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Nautilus, Ausgabe 85

Ausgabe 85

Mensch und Wolf haben bereits in enger Nachbarschaft gelebt, noch bevor wir sesshaft wurden. Als domestizierter Hund ist der Wolf das älteste Haustier des Menschen, und er war seit der Frühzeit der Begleiter und treue Freund des Jägers. Aber als sich in der Entwicklungsgeschichte des Menschen der Jäger zum Ackerbauern und Viehzüchter wandelte, wurde der freie Wolf, der die Nutztiere reißt, zum Feind. Am deutlichsten wird uns dies in den Märchen, Mythen und Sagen erzählt, und der böseste unter all den schlimmen Wölfen der Märchen ist bekanntlich der heimtückische Mädchenfresser aus der Rotkäppchen-Geschichte. Nun hat die Twilight-Regisseurin Catherine Hardwicke aus der verstörenden Vorlage, in der es im Kern um Verführung und Gewalt, Emanzipation und erwachende Sexualität, aber auch um Kannibalismus und tierhafte Triebhaftigkeit geht, den düsteren Mystery-Film Red Riding Hood gemacht.
Anläßlich des Filmstarts spricht die NAUTILUS mit dem Drehbuchautor David Leslie Johnson und der Schriftstellerin Sarah Blakley-Cartwright, die den Roman zum Film geschrieben hat, sowie mit dem neuseeländischen Filmemacher Rajneel Singh, der unter dem Titel Big Bad Wolves eine Rotkäppchen-Interpretation im Quentin Tarantino-Stil verfilmte. Über Märchen und Menschen spricht auch der deutsche Schriftsteller Christoph Marzi anlässlich seines Romans Grimm, wo sich die Mythen selbst gegen die Menschheit wenden und die Kinder angreifen. Über Wölfe und Menschen erzählt die US-Amerikanerin Maggie Stiefvater anlässlich des Romans Nach dem Sommer, in dem eine junge Frau einem Wolf näherkommt, der einmal ein Mensch war. Dazu gibt es in dieser Ausgabe eine Galerie der wichtigsten Rotkäppchen-Verfilmungen von 1922 bis heute sowie eine umfassende Untersuchung zu den Wurzeln der Geschichte um den bösen Wolf und das Mädchen mit dem roten Käppchen.
Heute sehen wir Wölfe am liebsten weggesperrt im Wildpark oder im Zoo. Wegsperren war in den Jahrhunderten seit der frühen Neuzeit in der westlichen Welt auch die gesellschaftliche Strategie für den Umgang mit Geisteskranken. Im actionreichen Fantasy-Film Sucker Punch wirft Regisseur Zack Snyder die Frage auf, ob die angeblich geistig Gestörten oder nicht doch eher eine Gesellschaft, die sie einsperrt, krank sind und der Heilung bedürfen. Begleitend dazu untersucht die NAUTILUS, was genau Zuschauer, Leser und Erzähler so faszinierend am Wahnsinn finden - sowohl in der Phantastik wie in der Realität. Und wer nicht genug vom Irrsinn bekommen kann, findet ihn auf der Filmleinwand: Von Das Cabinet des Dr. Caligari bis zum kommenden The Ward stellt die Ausgabe über vierzig der wichtigsten Filme mit Irrenhaus-Setting vor.
Auch im Filmteil dieser NAUTILUS-Ausgabe stehen Märchen und Wahnsinn im Mittelpunkt. Im eindringlichen Arthouse SF-Film Alles, was wir geben mussten werden Jugendliche in einem alternativen England der Jetztzeit auf ein kurzes und tragisches Leben als Organspender vorbereitet. Und Beastly ist die neuste Version des alten Themas um die Schöne und das Biest, nur dass hier ein fieser Schönling zum romantischen Ungeheuer umgezaubert wird.

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