ägypter, inzwischen schon länger als 20 Jahre.
Beim ersten Mal wurden wir uns nicht einig, ich wollte noch im Hotel mit meinen Mitfahrern sprechen, als ich wiederkam, breitete der Ägypter an der Stelle, wo zuvor der Stuhl für mich gestanden hatte, gerade seinen Gebetsteppich aus, kniete zum Abendgebet nieder, ich mußte warten. Der Fahrer war auch schon wieder da, er betete offensichtlich nicht und hatte wohl noch kein besseres Geschäft für den nächsten Tag vereinbaren können. Wir warteten das Beten ab, dann das Kaffee- und Teekochen, dann ging es weiter, schließlich wurden wir uns einig: Treffpunkt morgen früh um sieben Uhr an derselben Stelle. Da würde der Ägypter in seinem Kiosk schon aufgestanden sein, um für die Bus- und Taxifahrer den Tee zuzubereiten.
Am nächsten Morgen waren wir da. Der Chauffeur hatte uns schon erwartet, in einer Stunde würden wir in der Wüste sein – wenn wir zwischen den von rechts aus Saudi-Arabien anrollenden Lastwagen heil durchkamen, was überhaupt nicht sicher war, unser Fahrer mußte scharf ausweichen. Daß der Sicherheitsgurt nicht funktionierte, hatte ich schon nach der Abfahrt festgestellt, der Fahrer hatte das mit lachendem Achselzucken begleitet. Es machte mir nichts aus – als ob es besser wäre, in Jordanien als in Deutschland zu sterben. Als wir auf eine Polizeikontrolle zufuhren, legte der Fahrer den Gurt vor seinen Bauch, ich tat dasselbe, er lachte, ich auch. Dann kam die Frage nach den Kindern, den meinen, den seinen, er hatte drei. Die Familie lebte in Ma‘an, er arbeitete in Aqaba, meistens schlief er an der Busstation in seinem Taxi.
Nach einer halben Stunde verließ das Taxi die Straße nach Norden, um nach rechts ins Wadi Rum abzubiegen. Drei Frauen standen an der Kreuzung, sie winkten, und der Fahrer hielt nach unserem Kopfnicken auf seinen fragenden Blick hin. Ob sie mitfahren könnten, fragten sie, es waren die Lehrerinnen der Beduinenschule im Wadi, jeden Morgen standen sie hier und warteten, daß ein Auto sie mitnahm, weil der Bus aus Aqaba auf der Hauptstraße nach Norden weiterfährt. Die Kinder warten auf sie. Auch wenn sie das Dorf erst um 10 oder 11 Uhr erreichten, kamen sie aus ihren Häusern oder Zelten in die Schule gelaufen.
Wir begleiteten die Lehrerinnen dorthin, machten ein paar Photos von ihnen und ihren Mädchen – die Jungen hatten eine andere Schule – und dem Haus mit den drei Türen, die nun aufgeschlossen wurden, und verabredeten uns für ein Uhr in der Raststätte, wo sie wie jeden Tag auf eine Gelegenheit zur Rückfahrt warten würden. Plötzlich hatten sie es eilig, mußten sie doch endlich mit dem Unterricht anfangen.
Unser Ziel war das Wüstental. Ein Stück gingen wir zusammen, dann bin ich zurückgeblieben, wollte langsamer gehen und im Schatten sitzenbleiben, um mich umzusehen. Es ist unglaublich, wie klein der Schatten hier ist, er bedeckt kaum den Kopf, wenn man sich an einem Felsbrocken niederkauert. So bin ich bald wieder umgekehrt und in das Dorf zurückgegangen, die Menschen zu suchen, die mit so wenig Schatten lebten.
Zuerst fand ich mich allein zwischen den kleinen Häusern, die die Beduinen seßhaft machen sollen, den Zelten und den Kamelen, dann sah ich ab und zu kleine Kinder herumlaufen, manche folgten mir ein Stück, um dann wieder umzukehren, und Frauen, die aus dem Haus oder dem Zelt kamen und wieder darin verschwanden, oder solche – meist ältere – die im Schatten eines Kamels saßen und rauchten. Dann winkte mir ein Mann einladend zu, ihm zu folgen, tea? fragte er und noch einmal: tea? und brachte mich in ein Beduinenzelt, nachdem er die Türe in einem flachen Zaun los- und hinter uns wieder zugebunden hatte. „Bedouinhouse“, sagte er und nickte dazu, „Bedouinhousel“ Eine kleine, faltige, aber gar nicht alte Beduinin, mit der kleinen, dunkelblauen Tätowierung einer Blüte zwischen den Augenbrauen, die mit einer Teekanne vor sich im Sand saß, nickte ebenfalls und reichte mir ihre Hand zur Begrüßung.
Für ein Glas Tee blieb der Mann bei uns sitzen, dann stand er auf und ging durch das Tor im Zaun, der verhinderte, daß die Ziegen ins Dorf liefen, wieder hinaus. Mein Glas wurde nicht leer, immer goss die Frau nach, bevor es so weit war – man glaubt nicht, wieviele Gläser Tee aus so einer kleinen Kanne kommen – dazwischen vertrieb sie mit Schreien und In-die-Hände-Klatschen die zudringlichen Ziegen.
Baby? Baby? fragte sie mich, ich nickte und zeigte zwei Finger. Baby? fragte ich sie, nun nickte sie und jetzt sah ich auch den zerrissenen Pullover im Sand, der einem vielleicht zehnjährigen Kind gehörte. Junge oder Mädchen, wollte ich wissen, und suchte in meinem Reiseführer nach den Wörtern. Walad heißt Kind, steht da und in Klammer: Junge. Walad? fragte ich, walad? Sie nickte freudig und lebhaft und zeigte dazu einen Daumen. Ein Kind? Ein Junge? So kommen wir nicht weiter, wenn Kind und Junge dasselbe sind. Ich suchte wieder und fand bint, das heißt: Tochter, Mädchen. So versuchte ich es damit: bint? und zeigte auf uns beide: bint? Sie schüttelte den Kopf, und ihr Gesicht bekam einen traurigen, aber entschieden entschlossenen Ausdruck. Mit den beiden an die Wange gelegten Händen machte sie eine Geste, die Schlafen meinen konnte, dann nahm sie den Sand, auf dem wir saßen, in ihre Hände und tat, als bedeckte sie etwas damit. Dazu zeigte sie sehr ernst wieder einige Finger – wie krumm sie waren – und nickte betrübt mit dem Kopf.
Das war das erste Mal, daß ich von Kindern hörte, die gestorben waren. Es sind immer Mädchen gewesen.
Aber walad – der Junge, da wiesen ihre Arme nach oben, immer wieder und mit großer Lebhaftigkeit und freudigem Kopfnicken. Es mußte ihm wohl gut gehen. Im Augenblick war er gerade in der Schule. Und ich? Walad? Ich schüttelte den Kopf, bint, bint und ich glaubte ein mitfühlendes Bedauern in ihrem Gesicht zu sehen. Dann versuchte sie wieder, wie sie es schon mehrmals getan hatte, das Kraut, das sie in Zigarettenpapier wickelte, am Feuer anzuzünden und zu rauchen. Es zog nicht richtig, ging oft wieder aus, so versuchte sie es noch einmal. Als sie begann, dem Kamel, das wartend die ganze Zeit über neben dem Zelt gelegen hatte, seinen Sattel aufzubinden, stand ich auf und fing an, mich zu bedanken und zu verabschieden, es ging auf ein Uhr zu. Nur ein paar Schritte entfernt sah ich den Mann zwischen bunten Plastikschüsseln an eine Wasserstelle hocken, wie er die Wäsche wusch.
Ich weiß nicht, was ich nicht verstanden habe, aber ich bin sicher, daß da etwas war.Die Lehrerinnen wurden von ein paar kleinen Mädchen in ihren blauen Schulkleidern begleitet. Ich hatte vergeblich versucht, die Schule wiederzufinden, nachdem ich dreimal im Kreis gegangen war, habe ich es aufgegeben und bin zu der weithin sichtbaren Raststätte, wo für ausreichend Schatten gesorgt war, zurückgegangen. Die drei Frauen setzten sich an einen Tisch und bestellten, wie es ihre Gewohnheit war, Kaffee. Dann nahmen sie ihre Schulbücher heraus und begannen mit der Vorbereitung für den nächsten Tag, offensichtlich richteten sie sich auf eine längere Wartezeit ein. Die Englischlehrerin trug ein violettes zu ihrem Rock passendes Kopftuch, die Mathelehrerin ein weißes zu einem dunkelblauen Kleid und die Lehrerin, die Religion unterrichtete, ein schwarzes und dazu ein anthrazitfarbenes Gewand. Die Gesichter waren jung und fröhlich und sie lachten oft, daß sie Palästinenserinnen waren, erfuhr ich jetzt. Selbst in Jordanien geboren hatten sie Palästina noch nie gesehen, ihre Eltern lebten schon mehr als 40 Jahre in Aqaba, nachdem sie aus Jaffa geflohen waren. Zwei von ihnen waren Schwestern, bei ihrem Lachen habe ich das entdeckt, da hatten sie die größte Ähnlichkeit. Ja, dieses Warten jeden Tag, manchmal kamen sie erst um sieben Uhr abends nach Hause und dann war der Vater böse, aber sie konnten doch nichts dafür. Hoffentlich würden sie heute Glück haben. Warum ich allein reiste. Sie dürften das nicht, da müsse ein Bruder dabei sein, oder die Eltern, oder später der Mann. Und das sei gut so, sie würden sich nicht wohlfühlen allein. Letztes Jahr seien sie am Roten Meer gewesen – wunderbar, nicht wahr? –, die Nachbarn hätten sie nicht wiedererkannt, so braun seien sie zurückgekommen. Natürlich trugen sie zum Schwimmen einen Badeanzug.
Wieder lachten sie. Nein, selbstverständlich war das nicht, das wußten sie besser als ich. Ich bin erst zwei Wochen später in Syrien, im Wasser des Mittelmeers, den Frauen begegnet, die, ohne Kleid und Kopftuch abzulegen, darin standen und miteinander redeten, ohne auf die anderen, die sich neben ihnen auf einem Boot im Bikini sonnten oder die – wie ich – darin herumschwammen, zu achten. Nach und nach stieg eine aus dem Wasser, setzte sich zu der Gruppe am Strand und legte sich ein großes Handtuch um die nassen Kleider, andere wieder standen auf, um ins Wasser zu gehen und sich dort zu den Badenden zu stellen. Dieser Kreis löste sich erst mit der untergegangenen Sonne auf.
Zeit verging. Die Lehrerinnen zeigten ihre Lehrbücher, und wir fingen an, uns Wörter zu lehren. Wir tauschten arabische Worte gegen deutsche, gegen ein einfaches deutsches Wort gaben sie ein einfaches arabisches, gegen ein schweres wurde lachend ein noch schwereres genannt. Dabei immer aufmerksam die abfahrenden Autos beobachtend, ob eines dabei sei, dem man trauen könnte.
Um vier Uhr war es dann so weit, plötzlich mußte es schnell gehen, ein überstürzter Abschied, weg waren sie.
Wir hatten noch den Sonnenuntergang vor uns. Es wurde eine rasende Fahrt in einen bleichen Abend zu der Stelle, wo es heute – dieser Ort ändert sich laufend – am schönsten sein sollte. Aber den Himmel, den wir uns flammend vorgestellt hatten, gab es nicht. Die Sonne war eher ein Mond, der schnell und unaufdringlich verschwand. Die Musik im Jeep lief laut weiter, auch als er stand und wir herumgingen, uns entfernten, den Eindruck von Wüste und Einsamkeit suchend.
Dann die rasende Rückfahrt, die uns abwechselnd in die Luft und wieder auf die harten Sitze warf.
Warum dieses Tempo, warten oder rasen, ich verstehe es nicht.
Der Taxichauffeur – zuletzt hatte ich ihn im Schatten schlafen sehen – erwartete uns schon, auch er wollte jetzt schnell nach unten, und fragte, ob wir einen der Wüstenpolizisten mitnehmen wollten, der nach Hause mußte. Natürlich. Es war einer von denen, die wegen ihrer märchenhaften Uniform in jedem Reiseführer abgebildet sind.
Die Dunkelheit erreichte uns bald, da gab es nichts mehr zu sehen, ich lauschte den fremden Lauten, in denen ich mich immer mehr zuhause fühlte, die von vorne zu mir drangen. Das einzige, was ich verstand, war der Dank des Polizisten, als er ausstieg. Es war nicht mehr weit bis Aqaba. Der Fahrer nahm das Gespräch noch einmal auf: Ob ich mit ihm morgen nach Ma‘an fahren wollte – so kam es mir vor, er nannte einen Preis. Nein, sagte ich, danke, nach Ma‘an, da fahre ich mit dem Bus.
Zurück bei dem Ägypter gab es noch einen Tee, wir bezahlten, und ich bekam die Auskunft, wann ich mich am nächsten Tag einzufinden hatte.
Nun saß ich neben dem Fahrer in einem Minibus nach Ma‘an und wartete, daß dieser voll besetzt sein würde, denn eher fuhr er ja nicht los. Aber einmal auf dem Platz ließ man mich auch nicht mehr aussteigen, keiner tat es, und manche saßen schon länger auf ihren Plätzen als ich. Ein Apfel wurde mir von dem Jungen, der später kassieren kam, durch das Fenster hereingereicht und ein rosarotes Herzchen dazu, selbstklebend.
Ich breitete die Landkarte auf meinen Knien aus, die ich in einer Buchhandlung in Aqaba zwischen allem für mich Unlesbaren gefunden hatte, und übte beim Hinausschauen das Lesen der indischen Ziffern auf den Autokennzeichen, wo sie immer neben den arabischen Zahlen erschienen. Eine halbe Stunde, eine ganze war vergangen. Der Fahrer ist inzwischen ausgestiegen. – Wofür sitze ich eigentlich hier, auf diesem Ehrenplatz?
Plötzlich wird die Türe aufgerissen und ein anderer Fahrer, einer, der dem Bild, das ich in doppelter Ausführung seit einer Stunde vor Augen habe, sehr nahe kommt, springt herein, den Becher Tee, der noch fast voll ist, gibt er mir wortlos in die Hand und läßt sofort den Motor an. Der Junge, der mir den Apfel schenkte, winkt uns nach, als der Bus davonfährt. Der Fahrer legt eine Kassette ein und nimmt die Richtung nach Norden, ich trinke den Tee, da – an derselben Stelle wie gestern – ein LKW, der aus Saudi-Arabien kommt und die Vorfahrt mißachtet oder nicht bremsen kann. Der Fahrer weicht aus und bremst, was das Zeug hält, mir springt der Tee aus dem Becher. Er flucht.
Und ich höre die Worte, deren Klang ich gut kenne – wenn die Wespen sich im deutschen Spätsommer über unser Frühstück hermachen, sind sie dabei –, und die ich nicht verstehen soll.
Dann sagt er: No problem, don`t worry, und greift nach einem Kleenex aus der Schachtel, die über dem Rückspiegel angebracht ist, und ich trockne mir den Tee von der Hose.
Zwei pinkfarbene Plastikhände mit gespreizten Fingern und schwarz bemalten Fingerspitzen sind vor mir mit Spiralen auf dem Armaturenbrett befestigt und wackeln mit den Erschütterungen des Busses hin und her, bleiben dabei aber auch in den Kurven senkrecht stehen. Die beiden Daumen weisen in die gleiche Richtung. Auf die Handrücken sind mit schwarzem Stift die Umrisse von zwei Herzen gemalt.
Manchmal schaut der Fahrer zu mir herüber. Als ich es mit Englisch versuche, schüttelt er entschieden abwehrend den Kopf. So lasse ich es bleiben und wir sprechen – auch das ist mir vertraut – kein Wort bis Ma‘an.© H. Tarnowski
Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de