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Leseprobe 3
Wie ein gefangenes Tier lief ich in dem Gewölbe auf und ab. Wieso wartete ich überhaupt hier in dem finsteren Raum, der mit seiner unangenehmen Feuchtigkeit meine Kleidung klamm werden ließ? Ich schnaufte genervt und trat geduckt durch den Gewölbeeingang nach draußen. Salzige Luft strömte mir entgegen und ich schloss die Augen.
Was tat Andrei nur mit mir? Noch nie zuvor hatte ich mich derart verletzlich gefühlt. War ich nicht der geheimnisvolle, starke Jäger, dem niemand so schnell das Wasser reichen konnte? Wahrscheinlich hatte ich immer nur so ein Bild von mir sehen wollen. Ich lachte bitter. Übrig blieb ein junger Mann, der nur das Kämpfen gelernt hatte und mit sich selbst nicht mehr klarkam.
Ich war ein verdammter Idiot!
Wütend schlug ich gegen einen Baumstamm und bereute es sofort, umklammerte meine Hand und hätte am liebsten laut geschrien. Frustriert lief ich aus dem kleinen Hain zum Meeresufer der Bucht hinunter. Ich brauchte mehr Licht. Kies knirschte unter meinen Schuhen und ich trottete mit meinem Beutel, den ich nur selten irgendwo zurückließ, nah am Wasser entlang. Wellen plätscherten beruhigend gegen die Steine und die Geräusche des Meeres erinnerten mich an das Rauschen einer Muschel, wenn man in sie hineinlauschte.
Weiter hinten beluden drei Männer einen Fischkutter, ihre Stimmen drangen zu mir herüber, und ich war froh, dass sich Andrei nicht diese Fischer als Opfer gesucht hatte. Sie wirkten so zufrieden in dem, was sie taten, obwohl sie zu dieser Nachtzeit immer noch arbeiteten.
Das Licht ihrer Laternen gab der Umgebung einen goldenen Schein. Als mich von dem Essensentzug leichter Schwindel überkam, setzte ich mich auf einen Felsbrocken und vergrub den Kopf in beide Hände. Mir fehlten ein Bad, eine Rasur, Essen und ein großes Glas Whisky.
Hinter mir knackte ein Zweig und ich hob alarmiert den Kopf, wandte mich um.
»Hier bist du, ich hab schon gedacht, du wärst wieder in der Kirche.«
Ich traute meinen Augen kaum, als ich Andreis Zustand gewahrte. Er schwankte mehr, als dass er ging, grinste mich aber mit blitzenden Zähnen an. Seine Kleidung und sein Haar trieften vor Nässe, das Hemd vorn war voller Blut und seine Wange wirkte blau und geschwollen.
»Was ist passiert?« Ich hastete auf.
»Nur eine schwierige Beute«, sagte er und winkte ab.
»Ist das dein Blut?«
»Nein, das ist von dem miesen Zuhälter, den ich ertränkt
, pardon, ausgetrunken hab.« Mit einem Seufzen ließ er sich auf den Kies fallen und starrte in den verhangenen Himmel. »Ich hab mich da in was reingeritten.«
In mir stieg ein Lachen auf, das ich verdrängte. »Ähm, das passiert dir wohl öfters?«
»Nun ja, von Zeit zu Zeit. Aber
«, er schielte zu mir auf, als ob er prüfen wollte, wie ich reagierte, »
er schmeckte verdammt gut. Und ich hab das hier.« Er richtete sich auf, klimperte mit einem nassen Beutel und hielt mir einen ganzen Brotlaib hin, den ich in Anbetracht seines Auftretens völlig übersehen hatte. Die Situation war so unwirklich, dass ich mich lachend zu ihm in den grobkörnigen Sand setzte.
»Hast du danach eine Bäckerei ausgeraubt?« Ich gluckste.
»So kann man sagen.«
Ohne zu zögern, nahm ich das Gebäck und biss herzhaft hinein. Mir war völlig egal, wie er das Brot beschafft hatte. Andrei zog sich das blutige Hemd aus und wusch es im Meerwasser aus, was ihm nur mit leidlichem Erfolg gelang. Ich sah weitere Prellungen und sorgte mich doch. »Wann heilt das wieder? Bei euch geht es schneller, oder?«
Er lächelte. »Du hättest mich mal direkt nach dem Kampf sehen sollen.«
Das beantwortete meine Frage auch. Ich sah, wie er fröstelte, als er sich das nasse Hemd wieder überstreifen wollte, und hielt ihn davon ab. »Lass das. Hier, zieh meine Jacke über.« Ich schälte mich aus dem Kleidungsstück und reichte es ihm, Andrei nahm es dankbar an.
»Also frieren Vampire auch«, murmelte ich. Wie um das zu bestätigen, setzte sich Andrei neben mich und schmiegte sich an mich. Ich spürte, wie er zitterte, darum legte ich einen Arm um ihn und wir saßen still beieinander, während ich das Brot vertilgte.
»Ich brauche deinen Rat, Andrei.«
Sein Gesichtsausdruck wirkte verwundert, als er meinem Blick begegnete.
»Als ich allein unterwegs war, habe ich ein Pferd gehabt, Ray. Er war mir wirklich ein treuer Begleiter, hat mich manches Mal mit seinen Instinkten sogar beschützt. Ich habe ihn zurücklassen müssen. Er ist in der Obhut eines Jägers, der bei mir noch eine Schuld zu begleichen hat. Ich traue ihm nicht vollständig, aber
ich würde Ray gern holen. Allerdings fürchte ich, dass wir damit verraten würden, dass wir in England sind.«
»Wir könnten ihn stehlen, oder?«
»Allein diese Tat würde mich höchstwahrscheinlich entlarven. Die Männer kennen mich.«
»Ray ist dir wichtig, oder?«
Es war mir fast peinlich, zuzugeben, dass nur ein Pferd mein Freund gewesen war, aber ich nickte.
Andrei atmete tief durch. »Ist es, weil du denkst, dass du es ihm schuldig bist? Also Ray. Oder möchtest du ihn an deiner Seite wissen?«
Überrascht sah ich ihn an. »Ich
ich weiß nicht. Vielleicht beides?«
»Ich will damit sagen, könntest du damit leben, wenn er ohne dich glücklich ist? Wir könnten nachschauen gehen, unbemerkt bleiben und ihn bei dem Jäger lassen, wenn er dort zufrieden ist.«
»Das würde bedeuten, dich einer immensen Gefahr auszusetzen.«
»Überall lauern Gefahren, Sam. Ich bin ja selbst eine.«
Andreis Worte berührten etwas in mir. Ich kannte Liam, er liebte Pferde und würde sich gut um Ray kümmern, dessen war ich sicher. Und ein Leben bei Artgenossen, auf einer Weide, wäre weitaus passender, als einsam mit uns auf der Flucht zu sein.
Ich traf einen spontanen Entschluss. »Wir werden nach Wales gehen. Ich lasse Ray bei Liam.«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
Andrei senkte den Kopf und starrte auf die seichten Wellen, die an den Strand schwappten. »Also nach Wales
«
Wir rappelten uns auf. Ich haderte mit unserem Auftreten. Andrei wirkte verletzt, ich wie ein Bettler. Bevor wir aufbrachen, mussten wir dringend einen Tag ausruhen, uns neue Kleidung besorgen − und ich brauchte eine Rasur und musste baden. Mein Geruch erinnerte an ein Stinktier.
Das Badewasser umschmeichelte meinen ausgekühlten Körper und ich konnte Andreis Blick nicht ausweichen, der nach seinem Tauchgang im Meer lieber auf weiteres Wasser verzichtete. Wir hatten uns neue Kleidung aus einem Geschäft gestohlen und uns mit dem Geld des Zuhälters in eine komfortable Pension eingemietet, die abseits von Portchester lag. Nun hielt Andrei seine Fingerspitzen in das heiße Wasser, das ich genoss. »Es ist warm, Andrei.«
»So ein Badetrog weckt unangenehme Erinnerungen.«
»Woran?«
Sein Lächeln wirkte bitter. »Ich habe dir noch nicht meine Geschichte erzählt.«
Das Wasser plätscherte angenehm, als ich mich zurücklehnte. »Nur zu
«
Mit einem Seufzen zog Andrei einen Hocker heran. »Der Badetrog kam erst später, und ich war Castielle dankbar, als er mich in das kalte Wasser setzte, denn es linderte den Schmerz meiner Wandlung. Aber
vielleicht beginne ich wie du von vorn.«
Fast eine Stunde lang berichtete Andrei mir mit ruhiger Stimme, wie er zum Vampir geworden war. Seine Worte schmerzten mich. Wahrscheinlich suchten sich nur die Wenigsten das Dasein als Nachtwesen aus. Getötet hatte ich sie trotzdem.
»Und dann traf ich dich«, endete Andrei leise und starrte auf die getäfelte Wand des Baderaums.
Zuerst wagte ich nichts zu sagen, denn ich dachte an den Dolch, den ich damals in der Hand gehalten hatte, als ich ihn ebenso töten wollte. Nur sein Blick hatte das verhindert, weckte etwas in mir, beendete das Morden. Aber haderte ich nicht schon zuvor mit meinem Leben? Trotzdem war Andrei der Funke, der meine Kraft entzündet hatte, mich davon zu lösen.
»Ich sehe an deiner Mimik, was du denkst, Samuel. Vergiss nicht, ich morde auch.«
Resigniert nickte ich, wagte, ihn anzusehen, Worte fehlten mir noch, ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Fröstelnd stieg ich aus dem erkalteten Wasser und Andrei reichte mir ein Handtuch. Plötzlich erschreckte mich ein Gedanke.
»Hat jemand gesehen, dass du mit mir in den Baderaum gekommen bist?« In England war eine Liebe wie unsere extrem schwierig und konnte durchaus gefährlich sein, wenn man nicht achtgab.
»Ja, aber ich habe gesagt, dass ich dein Leibdiener bin.« Sein freches Grinsen wischte meine dunklen Überlegungen fort, und ich schnaubte amüsiert. Demonstrativ reichte er mir einen Bademantel, in den ich mich einhüllte. Vom Licht der Öllaterne blinzelte er ein wenig und sah zu mir auf − ich war etwas größer als er.
Seine Schulter berührte leicht meine Brust. Ich strich über seine Wange, seine Gesichtshaut wirkte perfekt, als wäre sie aus warmer silbriger Seide. Schemenhaft erkannte ich zarte Sprenkel, kaum zu sehen. In seinem anderen Leben waren dies vielleicht Sommersprossen gewesen. Ich beugte mich vor, küsste ihn sachte. Sein Ausdruck wandelte sich. Sehnen spiegelte sich in seinen wunderschönen Augen.
»Komm
«, sagte ich rau.
Wir traten aus dem Raum und überließen ihn den Bediensteten des Hauses. In unserem gemieteten Zimmer wich Andrei zurück, denn es dämmerte bereits und das graue Licht eines nebligen Morgens stahl sich durch die Fenster. Sorgfältig schloss ich die Läden und auch die Vorhänge, entzündete eine Öllampe.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich, denn ich konnte noch nicht einschätzen, welches Licht ihn wie stark verletzte.
Mit einem scheuen Lächeln nickte er, trat auf mich zu. Für einen Augenblick fühlte ich mich befangen, auch er zögerte. Die Geheimnisse zwischen uns waren gelüftet und es gab nichts mehr, das zwischen uns stand, aber
»Wenn man auf einmal alles voneinander weiß, beginnt man zu vertrauen
irgendwie muss man sich aber auch neu kennenlernen«, flüsterte Andrei.
Seine Hand fuhr unsicher in meinen Bademantel, verharrte auf meiner bloßen Brust. Ich strich durch sein Haar, betrachtete sein nachdenkliches Gesicht, das mir in diesem Augenblick engelhaft erschien. Schließlich streifte er mir das Kleidungsstück von den Schultern.
»Gehst du deinen Aufgaben als Leibdiener nach?«, fragte ich heiser.
Dies zauberte ein Lächeln auf seine Lippen. »Das könnte man so sagen.«
Die Distanz zwischen uns kam mir auf einmal zu viel vor, ich zog ihn an mich. »Was habe ich nur getan, als du nur ein Gefühl warst, das ich ersehnte?«, murmelte ich und vergrub das Gesicht in seinem nach Meer duftendem Haar.
Andrei löste sich kurz von mir, knöpfte sich Hemd und Hose auf und ließ alles zu Boden fallen. »Du warst auf der Suche − wie ich«, erwiderte er und ergriff meine Hand.
Wir schlüpften unter die Decke und schmiegten uns nah aneinander. Unser Kuss fühlte sich an, als könnten wir nur durch den anderen atmen, und ich spürte, wie seine Hände über meine Haut strichen. Seine Berührungen wischten jeden Gedanken beiseite. Da existierte nur noch die bloße Empfindung, bei ihm zu sein, ihm nah zu sein.
Ich vertraute ihm, bog den Hals zurück, als er eine Spur aus Küssen darüberzog. Seine Nähe weckte das Verlangen in mir, ihn besitzen zu wollen. Ich übernahm die Initiative, drehte ihn herum und presste ihn förmlich auf die Matratze. Andrei ergab sich mir völlig, das ließ mich zögern. Diese Begegnung sollte sanft sein. Ich wollte mit keinem Gedanken, mit keiner Bewegung auch nur im Entferntesten an meine schmerzhafte Erfahrung mit Riley erinnert werden. Ob ich je wagen würde, mit Andrei die Rollen in diesem Spiel zu tauschen? Als ich in seinen bernsteinfarbenen Blick sah, dachte ich unerwartet an Jasper und wusste, das würde ich − eines Tages.
Er wandte sich zu mir um und streichelte mir durch das Haar. »Was denkst du?«, wisperte er.
Zur Antwort küsste ich ihn, damit schien er einverstanden, denn er schlang seine Arme um mich und seufzte leise.
»Lass mich nie wieder allein«, flüsterte ich.
»Niemals.«
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