• Eine Frage des Bodens

    Gemeinsam mit meiner Frau Alice Atieno und unseren vier Kindern lebe ich am Rand von Nairobi in einem Ort namens Kahawa Sukari. Es ist ein grosses Stueck Land, das sich die Menschen von der Savanne zurueckerobert haben. Mittlerweile leben hier ueber 20.000 Menschen, darunter viele Beamte aber auch viele Arme. Letztere hausen in Slumsiedlungen, die in den letzten Jahren entstanden sind. weiterlesen »

  • Von der Emailisierung des Deutschen

    Man freut sich immer, Post zu bekommen. Hollywood hat das vor Jahren in >You’ve got mail< thematisiert. Der Film fuehrte einen Abloeseprozess vor Augen – vom Brief zur Email. Gestern war die elektronische Variante einfach nur die schnellere, billigere Schwester. Die so genannte digitale Revolution hat jedoch ihren Charakter veraendert. Vor allem ihre Form. Gerade da sie so schnell vom Sender zum Empfaenger und bei Bedarf wieder zurueck gelangt. Das Dialogische des klassischen Briefes ist hier laengst Vergangenheit. Damit alles noch schneller geht, werden Grammatik und Ortographie entsprechend angepasst.

    Kaum jemand schreibt heute noch korrektes Deutsch. Gross- und Kleinschreibung? Voellig vergessen. Abkuerzungen wie lg fuer liebe Gruesse sind absolut normal. Gefuehlsausdruecke wie grins oder Smileys sind in allen vorstellbaren Varianten laengst etabliert: :-), ;-), :-0… Kurz: Schrift wird immer mehr Zeichen. Die Frage, die sich allen aufdraengt: Ist das ein Schritt zurueck oder ein Schritt nach vorn? Hat das was von der primitiven Kommunikationsform der Hoehlenmenschen? Oder aehnelt’s eher der asiatischen Bildsprache mit ihrem festen Platz in der Science Fiction?

    Wie dem auch sei: Beim Email- oder SMS-Schreiben denkt eigentlich niemand mehr an die schoene Aesthetik des Briefes, sondern hackt einfach drauf los. Fuer die Wissenschaft Grund genug, sich damit zu befassen. Der Sammelband >Von *hdl* bis *cul8r*< zum Beispiel laesst 19 Autoren dazu Stellung beziehen. Jeder fuer sich erforscht den heissen Draht zwischen der geschriebenen Emailsprache und dem Deutschen, wie es im Lehrbuch steht. Einige interessante Thesen werden hier schon praesentiert. Erstaunlich allerdings ist, wie das Banale zur Grundlage hochtrabender Theorien wird. Ob dieser Ansatz ein Schritt zurueck oder ein Schritt nach vorn ist, sei dahin gestellt.

  • Tarnkappenbrowser, Abfreunden, Speicherstaebchen,…

    Wie wuerde der Duden aussehen, wenn er von sprachverspielten Kulturkritikern verfasst wuerde? Also, wenn man ein paar intelligenten Irren oder auch wahnsinnigen Wissenschaftltern die Redaktion ueber das zentrale Nachschlagewerk der deutschen Sprache ueberlassen wuerde? Eine Antwort darauf bietet die Wortistik-Datenbank von Detlef Guertler. Der selbsternatte Wortwart der Nation versteht es, archivarische Ansaetze mit den Anspruechen der Kolumne zu verbinden. Das Ganze nennt sich dann tazblog. Ja, die gute alte taz, sie hat mal wieder Gespuer bewiesen, auch wenn mir persoenlich das Labeling blog in diesem Zusammenhang missfaelt. Wie auch immer. Der Autor zeigt sich taeglich mindestens einmal von seiner besten Seite: Mal als Wortfluesterer, mal als Wortwizard, mal als Wortchronist, mal als Wortschoepfer. Immer geht es ihm um die unerforschten Dimensionen des alltaeglichen Sprachgebrauchs. Seine Kategorien lauten Entdudung (u.a. rote Listen ausgemusterter Begriffe), Kindermund (echte Zukunftsfragen), Leservorschlag (echte Partizipation), Neubewortung (echte Innovation), Sprachloch (fuer Freunde der Schwarzen Loch-Theorie), Unword (hier darf laut gepfiffen werden). Neugierig geworden? Einfach ein paar der knackigeren Begriffe in die >Blogsuche< geben und sich ueberraschen lassen, was der gute Mann aus ihnen so herausholt: Tarnkappenbrowser, Abfreunden, Speicherstaebchen, Klinsmanagement, Alegal, Ultrakurzhaendler, Massstabation, Grubbegugge, salzpfeffern.

  • Miniaturen des Moments

    Letzten Freitag: Ueberraschend schoenes Junior Boys-Konzert in der Diamond Lounge. Samstag: Denkwuerdiger Justin Timberlake-Auftritt bei >Wetten dass..?<. Sonntag: Kuenstliches Tageslicht und verspiegelter Boden im Streitraum der Schaubuehne. Montag: Dritter Teil der Falk-Krimiserie Die dritte Gewaltwahrhaft duester-realistsch. Dienstag: Popmusik und aristokratische Dekadenz mit >Marie Antoinette< im Sony Center. Mittwoch, Donnerstag, uswusf. Taeglich ein Highlight. Taeglich ein Anlass fuer einen Eintrag im Logbuch der Berliner Gazette? Aber das Logbuch ist kein Tagebuch wie etwa eine gaengige Definition des Blogs nahe legt. Hier ueberlegen alle sorgsam, bevor sie schreiben. Selektion wie in der Tageszeitung. Was ist relevant? Was ist oeffentlichkeitsfaehig? Doch wir wollen keine Tageszeitung sein. Nicht zuletzt, weil wir keine sind. Martin Hufner brachte in seiner letzten Mail an mich den Begriff des oeffentlichen Notizbuchs auf. Passt gut zu unserem Logbuch. Steht da nicht sogar Notizen zur Zeit? Forderte ich letzte Woche eine Sprache der Beschleunigung und Vernetzung, so geht es mir heute um eine Sprache des Fluechtigen, eine Sprache, die den Moment in sich aufgenommen hat. Das wuerde den primaeren Unterschied zur Tageszeitung markieren. Selektion, ja. Filtering, yes. Aber statt dann Texte zu schmieden, die geschliffenerweise ihren Prozess verschleiern, soll hier das Prozesshafte zu Tage treten. Der Entwurfscharakter des Notizbuchs erhalten bleiben. Und das Skizzenmaessige. Formal. Inhaltlich dagegen soll die Selektivitaet der Massenmedien – soweit moeglich – ueberboten werden. Schlichtweg zu viel los da draussen. Und hier? Junior Boys und Justin Timberlake im Streitraum der dritten Gewalt von Marie Antoinette. Den Zusammenhang moechte ich an dieser Stelle offen lassen.

  • Im Verschwinden begriffen

    Ich bin Russlanddeutscher. So eine Art Halbblueter. Deutsch koennte eigentlich meine zweite, oder auch erste, Muttersprache sein. Aber meiner Generation wurde die Muttersprache meiner Eltern leider nicht mehr beigebracht. Immer wenn ich in meiner Kindheit mit meinem Vater im Haus meiner deutschen Oma zu Gast war – meistens in der Urlaubszeit – kam ich mit der deutschen Sprache in Beruehrung. Alle sprachen untereinander Deutsch. Es war die Sprache, die sie am besten beherrschten und der sie am naechsten standen. weiterlesen »

  • Videoueberwachung in meinem Kopf

    Obwohl ich in den letzten Wochen Fieber hatte, musste ich letzte Woche nach London fahren. Der Grund: Ich wollte offizielle Pruefungen fuer Aufnahmen an amerikanischen Universitaeten machen. Was ich in dem Pruefungsbuero erlebt habe, war ziemlich beeindruckend und sicherlich bezeichnend fuer ein Land wie England, in dem es geschaetzte 20 Millionen CCTVs (Sicherheitskameras) gibt. Sicher, das Pruefungsbuero, wie auch jede offizielle Pruefung, kommt ohne Regeln nicht aus. Aber die Sicherheitsmassnahmen dieses Bueros im finanziellen Stadtteil Londons erinnerten an Mission Impossible. Man musste sich wie ueblich zuerst registrieren lassen. Die Kandidaten mussten dann ihr persoenliches Eigentum in den Schliessfaechern hinterlassen. Very organised, indeed, dachte ich. So richtig kafkaesk wurde es allerdings erst noch: Ich wurde informiert, dass man bei der Pruefung, nichts bei sich haben darf. Kulis, Schmierpapier, Taschentuecher und sogar Wasser sind im Pruefungssaal verboten. Nur ein Personalausweis ist erlaubt. Bevor ich mich zu diesen Bedingungen in den an eine Gefaenigniszelle erinnernden Pruefungsraum begeben habe, musste ich mich (ohne Brille) photographieren lassen und ein offizielles Dokument unterschreiben, in dem ich eidesstattlich erklaerte, dass ich mich an gewisse Regeln halten wuerde. Waehrend der Pruefung wurde ich mit Sicherheitskameras ueberwacht, der ganze Raum war voll von Hohlspiegeln. Ich wurde zusaetzlich von einem Raum aus ueberwacht, der nebenan lag und vom Pruefungssaal nur durch eine riesige Fensterscheibe getrennt war. Es fehlte eigentlich nur noch, dass mein Hirn bei der Arbeit durchleuchtet wurde. Denn die Architektur der Ueberwachung implizierte nichts anderes als die totale Kontrolle. Und damit auch die Kontrolle ueber meine Gedanken. Ein solches Szenario duerfte in der ersten Generation Misserfolge am Fliessband hervorbringen. Schliesslich: Wer erlebt sich bisweilen nicht als ein Subjekt, das Ideen produziert, welche der Pruefung eines hochgeruesteten Ueberwachungsstaates nicht standhalten wuerden?

  • Ist Deutschland ein sprachgestoertes Kind?

    >Nur Kinder, die einen Deutschtest bestehen, sollen eingeschult werden. Mit mangelhaften Deutschkenntnissen kann man in Bayern also nur noch Ministerpraesident werden.<Harald Schmidts Einsicht scheint einleuchtend. Doch worum geht es wirklich in der Debatte um die Einfuehrung des Deutschtests fuer Kinder? Bundeskanzlerin Merkel: Bereits in der Kindheit entscheide sich die Faehigkeit zum Lernen, zur Leistung und zur Einhaltung geregelter Tagesablaeufe. Wenn in zweiter Generation – nicht nur in auslaendischen Familien – Kinder keine solide Ausbildung mehr machen, bleiben sie doch von jeder Entwicklung ausgeschlossen. Durchatmen und zurueckblicken: Die Pruefung >Zertifikat Deutsch Plus< wurde im Jahre 2000 entwickelt. Anfangs lag der Fokus auf Migrantenkindern. Doch schon nach den ersten Sprachtests hiess es: Auch deutsche Kinder scheitern. 45% fallen durch. Die Ergebnisse riefen Kritiker auf den Plan. Rosemarie Straub etwa meinte: Das Vorgehen fusst auf Ausgrenzung und Selektion kuenftiger Schulanfaenger und steht damit im Widerspruch zum Schulgesetz. Hier ist explizit der Verzicht auf einen Test vorgesehen, der >Grundschulfaehigkeit prueft. Dahinter steht die Einsicht, dass die Schule sich auf alle Kinder in ihren sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und Erfahrungen einzustellen hat. Das Recht auf Bildung im Verstaendnis von Chancengleichheit bedeutet Verzicht auf jede Form der Selektion.< Nun sagt Bundesarbeitsminister Muentefering ganz aktuell: Wer sprachlich noch nicht so weit sei, solle zu einem Foerderkurs verpflichtet werden. Sogar Teile der Kindergartenzeit sollten von den Gebuehren befreit werden, um Sozialschwaecheren im Vorschulbereich bessere Bildungsmoeglichkeiten zu geben. Straubs Einwand bleibt dennoch virulent: Es scheint als sei der Staat nicht in der Lage, sich auf eine zunehmend komplexere Gesellschaft einzustellen. Als wollte er den Traum einer integrierten Gesellschaft auf Biegen und Brechen am Leben erhalten. Und wie ich schon an so vielen an anderen Stellen feststellen musste: Kinder dienen in solchen Situationen als favorisierte Projektionsflaeche. Sie erlaubt die Zuspitzung und Dramatisierung der Lage. In diesem Zusammenhang geht es um Entwicklung: Kinder gleich BRD. Das Ganze wirkt allerdings jetzt schon wie eine selbsterfuellende Prophezeiung. Nochmals Straub: Kinder blocken und sperren sich angesichts der Rechthaberei, nicht selten funktionalisieren sie dann Sprache als Mittel der bewussten Selbstausgrenzung. Deshalb meine Frage: Leben wir nicht bereits heute in einem Land, welches – bedraengten Kindern gleich – einfach dicht macht?

  • Charlotte Chronicles.15

    Bei einer komplett unrepraesentativen Umfrage in der internationalen Deutsch sprechenden Gemeinschaft in Charlotte, welche Gruende die jeweiligen Personen zum Lernen der deutschen Sprache veranlasst haben, erhielt ich – kurz zusammengefasst – folgende Antworten: Schule, deutsche Freunde, Arbeit fuer deutsche Firma, >Franzoesisch fand ich doof<, deutscher Kriegsgefangener und >Derrick<.
    Einige dieser Gruende beduerfen einer ausfuehrlicheren Erlaeuterung: Deutsch als Fremdsprache in der Schule ist vor allem in Osteuropa ein bedeutender Faktor, da deutsche Unternehmen beispielsweise den Grossteil der wichtigsten slowakischen Industrien aufgekauft haben (Telekommunikation, Automobilmarkt). Durch die Beherrschung der deutschen Sprache ergeben sich dort sehr gute Berufsperspektiven, waehrend man sich in Westeuropa und Nordamerika zur Verbesserung der Jobchancen eher Spanisch oder Chinesisch aneignet. In Suedamerika ist Deutsch an Schulen in bestimmten Gebieten durchaus praesent, wenn auch nicht unbedingt als einzelnes Unterrichtsfach, sondern durch den Betrieb deutscher Schulen. Vor einigen Monaten lernte ich den ehemaligen Aussenhandelsbeauftragten von Ecuador kennen, dessen Kinder die ersten Schuljahre in Berlin durchlaufen hatten und nun auf die deutsche Schule in Quito gehen, die als eine der renommiertesten des Landes gilt und gleichzeitig die Qualifikation fuer das Studium an einer deutschen Universitaet verleiht. Wer nicht durch Schule oder Beruf auf die deutsche Sprache stiess und sie spaeter noch lernt, hat sich meistens aufgrund deutscher Freunde dazu entschlossen. Eher Einzelfaelle sind sicherlich Beispiele wie ein Englaender, der in der Naehe deutscher Kriegsgefangener aufwuchs ist und von diesen Deutsch lernte. Nicht zu unterschaetzen ist hingegen der Anteil an Skandinaviern, die in ihrer Kindheit deutsche Fernsehserien im Original mit Untertiteln gesehen haben und dabei ganz nebenbei einen Grossteil der Sprache aufgeschnappt haben. Oft werden in diesem Zusammenhang >Der Alte< und >Ein Fall fuer Zwei< genannt, doch der absolute Exportschlager und damit ein bedeutender Botschafter Deutschlands ist und bleibt – auch wenn man es als Deutscher lieber nicht glauben wuerde – >Derrick<.

  • Linguistische Grenzverschiebungen

    Ich leite seit 2002 das Goethe-Institut in den Palaestinensischen Gebieten. Unser Institut ist in Ramallah, dem politischen und geistigen Zentrum Palaestinas. Ramallah ist bei weitem nicht die groesste palaestinensische Stadt sondern nur etwa so gross wie Giessen. Die groessten Staedte sind Nablus, Al-Khalil (Hebron) und Gaza. Zumindest in Gaza veranstalten wir auch Sprachkurse und Kulturprogramme. Das Goethe-Institut Ramallah bildet seit Sommer 2004 mit dem Centre culturel francais das Deutsch-Franzoesische Kulturzentrum. Was unsere Sprach- und Programmarbeit erschwert, sind die Bedingungen der Okkupation unseres Gastlandes durch ein anderes Land. Checkpoints, Mauern und Strassensperren bestimmen das Leben. Unseren StudentInnen und Partnern ist das Recht auf Freizuegigkeit weitgehend verwehrt, und der Besuch eines Sprachkurses kann da leicht zu einer Odysee werden. weiterlesen »

  • Germanisierung des Orients

    Jedes Kind kennt Karl May (1842-1912). Der Schriftsteller erschuf den Wilden Westen und den fernen Orient – farbenpraechtig, informativ und lebensnah. Ohne jemals selbst dortgewesen zu sein, auch das weiss so gut wie jedes Kind. Karl May verstand es zu recherchieren und er hatte eine bluehende Fantasie. Gleichzeitig – und das bleibt haeufig aussen vor – lebte er in einer Zeit, da der deutsche Kolonialismus seine kurze intensive Bluete erlebte. In einer Zeit also, in der das Bild von der Fremde, vornehmlich des im Suedosten gelegenen Auslands, gesellschaftlich unvorstellbar hoch im Kurs stand. Expansive Vorhaben im Nahen Osten und in Afrika waren an der Tagesordnung – aber vieles davon ist heute vergessen. Afrika, ja, da war doch was. Aber der Nahe Osten? Da waren doch die Englaender aktiv.

    Wie hiess er doch gleich? Lawrence von Arabien… Malte Fuhrmann erinnert in seinem Buch >Der Traum vom deutschen Orient< indirekt daran, dass die Figuren des Karl May – Kara Ben Nemsi und sein Freund Hadschi Halef Omar etwa – nicht ausschliesslich literarische Hinrgespinste waren, sondern ihre Vorbilder in der deutschen Kolonialkultur hatten. Wer vielleicht mal von der Bagdad-Bahn gehoert hat als dem Traum von der schnellsten Verbindung zwischen Berlin und dem Indischen Ozean, wird hier seinen Horizont um ein Vielfaches erweitern koennen. Fuhrmann schaut sich moralische Eroberungszuege, Evangelisierungsversuche, reale Siedlungsbewegungen sowie zwei deutsche Kolonien im Osamnischen Reich an und unterzieht sie einer post-kolonialen Anaylse.

    Einen Slogan der Eroberer aufgreifend (>Im Morgenlande eine deutsche Haeuslichkeit schaffen<) betrachtet der Historiker und Balkanologe nicht zuletzt auch Ehe und Kindererziehung in der Orientkolonie. Fuer alle, die Karl May in ihrer Kindheit oder Jugend verschlungen haben oder zumindest den Verfilmungen seiner Stoffe ausgesetzt waren, eine zu empfehlende Lektuere, bei der neben der besagten Horizionterweiterung auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Sozialisation in Aussicht gestellt werden kann. Fuer die Leser der Berliner Gazette aber auch deshalb interessant: Die McDeutsch-Beitraege aus dem Orient lassen sich nochmal neu lesen. Farid C. Majari, Ehssan Varshowkar, Saleh Srouji, Anja Wollenberg und Handan Konak erzaehlen alle auf die eine oder andere Art von den Nachwirkungen der deutschen Expansion im Orient. Konak etwa macht deutlich, dass die Eroberer heute in einem neuen Gewand unterwegs sind – als Touristen.

  • Ich will kein Deutsch lernen!

    >Marhaba!< ruft uns Hamed in der ersten Arabischstunde freudig entgegen und faengt ohne Umschweife an zu quatschen. Keiner von uns kann ihn auch nur ansatzweise verstehen. Dann wechselt er endlich ins Deutsche und alle atmen erleichtert auf. Wer eine neue Sprache lernt, der lernt nicht nur das System Sprache. Der lernt auch, die andere Kultur zu verstehen. Wenn Ihr Arabisch lernt, werdet Ihr die Araber und wie sie so ticken viel besser verstehen. Ich denke noch eine Weile an Hameds Worte, als ich nach dem Kurs durchs dunkle verregnete Berlin nach Hause wandere. Was lernt man eigentlich ueber die Deutschen, wenn man Deutsch lernt? Es ist doch eine ziemlich verrueckte Sprache. Wir unterteilen unsere Substantive in drei Geschlechter und es gibt fast gar kein System dafuer, kaum Erklaerungen, oder Herleitungen. Wie erklaert man, dass es DAS Maedchen heisst, DER Punkt, DIE Liebe? Dann zerreissen wir unsere Verben und stellen einen Teil an den Anfang des Satzes und den anderen ans Ende. Ausserdem kreieren wir gerne ellenlange zusammengesetzte Substantive. Fussballmannschaftskaptiaen, Glasvitrinenputztuch oder den beruehmten Donaudampfschifffahrtskapitaen. Der Deutsche macht es sich gern kompliziert, wuerde ich als Deutschlerner daraus ableiten. Aber gelten die Deutschen nicht als DIE Effizienz-Nation schlechthin? Wer Deutsch lernt, wird schnell feststellen, dass er dieses Vorurteil schnell wegpacken kann. Ich bin jedenfalls froh, dass ich kein Deutsch lernen muss. Doch Arabisch zu lernen ist mindestens genauso verrueckt. Aber dazu ein andermal mehr.

  • Das Dirac-Meer mit einem loechrigen Loeffel ausschoepfen

    Auf einer Lesung in Berlin hat Dietmar Dath zur selbst gestellten Frage, was das alles soll, auf die Suppe, die sich selbst aufisst verwiesen – eine Erfindung der >Clever und Smart<-Figur Dr. Bakterius. Ins Politische gewendet, koenne man von einer Suppe, die sich selbst ausloeffelt reden. Den Unterschied zwischen Selbstverspeisung und Selbstausloeffelung macht der bewusste Umgang mit dem geeigneten Instrument.

    Das Bewusstsein ist politisch, das Instrument eine aesthetische und moralische Haltung, die Dath nicht zuletzt in seinem neuen Roman >Dirac< propagiert. Darin werden Szenen aus dem Leben des Physikers Paul Dirac (genial, gutaussehend, erfolgreich, in jeder Hinsicht unbestechlich, glueckliche Familie, enge Freundschaften) parallel zu Erlebnis- sen des Schriftstellers David Dalek und seiner Freunde erzaehlt. Deren Biographien sind zeitgemaess prekaer, haben aber ihre schoenen Momente, vor allem wenn es um Zusammen- halt geht. Daths Portraits aller Personen sind detailliert und liebevoll und durch sie wird anschaulich, welche Haltung gemeint ist.

    Soweit funktioniert die Sache mit dem Loeffel problemlos, und es dauert eine Weile, bis man begreift, dass es sich um einen speziellen Wundersuppenloeffel handelt. Der Science-Fiction- Teil, der zunaechst so aussieht wie um die Biographien herumkonstruiert, greift mehr und mehr in sie ein. Es geht um Manipulationen mit Hilfe der Diracschen Antimaterie-Theorie und um grosse Zahlen, Daleks Obsession fuer den UFO-Ab- sturzort Roswell und Andeutungen ueber ein aufkommendes Reptilienzeitalter. Hinter dem allen steckt wahrscheinlich Candela. Auf www.johannarauch.de wird die Fortsetzung eigentlich schon versprochen.