22.-23.12.2017 – Krippen in Ouaga

22.12.2017

Fünf Jahre nach dem Tod meiner Großen war es auch ein Tag:

22.12.99

Der Flügelschlag der Schwäne.
Ein fast voller Mond. Rauher Reif für feine Äste. Eisblumen erblühen neben Forsythien vom Barbaratag.
Übermorgen ist Weihnachten. Ich werde ihr ein Bäumchen bringen, dasselbe das wir haben. Und ich werde ein Bild von ihr neben unser Bäumchen stellen. Sie soll dabei sein, wenn es wieder Weihnachten wird. Wenn die Dinge wieder hereinkommen, schamlos und ohne Gedächtnis. Wie auch immer verwandelt soll sie bei uns sein. Der Zwang, mir den Grad der Verwesung vorzustellen, soll weichen. Knochen und Erde neben dem warmen Kind in meinem Arm.
Mein warmes Kind und seine kalten Knochen. Nein, das ist es nicht, was bleibt.
Was bleibt, ist die Spur seines Lebens in meinem.

23.12.2017

Ein Zimmer in meinem Haus ist schon wieder warm. Draußen ist alles grün. Das kurze Weiß zwischen Würzburg und Fulda ist nicht mehr wahr. Und wird es für Weihnachten nicht wieder. Morgen war Weihnachten. Das muss heute geklaut und gesagt werden. Morgen war Weihnachten.
Ich bin noch nicht wieder angekommen.

Aber Ouaga. Das war etwas anderes.

Ouaga 1996

Weihnachtsvorbereitungen in Ouagadougou

 

 © H. Tarnowski

Auf meinen Streifzügen durch Ouagadougou, dieses Riesendorf und die Hauptstadt von Burkina Faso im Herzen Westafrikas, zur Zeit des Harmattan, dem warmen Wüstenwind, der mitunter einen rötlichen Sandschleier vor die Sonne zieht, fallen mir frische Lehmziegel auf, die in der Sonne trocknen, und nicht weit davon errichten Männer vier Wände aus den Ziegeln, die bereits hart genug sind – dazu brauchen diese in der Hitze nur einen Tag. Ein Haus soll es werden, und erst einmal aufmerksam geworden, sehe ich viele solcher Häuser: vier Wände mit einer Öffnung, die darauf warten, daß das nötige Geld für das Dach und die Türe vor der nächsten Regenzeit zusammenkommt, sollen die Wände nicht wieder davonschwimmen.
Als ich im Dezember mit meinem Mofa – zum Laufen ist es viel zu heiß – durch Ouaga streune, begegne ich in den unbefestigten Straßen Kindern, die damit beschäftigt sind, vor dem Eingang zu einem Hof ein kleines Haus zu bauen. Manche sitzen auf der Erde, füllen ein selbst gezimmertes Holzkästchen mit Lehm, den sie in einem Eimer angerührt haben, und klatschen ihn auf den Boden. Reihen von nassen Ziegeln liegen neben trockenen, die von anderen Kindern weggetragen werden. Sie bringen sie einem Jungen, der verbindet die Ziegel fachmännisch mit Mörtel und setzt eine Reihe auf die andere. Hier stehen gerade Grundmauern, dort ist schon ein Gebäude zu erkennen, und ein anderes Häuschen wird bereits sorgfältig mit Putz eingerieben.
Gefragt, was sie da tun, lassen sich die Kinder nicht unterbrechen bei ihrer Arbeit, machen eher noch konzentrierter weiter und lachen überrascht und fröhlich darüber, wie man so eine dumme Frage stellen kann: Eine Krippe soll es werden, was denn sonst!
Hier werden also Krippen gebaut. Am Ende steht dann ein 1-2 Meter hohes Gebäude da und sieht wie eine kleine Kirche oder Kathedrale aus. Jetzt verstehe ich die bunten Bilder hinter manchen verfallenen Kirchlein vom vergangenen Jahr: Maria und Josef mit dem Jesuskind sind an die Lehmmauer gemalt. Dabei scheint es selbstverständlich, daß die Heilige Familie aus Weißen besteht. Ja, so sei es, sagen die Kinder: Jesus, Maria und Josef seien Weiße gewesen, Mohammed aber, der war ein Schwarzer.
Ich komme zu einem halben Häuschen, das von Jungen und Mädchen umringt ist, die Arme bis zu den Ellenbogen voller Lehm. Ob ich sie fotografieren dürfe, wie sie ihre Krippe bauen, frage ich, man kenne bei uns so etwas nicht, weil es doch soviel regnet. Einer der größeren Jungen schüttelt den Kopf – will er nicht oder hat er mich nicht verstanden? Die anderen Kinder nicken und lachen. Ein Größerer kommt hinzu, ich bringe meine Frage noch einmal vor, und Kasim nickt zustimmend. Aber der andere habe es nicht gewollt, gebe ich zu bedenken. Moussa wolle nur selbst nicht fotografiert werden, meint er, der sei ein Moslem. Die anderen und er, der sich als der Baumeister herausstellt, sie wollten schon. Stolz und fröhlich stellen sie sich vor das begonnene Werk und machen es unsichtbar.
Kasim stellt sich stolz als der Propriétaire, als Eigentümer der Krippe vor. Er spricht Französisch, die einzige gemeinsame Sprache in Burkina Faso. So gehört er zu dem Drittel der Jugendlichen, das zur Schule geht. In diesem Jahr ist Kasim verantwortlich für den Plan der Krippe. Plötzlich verschwindet er im Hof und kommt kurz darauf mit einem Schulheft wieder, in dem er auf dem karierten Papier einen genauen Plan seines Werkes gezeichnet hat. Dort zeigt es einen Turm und wird von einem Kreuz gekrönt, was dem im Bau befindlichen Gebäude noch fehlt.

 

  © H. Tarnowski

Wo die Krippen sich häufen, findet sich oft eine Kirche, dort wohnen mehr Christen als in anderen Vierteln. 5-10% der Burkinabe sind Christen, vor allem Katholiken, etwa 30-40% sind Muslime und 50-60% sind bei den traditionellen Naturreligionen geblieben.
Kasim ist einer der ernsthaftesten Krippenbauer und macht seinem Land alle Ehre. Burkina Faso heißt Vaterland der Würde und bedeutet soviel wie Land der Unbestechlichen, Land der ehrbaren Männer. Bis 1984 hieß es Obervolta und erst unter dem Präsidenten Thomas Sankara erhielt es seinen heutigen Namen. Burkina Faso war bis 1960 eine französische Kolonie. Es liegt zwischen der Sahara und dem Tropenwald und ist eines der ärmsten Länder der Erde.
Für heute haben die Kinder schon aufgehört. Aber warum ist das Haus heute kleiner als gestern? Ich frage einen kleinen Jungen, den ich neben dem halbfertigen Gebäude in einem Erdloch gesehen habe, wie er aufgelockerten und mit Wasser übergossenen Lehm für die nächsten Ziegel mit seinen Füßen durchknetete, warum sie die Türme von gestern abgebaut und stattdessen neue aufgebaut hätten. Er holt sofort den Größeren, als sei er für meine Frage nicht zuständig. Die Ziegel hätten nicht darauf gepaßt, meint der entschieden. Sie könnten ihre Krippe bis Weihnachten noch zehnmal abreißen und wieder aufbauen und sie würde immer noch fertig, der Dezember hat gerade erst angefangen.
Sie bauen ihre Krippen wie ihre Väter die Häuser. Sie haben beim Hausbau geholfen und nun nehmen sie ihre Arbeit ebenso wichtig und ebenso ernst. Die Väter finden das gut, denn so lernen die Kinder zu arbeiten. Den Plan machen die Älteren, und auch die wichtigen Etappen lassen sie sich nicht nehmen: das Anlegen der Grundmauern, die Übergänge zu neuen Stockwerken, die Dachkonstruktion, das Verputzen und die Fertigstellung des Baues und zuletzt das Bemalen. Die bunten Farben unterscheiden die Krippen weit sichtbar von allen anderen Häusern. Die Kinder kennen die Orte, wo sie das Pulver für die Farben finden, das sie mit Wasser anrühren und mit einem Schwamm auf das Haus reiben: blau, weiß und rot-braun.
Und es gibt noch einen Unterschied: Die Väter müssen vor der Regenzeit das Geld für ein Dach aus Wellblech beisammen haben, soll ihnen nicht nur ein Haufen Lehm zurückbleiben. Das Dach ist das Teuerste. Den Lehm, den Sand, die Hitze, die die mit selbstgefertigten Holz- oder Blechschablonen geformten Ziegel trocknen und hart werden läßt, die gibt es umsonst. Am Dach sind schon viele Häuser gescheitert, die rund gewordenen Mauern mit der groben ausgewaschenen Oberfläche von unterschiedlicher Höhe, die überall zwischen den Häusern mit Dächern zu sehen sind, zeugen davon.
Die Kinder überlassen die Krippen dem Regen und manchmal helfen sie auch selbst ein bißchen nach, daß nichts übrig bleibt als ein Haufen Ziegel oder Mörtelbrocken. Was täten sie auch nächstes und übernächstes und überübernächstes Jahr um diese Zeit, wenn jede Krippe für die Ewigkeit geschaffen wäre. Da macht es keinen Unterschied, ob einer Christ ist oder Muselman oder keines von beidem.
Sie haben überall weitergebaut. David lacht mir schon von Weitem entgegen. Es sitzt am Boden in einem Halbkreis von nassen Ziegeln, die er heute schon hingeklatscht hat. Eigentlich ist er zu groß für diese Aufgabe. Die anderen Jungen in seinem Alter legen Hand beim Bauen an. Die Erklärung wird sichtbar, als David aufsteht und sofort wieder hinfällt, weil seine Beine von den Knien abwärts nach außen gedreht sind. Kinderlähmung. David gibt nicht auf. Mit größter Konzentration schafft er das Stück bis zu seinem Hof.
Es werden immer noch neue Krippen begonnen. Je näher Weihnachten kommt, umso kleiner werden die Entwürfe. Der Rohbau steht schnell, oft fehlt noch das Dach, aber die Bambusstangen, die es einmal tragen sollen, sind schon an den Seiten mit Mörtel befestigt. Manche Häuschen sind erst zum Teil verputzt und andere schon vollständig. Das muß gerade erst geschehen sein, denn einige Stellen sind noch dunkel und naß.

 

 © H. Tarnowski

Noch eine Woche bis Weihnachten. Stellenweise keimen Gräser um die verputzen Kirchlein. Die Kinder haben begonnen, Blumen zu säen und Pflänzchen einzusetzen. Sie gießen sie mindestens zweimal jeden Tag. Kasim hat Bambusstäbe über die Keime gelegt und diese an den Seiten mit Mörtel an einer Ziegelreihe befestigt – damit die Hühner, die hier überall herumlaufen, nicht die Keime herauspicken, sagt er. Wenn die Pflanzen groß genug sind, wird er die Stäbe entfernen und die kleine Mauer um Kirche und Garten fertig bauen.
Die Bemalung, die – so erzählen sie mir – wird erst am 24. gemacht. Früher darf es nicht sein, weil die kleinen Kinder alles wieder schmutzig machen würden, wenn sie darauf herumkrabbeln und -klettern. Bis dahin heißt es, die Farben zu beschaffen. Das Gelb und das Grün gibt es nur in der Stadt, man muß es kaufen, wenn die Farben der Natur nicht genügen. Die Kinder zeigen mir auch eine Tüte voller kleiner Figuren, Maria und Josef und das rosarote Jesuskind, Ochsen und Esel und ein paar zerknitterte glänzende Girlanden, wie sie gerade überall auf den Straßen angeboten werden. Ich erzähle, daß man damit bei uns die Bäume, die man ins Zimmer stellt, behängt. Da lachen sie.

Wo ich nun mein Interesse gezeigt habe, führen mich die Kinder weiter. Es werden immer mehr und sie begrüßen mich schon aus der Ferne lachend und winkend. Ein Ruf geht mir voraus, ein Wort begleitet mich überall, wo ich auftauche. Ich frage Josie, Kasims Schwester, die meine Hand genommen hat, was das heißt: nassara. Josie lacht und sieht verschämt an mir vorbei, dann sagt sie: die Weiße! Mit diesem Ruf angekündigt komme ich von einer Krippe zur anderen, oft an versteckte Orte, die ich selbst nie gefunden hätte. Meine Bewunderung, die Stifte, die ich immer bei mir habe, und die Fotos, die ich ihnen bringen werde, freuen sie so sehr, daß ihnen immer neue Plätze einfallen, die sie mir zeigen wollen. Bald kenne ich das ganze Quartier und finde die Baustellen in Tangin allein wieder, wenn ich am Wochenende und an dem schulfreien Donnerstagnachmittag komme. Das sind die Tage, an denen überall weitergearbeitet wird.
Und da treffe ich zum ersten Mal eine Krippenbauerin. Sie hat die Ziegel für den Bau mit Ölsardinendosen gemacht und ist gerade dabei, ihre winzige Krippe streichelnd zu verputzten.

 

 © H. Tarnowski

Als Weihnachten endlich vor der Tür steht, bekommen die Kirchlein ihre Farbe und ihre Botschaft: Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr! ist überall zu lesen. Am 25. Dezember stehen die winzigen Plastikfiguren davor, und die Kinder in ihren schönsten Gewändern erwarten mich schon sehnsüchtig für ein letztes Bild.
Am Heiligen Abend bin ich noch einmal nach Tangin hinausgefahren. Daß die Nacht so schwarz sein kann. Das Licht meines Mofas ist die einzige Beleuchtung, die mir weiterhilft – und eine Kerze in der einen oder anderen Krippe. Aber ich finde meine Krippen inzwischen auch im Dunkeln und treffe David. Er hat heute sein zerrissenes T-Shirt gegen einen sehr schönen bunt bedruckten Boubou eingetauscht. Als ich komme, setzt er sich mit einer brennenden Kerze in der Hand vor „seine“ Krippe, und ich mache ein Bild von ihm. Er sieht glücklich aus.

Ein paar Monate später sehe ich in den Nachrichten, wie Burkina Faso seine kleinen Baumeister mit einem Preis für die schönsten Krippen belohnt, welchen die Eigentümer stolz und ernst vor der laufenden Fernsehkamera entgegennehmen. Diese Preisverleihung findet im April statt, ein paar Wochen vor der Regenzeit, die die bunten Werke abwaschen und auflösen wird, so daß nur ein unansehnlicher Haufen Lehm zurückbleibt: Platz genug für neue Krippen zu Weihnachten in der Trockenzeit.

 

 © H. Tarnowski


Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de