13.-24.11.2017 – wo sind die Vögel?

13.11.2017

Der lebenslange Ornithologe nickt ernst, als ich ihn ängstlich frage, ob das wahr ist, was ich spüre, dass man gerade hier so wenige Vögel hört und sieht. Wir gehen an der Bank vorbei, die ich mir am Zaun zwischen meinem Wald und dem Wald draußen vor etwa zehn Jahren gebaut habe, um jeden Abend im Frühjahr dort zu sitzen und mitten im Jubel zu sein. Es war eine Andacht.
Der Jubel wurde weniger, ich bin immer seltener hingegangen, hatte den Sinn der Bank fast vergessen. In diesem Jahr habe ich es noch einmal versucht, weil ich mich nicht abfinden wollte mit der Enttäuschung, wenn ich so wenig höre, so sehr ich mich auch anstrenge. „Die Ohren zu spitzen“ – es hilft nichts. Ich werde lauschen müssen wie am späten Abend, wenn die letzten Stimmen verstummen.

Der es wissen muss, setzt die Prozente der verschwundenen Vögel noch herauf.
Halb voll oder halb leer – das ist schon lange vorbei. Diese Wahl haben wir nicht mehr.
Er sagt, ich soll ein Futterhaus aufstellen und Nistkästen anbringen. Wirklich?
Er sucht die am besten geeigneten Plätze dafür aus. Also wirklich.

14.11.2017

du gehst weiter
wo die Welt vor dir zu Ende ist
und wenn du dich umschaust
ist der Weg
den du gegangen bist
nicht mehr da

Ich laufe durch den ersten dichten Nebel und wundere mich mal wieder über mein Vertrauen, dass es weitergeht. Er ist wieder fort.
Ich brauche drei Tage, um mich wieder zurechtzufinden mit allem, was ich gelernt habe.
Auch mit dem Wieder-allein-Sein.
Traurigkeit ist dabei. Muss so sein. Sonst wäre es ja nicht gut gewesen.
Natürlich wird mir meine Lebensweise besonders bewusst, wenn ich mich neben einem mit einer 17-köpfigen Kernfamilie sehe.

Wo ist mein Leben so intensiv, wie es mit Menschen sein kann? Nur mit Menschen? Das möchte ich nicht glauben.

Vielleicht mache ich darum soviel Theater um die kleinen Dinge, weil es keine großen gibt. Das war so ein Nachtgedanke, als ich mal wieder nicht einschlafen konnte. Kam mir glaubhaft vor. Also?!
Ich laufe wieder durch meine Tage und falle in die Gruben, die ich mir gegraben habe. Brauche Tage, um sie wieder zuzuschaufeln: dreimal meinem Badeanzug hinterher, beim vierten Mal mit Erfolg. Laufe oft stundenlang suchend herum.
Bestelle neue Passwörter, bevor ich auf die Liste schaue, wo alle draufstehen. Passwort? – Hab ich nicht. Nie gehabt.
Meine geschliffene Sonnenbrille ist schon lange weg, der große silberne Ring aus Timbuktu noch länger. Habe die Suche aufgegeben.
IPad: mein Code war für mich so selbstverständlich, dass ich ihn nicht aufgeschrieben habe. Nicht nur vergesslich – auch noch leichtsinnig. Das geht zu weit. Als ich ihn zum Entsperren eingebe, ist er falsch. Und nochmal falsch und nochmal falsch. Für das Zurücksetzen der Deaktivierung brauche ich Hilfe. Die hilft nicht. Mit dem home button (bin stolz auf den Neuerwerb dieses Wortes, drum muss es hier rein) stimmt was nicht, apple care gibt auf. Das iPad muss zurück. Gut, dass ich es durch meinen Fehler gemerkt habe, denke ich mir. Also: halb voll.

Aber die Löcher machen mir Angst. Und Angst vor der Angst.

Neu ist: Ich fürchte den Winter. Die notwendigen Anstrengungen. Mache das Nötige im letzten Moment. Wie die Matten auslegen gegen Ausrutschen auf frostglattem Holz. Als könnte doch noch alles ausfallen, was zum Winter gehört.
Ich mach’s mit dem Winter wie die Welt mit dem Klimawandel: vielleicht kommt er ja doch nicht. Ja, so leben wir. Gegen besseres Wissen.
Als die Matten liegen, mache ich einen Termin für den Radwechsel aus.

Radwechsel? Brecht?

        Ich sitze am Straßenhang.
        Der Fahrer wechselt das Rad.
        Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
        Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
        Warum sehe ich den Radwechsel
        mit Ungeduld?

Warum Ungeduld.

15.11.2017

Heute gehe ich Nistkästen und ein Futterhaus kaufen. Futter natürlich auch. Viel.
Vielleicht auch ein Starenhotel – weil Stare gerne zusammenleben, sagt der Oberförster.
Die Winterreifen sind schon im Auto. Schwer wie immer. Alles wird immer schwerer.
Und schon ist sie wieder da, die Angst, es könnte zu schwer werden.

16.11.2017

Es ist kalt geworden. Den ganzen Tag fast am Gefrierpunkt. Nicht mehr zu leugnen.
Wann werde ich dem Hund die Kaninchendecke wegnehmen? Er verteidigt sie, als hätte er die Hasen selbst gefangen.
Es gibt keine Starenhotels mehr zu kaufen. Keine Nachfrage. Muss man selber bauen.

17.11.2017

Zwei Nistkästen habe ich schon aufgehängt. Mich auf die Leiter getraut. War gar nicht so schwer.
Und gegen Abend noch ein kleines Vogelhaus aufgestellt und Meisenknödel – auf Rat des Oberförsters mit Draht verschnürt – in Bäume und Sträucher gehängt.
Ein erster Versuch, um zu sehen, ob die Vögel mich finden.

Und sie haben mich schon gefunden. Die ersten waren zwei Eichelhäher. Und jetzt sind die Meisenknödel weg, die ich durch das Westfenster sehen konnte. Trotz Drahtverschnürung. Wir brauchen noch eine andere Konstruktion.
Zu den Meisenknödeln vor dem Südfenster sind die Räuber – noch – nicht gekommen, aber die Meisen. Kohlmeise und Blaumeise, Haubenmeise. Tannenmeise?
Ein Kleiber rennt den Stamm rauf und runter, den Kopf immer voraus. Er pickt kopfüber am Knödel.
Was für eine Freude! Fühlt sich an wie ein Trost nach diesen geballten Klimabildern gestern Abend und schon die ganzen Wochen.
Auch wenn es kein richtiges Leben im falschen gibt, ist es ein Trost. Diese tapferen kleinen Meisen – ich bin ihnen so dankbar dafür.

Wie aber soll ich mit dem Wissen leben, dem man nicht entfliehen kann.
Über diese Brücke gehen wir, wenn wir dahin kommen. Dieser Satz war einmal vernünftig, hilfreich, fast weise, fand ich.
Aber wenn man blind auf eine marode Brücke gerannt ist, die dabei ist einzustürzen?

Es sind mal wieder Anstrengungen nötig. In der allgemeinen wie in meiner besonderen Zeit.
Warum nehme ich Schwäche so wichtig? Angst vor Schwäche? Schwachwerden? Herausfallen?
Will ich mich wichtig machen? Wenn ja – für wen? Oder für was? Was wäre der „Krankheitsgewinn“?
Spüren, dass ich wichtig bin?
Vielleicht geht das ja auch anders.
Zuerst aber der Glaube daran, dass das möglich ist: Ich kann das! Ich schaffe das!
Vielleicht ist ja Unterforderung auch eine Überforderung. Wie soll man mit so wenig oder gar nichts fertig werden.

Als ich anfing, allein hier draußen zu bleiben und dabei Angst, dann Angst vor der Angst hatte, habe ich mich gefragt: will ich hier sein, oder will ich Angst haben? Man kennt meine Antwort. Und die Angst war weg.
Nun – mit 75 und einem doppelt so alten Körper – muss ich die Frage noch einmal beantworten.
Ja. Ich will hier leben. Ich will die Angst nicht brauchen.
So hat der Vorschlag einer Freundin, mehr mit Menschen zu leben, weil es doch erwiesenermaßen im Alter besser sei, doch seinen Sinn gehabt, obwohl er mich sehr erbost hat.
Mit der Hilfe vieler Kaninchen und einer wasserdichten Decke den ganzen Winter im Freien schlafen. So soll es sein.
Nicht vor einem Winter weichen, der dann ja gar nicht mehr kommt.

Neue Aufgabe: täglich nach den Vögeln schauen, ob alles in Ordnung ist.
Und zupacken, wo es geht. Die Innenwelt der Außenwelt (geklaut).

19.11.2017

Der Wind dreht und wendet
die letzten Blätter auf der Wiese

Jetzt habe ich also ein Hobby: die Vögel.
Wo doch Natur so modern ist.
Plötzlich stand ich in einem für mich ganz neuen Markt für alles, was Vögel brauchen. So vieles und davon ganz viel. Und dabei ein Versprechen, man könne Arten erhalten. Vielleicht. Wieder so ein böser Zirkel: erst vernichtet der Markt die Arten, dann braucht man einen Markt für die Rettung. Für das Versprechen von Rettung. Mehr ist es nicht.
Als ich mit meinem Einkaufswagen zur Kasse ging, dachte ich: das sieht nach Kaufrausch aus.

Ich brauche noch ein Reihenhaus für Spatzen. Die sollen das mögen und stehen auch auf der roten Liste. Spatzen?!? Sie und die Amseln waren das Selbstverständlichste in meinem ganzen Leben. Ob sie mich finden?
Kommen überhaupt Spatzen zu mir? Ich habe noch keinen gesehen, auch keinen Buchfinken, kein Rotkehlchen, keinen Zaunkönig.
Ich muss es wahr haben.
Es ist ein Absturz nach dem Höhenflug, den mir die Meisen geschenkt haben. Und es tut weh. Viel mehr als Zahlen und Prozente. Die Rotkehlchen verschwindet, die Buchfinken und die Zahnkönige werden weniger. Die Spatzen?
Wenn es keine Insekten gibt, bringen die Vögel ihre Jungen nicht durch. Das sagt sich so leicht. Aber wie muss man sich das vorstellen? Sobald die Jungen geschlüpft sind, fliegen die Eltern nach Insekten, sie fliegen und fliegen und fliegen, manchmal bringen sie was, aber es reicht nicht. Eines bösen Tages sperrt ein Junges den Schnabel nicht mehr auf. Es ist verhungert. Dann noch eins und noch eins, vielleicht alle, vielleicht nicht. Ich weiß nicht, wie oft Vogeleltern das machen.

Meine Freude schießt schnell sehr weit in die Höhe. Zu weit.
Ich hätte nicht so hoch fliegen sollen. Aber wie macht man das?
Sicherheitshalber freue ich mich nicht?

Ich kann nicht schlafen, nicht lesen.
Wie soll ich auf die Welt schauen. Wie auf einen geliebten Menschen, von dem man weiß, dass er gerade stirbt? Sterbebegleitung?
Wie soll ich auf mein Land schauen? „Dann ist das nicht mehr mein Land“, wenn es die Flüchtlinge aussperren wollte. So die Kanzlerin vor zwei Jahren, ich konnte ihr nur zustimmen.

Es ist, als würde mein Land mich verlassen. Oder komme ich ihm zuvor? Wann verlasse ich es?
Als ich daran dachte, diese Gedanken in diesen Text zu geben, konnte ich einschlafen. Ohnesinn macht den nächsten Tag erträglich. Auch eine Ernte der Schlaflosigkeit (geklaut).

20.11.2017

Montag. Am Ende dieser Woche wird meine Große gesprungen sein.

21.11.2017

So ein Eichhörnchen könnte doch auch einmal satt sein. Das braune kommt immer wieder und frühstückt lange, das schwarze ist schneller fertig.
Die Himmel sind klar wie selten.

24.11.2017

Mein Auto hat mich im Stich gelassen: sprang nach dem Schwimmen nicht an. Die Batterie konnte es nicht sein.
War sieben Uhr abends, ich hatte weder Handy noch Geldbeutel mit ADAC-Karte dabei, wollte doch nur schwimmen –
So bin ich heimgelaufen und habe mit dem ADAC einen Termin für den nächsten Morgen ausgemacht. 
Also dann mit Rad und Hund um sieben rüber, eine Stunde herumgelaufen, bis der Mensch ankam. 
Es war der Anlasser. 
Dann musste ich mit dem nochmal mobilisierten Auto sofort in die Werkstatt. 
Fahrrad rein, Hund rein, und ab.
Dann Fahrrad raus, Hund raus und heim.
Um drei Uhr der Anruf: Auto fertig.
Wieder mit Fahrrad und Hund rüber, alles ins Auto und – gut.
Vielleicht – hoffentlich – war das mein Auto-Beitrag zum Winter.


Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de