10.11.2017 – Madaba

10.11.2017

Jordanien 1993

Madaba

Wo aber liegt Palästina?

In Madaba liegt die älteste Landkarte Palästinas in der Gestalt eines Mosaiks aus dem 6. Jahrhundert auf dem Boden einer griechisch-orthodoxen Kirche.

Die liegt dort schon lange, aber ich kam erst am späten Nachmittag. Bin aus Amman herausgefahren, obwohl es schon drei Uhr war, weil mich plötzlich die Sehnsucht packte und ich Palästina sehen wollte. Irgendetwas davon, ein wenig Licht oder auch nur einen Schatten von dort, wo ich meinen Freund wusste und nicht anrufen konnte. Ich wollte die Karte holen, ein Bild von ihr für ihn, es wäre das Erste, was ich ihm mitbringen würde. Leicht genug, um es drei Wochen im Gepäck zu haben.
Es ist nicht weit von Amman bis Madaba, knapp 30 Kilometer, das schaffe ich noch heute hin und zurück. Den Bus finden, mich hineinsetzen und warten, bis er voll ist – das alles dauerte seine Zeit. Dann brauchte der Bus lange, denn er hielt bei jedem, der draußen winkte, das konnte alle 100 Meter sein, und für jeden, der von innen mit einer Münze an die Scheibe klopfte, wenn er aussteigen wollte. Jederzeit und überall. Nach einer guten Stunde erreichten wir Madaba, ich stieg aus, merkte mir die Stelle, um sie zum Zurückfahren wiederzuerkennen, und ging los.
Die Kirche des Heiligen Georg war schnell gefunden. Wie überall tötet der auch hier seinen Drachen. Hinter ihm – wie überall – die Frau, die das Tier mit einem feinen Schnürchen in ihren zarten Händen führt. Ich bekam meine Karte vom Toten Meer und vom Jordan, in dem sich die Fische tummeln und Boote schwimmen. Mit ein bißchen Liebe sind Jericho, Bethlehem und Jerusalem zu erkennen. Ich hörte die Erklärungen eines Führers für eine deutsche Reisegruppe, die dann in ihren Bus stieg und verschwand. Mir gefiel die Stadt, ich ging die Hauptstraße hinunter, trank einen Kaffee – ohne dafür den Familienraum im ersten Stock aufzusuchen, um diese Zeit war ich sowieso die Einzige hier –, kehrte dann um und machte einen großen Bogen nach Westen, soweit es möglich war, um das Tote Meer zu sehen, über dem gleich die Sonne untergehen würde. Doch der Dunst gab mir den Blick nicht frei. Moses soll dort zum ersten und zum letzten Mal das Gelobte Land erblickt haben. Ich konnte überhaupt nichts sehen und mußte den Versuch aufgeben, wandte mich ab und wieder der Stadt zu. Einmal rief der Muezzin, unerwartet hörte ich verschiedene Kirchenglocken. Auch der in den Läden offen ausgestellte Alkohol überraschte mich.
Es war dunkel geworden, in der Häusern gingen die Lichter an, die Menschen trafen sich auf den Straßen. Von den Mädchen und den Kindern begrüßt schlenderte ich auf Umwegen zurück in Richtung der Bushaltestelle. Fast bin ich schon dort, als mich ein älterer, sehr gepflegt gekleideter Herr anspricht: „Can l help you?“
Warum denn? Ich schüttle den Kopf, danke, es ist nicht nötig, ich weiß meinen Weg.
Wohin ich denn wollte, ob ich alleine sei oder meine Gruppe verloren hätte.
Eine, die hier alleine kommt, hat immer etwas verloren.
Aber nein, ich hätte keine Gruppe, ich ginge zur Haltestelle, um nach Amman zurückzufahren.
Jetzt? Es gebe keinen Bus mehr, nein, schon gar nicht an der Haltestelle, die ich ansteuere.
Ich glaubte es immer noch nicht, so nah bei Amman?
Nun, ich könne nachsehen, er werde mich begleiten. Wenn es überhaupt noch einen Bus gäbe, dann führe der von der Central Busstation ab, aber die läge weit außerhalb des Ortes, der nicht einmal ein Hotel habe.
Wir kamen bald an die Haltestelle, da war niemand und gar nichts, nur ein Auto, das gehörte dem Schwiegersohn des alten Herrn, der gerade mit seinen Kindern noch etwas Vergessenes einkaufen ging. Mein Begleiter erklärte ihm die Lage, sofort schickte der Jüngere seine Kinder nach Hause und bat mich, in sein Auto zu steigen, um mit mir zur Central Busstation zu fahren und zu sehen, ob ich von dort noch fortkommen konnte. Tatsächlich, dort stand noch ein Bus, der fuhr nach Amman, so erfragten es die Männer, nun durfte ich hier aussteigen und mußte sofort dort einsteigen, erst als ich meinen Platz eingenommen hatte, setzten sie sich wieder in das Auto und wendeten. Ich winkte. Sie winkten auch.
Inzwischen war es wirklich schon ganz dunkel.

Die Karte von Palästina halte ich fest, aber vorsichtig in meinen Händen.
Do you need help –

ihr könnt mit dem Fremden nicht umgehen

Was hat er gesehen. Wen hat er gesehen, als er mich sah.
Eine Frau, die allein ihrer Wege ging.
Dass es hinter ihr dunkel wurde und neben ihr niemand war.
Und vor ihr: kein Weg. Aber das sieht nur er.
Sie sieht es nicht.
Sie sieht einen Mann, der zu anderen gehört. Wo er herkommt, ist es hell, er tritt aus dem warmen Licht eines Wohnhauses, aus dem Stimmen zu hören sind, und er geht in das kühle Neonlicht eines kleinen Geschäftes, kennt jeden und wird von jedem gekannt, immer ist einer da, zu dem er oder der zu ihm gehört.
Für die Dauer der Fahrt bis zur Busstation wurde ich in die Gemeinschaft aufgenommen und dort in eine andere entlassen. Nein, allein sollte ich nicht sein, schon gar nicht in der Nacht. Sie lassen dein Alleinsein augenblicklich in ihrem Aufgenommensein verschwinden.

Und nach Amman zurück kam ich wieder in der Nacht.
Wie beim ersten Mal.

Can I help you?
Ja, nein. Vielleicht.
Wenn ich weiß, was ich jetzt noch nicht weiß.

Wie so oft war mir die Frage auch da zu früh gestellt. Mit nichts als einem sehr groben Stadtplan auf den Knien war jedes Aussteigen ein Ausgesetztwerden und Nicht-weiter-Wissen – wo ich doch gerade mit meinen Nachbarn rechts und links und manchmal auch noch eine Reihe hinter mir ein bißchen vertraut geworden war. Auch wenn es exakt das Fahrziel war, das ich angegeben hatte, nannte ich es noch einmal fragend dem Fahrer – manchmal nur, um das Aussprechen des neuen Namens zu üben und das Verstandenwerden zu prüfen –, es waren immer mehrere Wiederholungen nötig, bis der Fahrer bestätigend nickte.
Meine Frage muss ihn verwirrt haben. Natürlich waren wir an dem Ziel, das ich vor dem Einsteigen genannt hatte. Warum glaubte ich das nicht? Ich griff nach meinem Rucksack und stieg aus.

Aus der Karte gefallen. Ein neuer Ort, mit nichts weiter ausgestattet als mit einem Namen, dessen Gesicht ich erst finden mußte.

Bei Tag.
Ich versuchte immer, vor Einbruch der Dunkelheit an mein Ziel zu kommen, soweit ich es kannte. Sonst blieb ich dort, wo die Nacht mich erreichte.
Vielleicht ist ja alles eine Frage der Zeit. Der Zeit und der Sonne.
Kein Unterschied zwischen heute und morgen und übermorgen. Die Sonne wird wieder dasein. Bald glaubte ich es auch.

Meine Zeit im Winter ist der Schatten des Rauches, der aus dem Kamin unseres Hauses steigt. Er wandert über das Dach des Nachbarn. Wenn er es wieder verlässt, ist es Mittag.
Undenkbar hier.

Meine Zeitmessung, sie hat hier keine Gültigkeit.
Wenn ich sage: die Frösche sind jetzt so groß – und dabei einen Abstand von drei Zentimetern zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand halte, dann bleibt sein Blick leer. Auch dann, wenn ich berichte, dass ich die Äcker wieder überqueren kann. Natürlich kann er nicht wissen, dass dies, wie auch die Schüsse aus dem Wald, bedeutet, dass ich bald nicht mehr fortgehen werde.
Mein Körper ist voll von diesen Zeiteinheiten, hat viele Sonnenuhren. Er weiß genau, wo die Zeit ist für Wärme und Kälte. Die Grenzen des Lichtes. Schon die Nähe des Schattens ist kühl. Erst sucht er ihn, dann flieht er ihn wieder. So geht es den ganzen Tag, wenn es Sommer ist und nicht regnet.
Mein Mai heißt Duft des Flieders und mein Juni Duft des Holunders oder der Linden, der Akazien und des Jasmins.
Jasmin, ja, er liebt ihn, sucht ihn überall – aber mit Juni hat er für ihn nichts zu tun.

Viereinhalb Stunden in der Luft und keine Zeit verbindet uns noch.
Wir werden es nachholen – sagt er, und meint damit etwas, das für mich unwiederbringlich verloren ist, wenn es jetzt nicht geschieht. Auf meine Frage „Wann, wenn nicht jetzt? “ bekomme ich keine Antwort, nur den Blick, der mir sagt: das fragt man nicht.
So wäre die Frage schon falsch gestellt.
Ich wusste nicht, ob Zeit verging, als ich in Madaba auf dem Bordstein saß, die Karte auf den Knien, die ich hervorgeholt hatte, damit sie mir das Recht dazu gab, an dieser Stelle zu verweilen. Ich wusste noch nicht, wo mich heute die Dunkelheit einholen und ich mich bei Nacht finden würde. Keine Dämmerung wird mich vorbereiten, irgendwo wird das Licht ausgehen. Das geschieht hier so schnell. Es gibt keine Stunde zwischen Hund und Wolf, die diesen Namen verdiente, weil es immer nur kaum bemerkte Minuten sind, vorbei – ehe man sich versieht. Und es ist Nacht.
Nicht Abend, Nacht.

 - das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es von hinten irgendwo wieder offen ist.

Auf meiner Suche nach Palästina wollte ich nach Karak, und von dort aus noch ein Stück nach Westen. Wieder ein Versuch, das Tote Meer von dieser Seite zu sehen und vielleicht einen Dunst von Palästina zu erhaschen. Es ist ja gar nicht weit: nur eine deutsche Autostunde oder drei nahöstliche Wochen.

Es war zwei Uhr nachmittags, genügend Zeit, um noch am Tage nach Karak zu kommen, der Bus braucht dazu eine Stunde.
Morgen war Freitag. Also war dies ein Samstagnachmittag und ich saß vor der Busstation von Ma‘an. Da hatte ich mich hingesetzt, als ich hörte, dass es heute keinen Bus mehr nach Karak gäbe, eben weil morgen Freitag war.

Zuerst habe ich es ja gar nicht geglaubt. Kein Bus? Das wäre das erste Mal.
Immer gab es Busse, überall, das Busnetz ist hier ungefähr das Sicherste, in das man fallen kann.
Zurück gehe ich nicht, grundsätzlich. Nicht mit den Füßen, dem Taxi oder dem Bus. Auch wenn der nächste Ort, wo ich vor Einbruch der Dunkelheit ein Hotel finden könnte, nur einen Kilometer zurückliegt. Da blieb ich lieber hier sitzen und wartete, bis ich sah, wie es nach vorne weiterging.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass unter den vielen Leuten, die hier wartend herumstanden, keiner sein sollte, der auch nach Karak wollte. Immer war jemand da, der ein Stück Wegs mit mir ging oder fuhr. Ich mußte ihn nur noch finden. Also hatte ich mich erst einmal hier hingesetzt und meine Karte herausgeholt.

Der Alte? War er es? Er wartete auch. Aufrecht, langsam und gemessen ging er auf und ab, der schwere lange Rock schwang würdig um seine Beine. Seine an den Ärmeln schon leicht ausgefranste Jacke und ein Rock bildeten den Anzug, den die älteren Männer hier noch häufig tragen und der ihnen diese besondere Würde verleiht. Der Alte kam näher, warf einen neugierigen Blick auf die Karte und mich, jetzt sah ich seine verschmitzten, lebendigen, freundlichen Augen. Er kam so nahe, als wollte er mich ansprechen, etwas fragen – sollte er es doch tun! Aber dann entfernte er sich wieder. Schade.

Ich war sicher, dass sich die Busfahrer, an die ich mich gewandt hatte und die mir erklärt hatten, warum es heute keinen Bus mehr nach Karak gab, darüber Gedanken machten, wie sie mir weiterhelfen könnten. Zwar redeten sie miteinander, als wäre ich gar nicht da, aber ich spürte: das täuscht. Und es kam, wie ich es erwartet hatte: Nach einer Weile, die uns dem Abend schon wieder ein Stück näher gebracht hatte, wandten sich die Busfahrer mir zu und derjenige von beiden, der mein Englisch verstanden hatte, begann, mir zu erklären, dass es vielleicht – vielleicht, wiederholte er – noch eine Möglichkeit gebe, nach Karak zu kommen: Ich solle dem Fahrer, der nach Amman fuhr, sagen, er möge bei Al-Qatrana halten, dort könnte ich versuchen, von einem Auto mitgenommen zu werden. Wenn es dann nicht schon zu spät dafür wäre, bei Dunkelheit wollte ich das nicht. Ob man in diesem Fall in Al-Qatrana übernachten könne? Er machte ein bedenkliches Gesicht und sagte dann, den Kopf mehrmals von der einen Seite zur anderen neigend: ja, aber sicher sei es dort nicht.
Nicht sicher.
Soviel war sicher: ich mußte den Bus nach Amman nehmen, wenn ich hier fortkommen wollte. Dann würde ich sehen, wo es dunkel wurde.

Jedenfalls war ich hier nicht allein. Und solange ich so viele Menschen um mich hatte, konnte auch ich sicher sein, dass ich nicht verloren war.
Familien waren es, Männer mit ihren Frauen und Kindern und einigem Gepäck. Ein Vater mit einem jungen Mädchen. Alle schöner und frischer gekleidet als an anderen Tagen. Man sah ihnen den bevorstehenden Sonntag an.

Ein Bus fuhr vor, ich wollte aufspringen, der Fahrer von vorhin sah das, schüttelte den Kopf und sagte nur: Aqaba! Das wäre rückwärts, also blieb ich sitzen, wollte ich ja nicht. Der Bus war schnell voll, der Vater hat seine Tochter hineingesetzt, er selbst blieb draußen, bis der Bus abgefahren war, dann drehte er sich um und ging in Richtung Ma‘an zurück. Als der Bus weg war, hatte er alle Familien mitgenommen, und es blieben nur noch Männer. Anzüge, Bügelfalten, Krawatten. Ab und zu hielt ein Taxi und noch einer mit Anzug und Krawatte stieg aus. Dann hörte auch das auf. Die Frauen, die Familien waren schon unterwegs dorthin, wo sie morgen – am Freitag, dem Sonntag – sein wollten.

Und ich saß immer noch da mit meiner Karte auf den Knien: Ma‘an – Karak –
Amman. Mittlerweile waren die Straßen immer ruhiger geworden, es verkehrten kaum noch Autos – inzwischen war es drei Uhr – und ich war entschlossen, den nächsten Bus nach Amman zu nehmen, wenn es denn überhaupt noch einen gab.

Ein leiser Zweifel hatte sich bei mir eingeschlichen – aber wo sollten die Männer hier alle sonst heute hin?
Natürlich kam ein Bus, natürlich machte mich mein Berater darauf aufmerksam, schärfte mir noch einmal ein: Al-Qatrana! Ich sagte es dem Fahrer, mehrmals, bis der nickte, dann stieg ich ein. Der Alte saß schon an einem Fenster, der Platz neben ihm war frei. Natürlich war dies mein Platz. Ein leichtes Verneigen des Kopfes und eine einladende Handbewegung des Alten forderten mich auf, ihn einzunehmen. Ein guter Platz für die einzige Frau in diesem Bus. Wahrscheinlich habe ich da schon gewußt, dass ich bis Amman sitzenbleiben würde.
Doch zunächst holte ich wieder meine Karte hervor, um die Stationen zu verfolgen. Jetzt fing der Alte an zu sprechen. Er zeigte auf die Orte, nannte ihre Namen und nickte. Lächelnd. Ich wiederholte, nickte auch. So ging es von einem Ort zum nächsten. Dann bat er mich, die Karte selbst in die Hand nehmen zu dürfen, und faltete sie auf: Zufrieden überblickte er nun das ganze Jordanien, dann legte er sie sorgfältig und dabei wieder nickend zusammen und gab sie mir mit einem Dank zurück.
Welcome in Jordan!
Eine Station nach der anderen ließen wir hinter uns, heiß war es in dem Bus, die Sonne traf mich voll von der Seite, bald würde sie den Horizont erreichen und dann war der Tag gleich vorbei. Ich war entschlossen: wenn sie unterging, bevor wir die Kreuzung nach Karak erreichten, würde ich dort nicht mehr aussteigen.
Die Kreuzung kam, als die Sonne noch da war, vielleicht noch für eine Viertelstunde, der Bus verringerte sein Tempo und der Fahrer rief nach hinten: Al-Qatrana! Und noch einmal, die Männer gaben seinen Ruf fragend an mich weiter: Al-Qatrana?! Mein Nachbar antwortet: la! la! nein, und ich schüttelte den Kopf, sagte: No. lt’s too late. Die Männer nickten zustimmend, und der Alte rief jetzt laut, streng und gebietend: Amman!
So fuhren wir weiter, ohne anzuhalten.

Die Fragen des Alten waren ungeübt englisch gestellt und kosteten ihn ein bißchen Überwindung: wie lange – how many days – ich schon in Jordanien sei und wie mir Jordanien gefiele. Meine Antworten fielen ebenso vorsichtig aus wie seine Fragen. Dazwischen Nicken, Schweigen, Nachdenken. Sollte ich mehr erzählen, auch ohne dass er mich danach fragte? Wer ich war, wo ich herkam, wieviele Kinder ich hatte, wo sich mein Mann aufhielt, damit er verstand, warum ich hier alleine war. Ihn nach seinen Kindern fragen, was er in Amman machen würde, morgen, wo er lebte und wie.
Wo kam er her – aus Akka? aus Haifa? oder aus Jaffa, wo die meisten Palästinenser herkamen, die ich in Jordanien getroffen habe. Ich habe fast nur Palästinenser getroffen.
lrgendetwas hielt mich davon ab, diese Fragen zu stellen. Als wir schließlich in Amman ankamen, war es schon lange stockfinster, und die Stadt hatte kein Gesicht. Das Aussteigen hatte uns getrennt, aber ich spürte, dass der Alte nach mir schaute wie ich nach ihm. Ich ging auf ihn zu. „Where are you going?“ fragte er besorgt, und ich beschrieb ihm mein Ziel und wie ich es erreichen würde, und er sagte: “l am going to my family.“ – wie konnte es anders sein.
„Greetings to your family“, sagte ich dann und wünschte mir, dass er sich freute, und er: „Thank you.“ – Bye.
Der Gedanke an den Alten hat mich lange nicht losgelassen. Das Gefühl, etwas schuldig geblieben zu sein. Bis ich wusste, was ich versäumt hatte. Ich habe als Gast die Pflicht zu erzählen. Woher ich komme, wohin ich gehe, auch ungefragt.

Das Tote Meer blieb ungesehen links liegen. Palästina auch.
Kein Nachleuchten am westlichen Himmel. Wenn dieser hier in solchen Flammen steht, wie er es nach einem Tag wie diesem bei uns tut, dann heißt das Krieg.

Es war das erste Mal, dass ich eine Stadt in der Nacht erreichte. Amman.
Es mußten Zypressen sein, die mir den Atem verschlugen. Auch nachts, wenn die Sonne sie nicht mehr treibt und nur noch die Zikaden sie beleben.
Weil es schon spät war, konnte ich nur noch zur nächsten Straße gehen, wo ich Obst und Gemüse gesehen hatte. Sonst würde ich nichts mehr zu essen finden. Hier verkaufte man das Obst in Kästen mit nicht weniger als 10 Pfund. Da wusste ich, dass ich fünf Kilo Trauben lang in Amman bleiben würde.
Das Licht, das das Römische Theater in Amman bei Einbruch der Dunkelheit wärmt, nahm mich mit der einladenden Armbewegung des Wächters mit hinein. Ob ich eintreten wolle, das Theater war schon geschlossen, aber er hat es für eine italienische Gruppe, die danach mit lauten Stimmen verlangte, noch einmal aufgemacht und mich draußen stehen sehen. Sofort die Aufforderung: Come in, drink tea.
Sie lassen dich nicht draußen stehen.
Das können sie gar nicht.

ihr könnt mit dem Fremden nicht umgehen

Der Tee am Abend im Römischen Theater. Am letzten Abend.

Die beiden – der Wächter und ein Führer, der den Fremden Jordanien zeigte und sich King of Petra nannte – nahmen mich in ihre Mitte und wir tranken den Tee, den der dickere von den beiden immer sofort wieder aus seiner Klause holte, wenn der Boden meines Gläschens sichtbar wurde. Schon war ich zur Übernachtung im Römischen Theater eingeladen, die beiden schliefen hier unter der Arena. Sie kamen aus Ramallah und aus Jerusalem, die Augen des Königs leuchteten, als er hörte, dass ich übermorgen dorthin gehen würde, und seine Lachfalten wurden lebendig. Schmal war er und gar nicht groß, ein sehr kleiner König. Nach seiner Familie fragte ich, er habe keine, antwortete er, er lebe alleine. Warum? Nun, er habe sein Haus verloren und sein Land – wie hätte er sich da eine Frau nehmen sollen? Der andere dagegen, der sei reich, er habe zwei Frauen, sagte er und lachte dabei spitzbübisch wie ein Junge. 50 Jahre alt waren die beiden und sahen aus wie 60. Seit 1967 lebten sie in Amman. Ob sie ihre Familien besuchten in Jerusalem und der Westbank. Nein, sie schüttelten die Köpfe, zu traurig sei es und es gebe drüben kaum mehr jemanden aus ihrer Familie.
Der eine zeigte den Fremden Jordanien und der andere das Römische Theater. Er, der Reiche – suchte wieder eine Frau. Nachdem ihm die zweite gestorben war, hatte er nur noch eine und das war nicht genug, denn er sei stark, strong, sagte er und zeigte dies sofort, indem er seinen dicken Bauch vorstreckte und die Arme ausbreitete. Auch ein Angebot, das ich mit einem Hinweis auf meinen wartenden Mann ablehnte. So schloß er mir zum Fortgehen das Römische Theater auf und hinter mir wieder zu. Dem anderen, schmächtigen habe ich versprechen müssen, mir im nächsten Jahr, wenn ich wieder nach Amman komme, von ihm Jordanien zeigen zu lassen. Dann würde ich es erst wirklich sehen, denn keiner kenne Jordanien besser als er.

Draußen entschied ich mich für das nächste Restaurant, der süße Tee machte nicht satt und ich wollte noch ein letztes Mal von allem kosten, was ich hier so sehr genossen hatte. Suchte den Familienraum auf, inzwischen hatte ich gelernt, diesen zu finden: am Ende der unteren Etage befand sich fast immer eine Treppe, die hinaufführte, wo die Familien aßen. Gab es keine Treppe, dann war irgendwo ein Vorhang, den ich beiseite schieben mußte, um da zu sei, wo ich hingehörte. Es war selbstverständlich, dass ich als Frau allein meinen Platz zwischen den Familien hatte und nicht unter den Männern. Als wäre deren Gegenwart etwas Störendes für eine Frau. Auch mir war dies inzwischen selbstverständlich geworden, und ich fühlte mich dort wohl, wo mir die Frauen ihre Kinder stolz über den Tisch reichten, das Baby nach dem Stillen von der Brust nahmen und mir vorstellten. Der Vater – Abu Samir – saß stolz daneben. An diesem letzten Abend öffnete eine Familie aus Hebron ihren Tisch in meine Richtung, und der Familienvater stellte mir sich und seine Familie vor: seine Frau und seine Schwester und seine beiden kleinen Söhne. Die Mutter lächelte stolz dazu, sie sprach nicht englisch so wie er. Sie kamen oft nach Amman, es war ihre Gewohnheit und kein Problem. Sie selbst lebten im Westjordanland und waren bei seiner Schwester in Amman zu Besuch. Ich erzählte, dass ich morgen hinübergehen würde, das freute sie, sie blieben noch einen Tag länger.
Die kleinen Jungen standen staunend vor mir, weil ich es gewagt hatte, eine kleine wilde Katze unter dem Tisch zu fangen und auf meinen Schoß zu nehmen. Das tat man hier nicht und zu recht. Ich werde es auch nicht mehr tun, ich habe einmal wieder meine Kratzer davongetragen.
Dann ging ich nach Hause, trat noch in dieses oder jenes Geschäft, manchmal kaufte ich etwas, oft nichts. Betrachtete die langen Mäntel in den Modegeschäften, die vielen verschiedenen feinen Nuancen, die geschmacksoll zu den Mänteln abgestimmten Kopftücher der Schaufensterpuppen. Die Friseure sind noch immer fleißig: hinter jedem Stuhl, auf dem einem Mann die Haare geschnitten werden, sitzt schon der nächste und wartet darauf, dass ihm die Haare geschnitten oder der Bart rasiert würde. Ich sah überall nur Männer und Jungen, auch ganz kleine.
Mit einigen Geschenken, die ich als Mitbringsel gefunden habe, kehre ich wieder in mein Hotel zurück. Nehme noch einmal meinen Führer zur Hand, nachdem ich den Abschnitt über die „Ausreise nach Israel“ dreimal gelesen habe, hat mir das Buch nichts mehr zu sagen. Fast möchte ich mich bei ihm entschuldigen und auch zu ihm sagen: nächstes Jahr.

Der nächste Morgen erwartet mich noch mit einer Aufgabe: ich muss mein Permit abholen. Als ich früh am Morgen auf die Straße trete, sehe ich auch nach längerer Beobachtung nur vollbesetzte Taxis und Schlangen an den Bürgersteigen. So entschließe ich mich, einem Wagen aus der Gegenrichtung zu winken, der leer zurückfährt, denn schließlich will ich nicht schon hier Zeit verlieren, die ich nachher vielleicht brauche – fängt das wieder an? Der Fahrer ist Palästinenser, seit 48 in Jordanien, sein Vater lebt noch in Nablus. Ich frage ihn, ob er ihn inzwischen besucht habe. Das muss dumm, sehr dumm, gewesen sein, das zeigt mir seine schnelle Kopfbewegung zur Seite, begleitet von einem Schnalzen mit der Zunge: Wie kannst du so etwas fragen! Hast du gar keine Ahnung?
Er versteht kaum englisch, was sich herausstellt, als er mich schon am Ziel – was wir beide nicht wissen – noch einmal fragt, wohin ich wolle. The Ministery of Interior – wohin denn sonst? Die zum Übersetzen Herbeigerufenen verstehen mich auch nicht, einer glaubt zu wissen, was ich will, steigt selbst mit ein, und es geht rückwärts. Das stimmt nun wirklich nicht, soviel weiß ich selber, wir waren dem Ziel schon viel näher. Wenn ich mich nur verständlich machen könnte! Jetzt wollen sie mich zur Deutschen Botschaft bringen – was soll ich da, die kenne ich schon, schließlich wollte ich einmal nach Bayrut. „No arabic?l Only English, German! Hitler good, Hitler!“ sagt er mit einem bösen Ton, dann fährt das Taxi an der Syrischen Botschaft vorbei – oh nein, da stand ich, als die Welt verrammelt war – wir müssen zurück. Endlich findet sich einer, der übersetzen kann und das Wort für meinen Fahrer hat. Zurück, dorthin, wo wir hergekommen sind, ganz genau an der Stelle haben wir gefragt. Ich hätte nur auszusteigen brauchen, nicht fragen. Wie heißt Ministery of Interior auf arabisch.
Es ist alles eine Frage der Sprache. Eine alltägliche Verwirrung. Ich habe nichts erkannt. Ich erzähle wieder einmal, warum ich hier bin, und was ich in dem Ministerium will: die Erlaubnis für Jerusalem.
Die Uhr zählt schon lange nicht mehr. lch solle bezahlen, was ich will, sagt er, ich nehme 10 JD, der Fahrer schaut verwirrt, bedankt sich – sieht beschämt aus.
Erst als ich mein Permit in der Hand halte, verstehe ich seine Scham: ich habe – wieder einmal – vergessen, dass es bei den Jordanischen Dinars nach dem Komma drei Stellen gibt.
Ein Fehler, vor dem jeder deutsche Reiseführer warnt.

Ich habe das Permit, die Grenze ist offen.
Das Permit mit beiden Händen festhaltend – umso fester, als ich es nicht lesen kann – setze ich mich auf ein Stückchen Grün am Rand der King-Hussein-Street, die in die Stadt zurückführt. Die Taxen stehen still. Am Straßenrand habe die Fahrer ihre Teppiche ausgelegt und beten. Nur einer, der übernächste, sitzt am Steuer seines weißen Mercedes und wartet, wie ich, dass es weitergeht.
Mir wird das Warten plötzlich unerträglich. Hier: eine Stunde, dort: zehn Minuten, dann: eine Viertelstunde. Und ich denke dabei: eigentlich wollte ich jetzt dieses oder jenes tun, im Café sitzen, schreiben, einkaufen. Das alles kann ich nun nicht tun, weil ich warten muß. Dabei war Warten doch immer eine gute Zeit.
Nicht länger hier.

Ihr könnt mit dem Fremden nicht umgehen – sagst Du.

Aber vielleicht ist es ja auch so, dass ihr den Anblick eines Menschen, der allein da draußen steht, deshalb nicht ertragen könnt, weil ihr selbst, für die es das gar nicht gibt, Angst davor habt, allein draußen zu stehen.
Zusammenrücken, als ob draußen Drachen wären.
Selbst die Vögel kommen so nah, dass sie mich streifen könnten.

Deine Tante.
Sie sitzt im Nachthemd auf einem Sofa vor den Betten der Nichten und Neffen. Die Mädchen lachen viel, die Männer auch, die Tante ist immer gut, um mit ihre Scherze zu machen. Lachen, immer wieder Lachen, den Grund kann ich nicht wissen, wir haben keine gemeinsame Sprache. Ich stehe im Türrahmen, jedoch nur einen kurzen Augenblick, dann klopft die Tante mit der flachen Hand dreimal kurz auf den leeren Platz neben sich: ich bin gemeint, dorthin soll ich mich setzen, nicht so dastehen, allein, in der Tür. Ich setze mich. Nun erklären mir die Mädchen – wir sprechen englisch miteinander –, dass sie sich gerade ausgemalt haben, wie die Tante mit mir nach Deutschland fliegt. Immer wenn sie lachen wollen, beginnen sie dieses Spiel, sich die Tante mit mir auf dem Weg nach Deutschland vorzustellen.
Die Tante möchte mir ein Geschenk mitgeben und läßt mich zwischen einem fein verzierten Bilderrahmen und einem Schlüsselanhänger mit dem Heiligen Georg wählen.
Ich wähle natürlich den Drachen.

Mit der Landkarte konntest Du nicht viel anfangen. Ich glaube, Du hast gar nicht gemerkt, dass sie ein Geschenk für Dich sein sollte. Es war das Geschenk, das ich am längsten mit mir herumgetragen habe. So hat die Karte doch ein paar Knitter abbekommen. Ich habe sie über meinen Schreibtisch gehängt und begonnen, das Wenige und kaum Erkennbare zu entziffern.

Das Interesse ist ebenso tief wie die Gleichgültigkeit.
Die Fürsorge wie das Vergessen.

© H. Tarnowski


Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de