Die Vergeblichkeit der Erinnerung VII
Am Dienstagmorgen bei der Chefarztvisite mit nun vorliegenden Blutwerten entschied es sich, ob am Mittwoch (Ulrich war am Montagmorgen angereist) eine Punktion, eine Laparoskopie oder keines von beiden stattfinden sollte. Dieses Mal hatte er aufgrund der guten Werte Glück und er sollte nach einer letzten kurzen Sonographie am nächsten Tag bereits wieder die Heimreise antreten. Statt ihm hatte es dieses Mal seinen Zimmernachbarn erwischt, er würde punktiert werden. Schon stellte sich die Welt und die Zukunft für den einen als Erleichterung und für den anderen als Ungewissheit dar. Aber der große, athletisch wirkende Bettnachbar nahm es sportlich. Jetzt würde nun mal er ihm bei seiner Abreise sehnsüchtig vom Balkon aus hinterher sehen. “Irgendwer ist immer dran,” war sein lakonischer Kommentar. Das Schicksal mochte man an jedem anderen Ort betrügen, in einem Krankenhaus jedoch nie. Hier war man eine Puppe, die an unsichtbaren Fäden hing und die von der Willkür des eigenen Körpers und den Entscheidungen der Ärzte abhängig war. Eine Nacht also noch, zählte Ulrich, das würde für die erneute Lektüre des Rilke-Bandes nicht mehr reichen. Kurz nach seinem ersten Kasseler Daueraufenthalt hatte er sich den schlichten Band dreihundertdreiundvierzig der Suhrkamp Bibliothek gekauft. Auf der ersten Einbandseite stand mit Bleistift eingetragen 1/1976 und derselbe hatte auch schwache Spuren seiner Unterstreichungen damals hinterlassen:
“Und man hat niemand und nichts und fährt in der Welt herum mit einem Koffer und mit einer Bücherkiste… Hätte man doch wenigstens seine Erinnerungen.”
Der Malte in diesem autobiographischen Roman hatte an einem Tag in der Pariser Bibliothèque Nationale in seinem Tagebuch vermerkt:
“Ich sitze und lese einen Dichter. Es sind viele Leute im Saal, aber man spürt sie nicht. Sie sind in den Büchern. Manchmal bewegen sie sich in den Blättern, wie Menschen, die schlafen und sich umwenden zwischen zwei Träumen. Ach, wie gut ist es doch, unter lesenden Menschen zu sein.”
Seltsame Erinnerung
Ich hatte den „Malte“ das erste Mal in Istanbul gelesen, während ich für drei Tage krank von einer Infektion an irgendeinem verdorbenen Obst in meinem Hotelzimmer lag.
Doch weiß ich bis heute nicht, ob das als Erklärung ausreicht für das Luzide der Lektüre dieses Büchleins – an die ich deutliche, bei allem Elend überaus angenehme Erinnerungen habe! Vielleicht aber lag alles auch daran, dass es meine immerhin einzige Ablenkung gewesen war. Oder daran, dass das darin Beschriebene doppelt weit weg lag, als Ort wie auch als Bewusstseinlage einer definitiv vergangenen Zeit.
Den ersten Tag, als ich wieder raus und die Stadt erkunden konnte, traf ich eine finstere Type, die mir ein Klümpchen Opium verkaufen wollte. Er zeigte sie mir in einem Silberpapier. Ich hatte verschiedene Male Opium geraucht, und spürte sofort eine starke Versuchung zum Leichtsinn – aber vor allem wegen der Art „Rausch“, auf dessen Höhe mich das Buch gehoben hatte, von dem ich, bei aller Erleichterung über meine Gesundung, spürte, dass er für immer im Abklingen war, und dass ich ihn schon vermisste. Allerdings erinnerte ich mich auch an einen Freund, den ich besucht hatte, als er einmal in Hamburg mit einer lebensgefährlichen Gelbsucht wegen seinen Experimenten mit Opium in einem Tropenkrankenhaus lag.
Mehrere Male seitdem habe ich versucht, den „Malte“ wiederzulesen, aber kam nie mehr rein in den Text. Obwohl ich also etwas fast durchweg Angenehmes damit verbinde, ist das Buch mir zugleich verleidet. Es beweist und weist unerbittlich auf mein Unvermögen, mich wieder zu jener ersten Hellsichtigkeit aufzuschwingen.
Beziehungsweise sie überhaupt zu halten: Gott sei Dank hat es später immer wieder neue, weitere Bücher gegeben. Aber manchmal denke ich, dass dieses Ungenügen das eigentliche, unaufgedeckte Kranksein ist.
Alle unsere Erinnerungen wirken auf andere ja seltsam, weil es persönliche, individuelle sind, zu denen meist auch nur man selbst die einzigen Schlüssel in der Hand hält. Im Erzählen kann man wenigstens einen bescheidenen Abglanz von ihnen nach außen vermitteln und sie gleichzeitig auch ein Stück weit objektivieren. Den „Malte“ habe ich bisher auch nicht wieder gelesen, aber er bot sich jetzt als Zitatfundstelle an, weil dort auf eine radikalere Art auch autobiographisch erzählt wird. Von manchen Büchern bleiben uns die Anfangssätze in Erinnerung und da ich ziemlich oft selbst in Krankenhäusern gelegen habe, berührt mich der erste Satz des „Malte“, der Paris meint und seine „Hospitäler“ fokussiert, besonders: „So, hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier.“ Dieses „So“ wird gleich trotzig hingeworfen und dieser Ton (wir erkennen Schreibende ja nur an ihrem eigenen Sprachton) zieht sich durch das ganze Buch. Dass man Bücher mit Orten und gleichzeitigen Begebenheiten verbindet, an denen man sie gelesen hat, wie bei Ihnen Istanbul, ist häufig der Fall. In den bisher sieben Beiträgen zu „Die Vergeblichkeit der Erinnerung“ habe ich immer versucht Lektüre, Zitate und die „persönliche Erinnerung“ zu verbinden. Persönliche Erinnerungen an sich halte ich für banal und an der einen oder anderen Stelle bin ich sicher auch etwas rührselig, aber man findet eine eigene Sprach- und Erzählebene, wenn man zumindest versucht, aus ihnen kleine Erzählungen zu machen. Dann wird das Persönliche hoffentlich für andere auch wieder anders begreifbar und ergibt einen neuen Sinn. Ich bin (bisher) zu keiner großen Theatervorstellungen fähig, indem ich völlig frei erfundene Figuren oder sogar einen fiktiven Autor oder eine Autorin kreieren könnte. Es kommt mir so vor, als bliebe alles selbst Geschriebene immer fragmentarisch autobiographisch. Die einen empfinden das als Makel, da scheint immer das Authentische durch, die anderen können wiederum mit leblosen Figuren, die so gar kein wirkliches Fleisch an sich gebunden haben, nichts anfangen. Ob der Kompromiss das richtige wäre? Apropos Theater, da gibt es eine Stelle im „Malte“, die mir auch gut gefällt:
Auch beim Erzählen sind wir nur eine Hälfte, die die andere sucht, also schwebt jeder Text auf dieser imaginären Grenzlinie. Jetzt greife ich das Rilkesche „So“ mal auf: So, also an Opiumräusche erinnern Sie sich, mit eigenen Erfahrungen kann ich da nicht dienen, über ein halbes dutzend Haschpfeifen in der Jugend bin ich nie hinausgekommen.
Zum Schluss noch ein Themenwechsel. Ich habe gerade bei einer zweitägigen Herzkathederuntersuchung die kostenlose Kindle-Version von Franziska zu Reventlows Männertypisierung „Von Paul zu Pedro“ gelesen und war von der humorvollen, sprachlichen Eleganz dieses kleinen Brief“romans“ ganz angetan. Es ist doch immer so erfrischend desillusionierend, wenn wir Männer mal Einblick in die Psyche einer leidenschaftlichen und lebenshungrigen Frau erhalten. Wie merkwürdig manche Koinzidenzien sind. Heute morgen las ich gerade nach längerer Zeit wieder in Ihrem Blog.
Ich hatte es wohl falsch überschrieben: „Seltsam“ war nicht Ihre Erinnerung, sondern die mir ungefähr als Entsprechung vorkommende Konstellation zu meiner. Und der vielleicht nicht so fern verwandte Aspekt der Vergeblichkeit dabei. (Mein Opium war nur eine Reminiszenz an ein konkretes Kranksein einer- und den Flug andererseits, den manchmal eine lichte Lektüre schenkt.)
Ich habe eben mal reingeschaut, mein „Malte“ ist voller Unterstreichungen. Aber das Gesamtempfinden mit dem Buch ist jetzt ein unsicheres. Ich sollte es, bevor ich überhaupt noch etwas dazu sage, vielleicht doch erst noch mal lesen. Aber jetzt nicht.
Vielleicht das noch: Mit Rilke ist es seltsam. So sehr er als Dichter überragt, finde ich ihn doch als Radar-Denker – im Sinne Benns – und als genauen Formulierer oft interessanter (denn etwa als Sonettist). Ich habe mich eben gefragt, was aus ihm geworden wäre, hätte er mehr Prosa geschrieben. Seine Briefe fand ich oft anregender als seine Gedichte, die oft den Charakter von Übungen haben, Exerzitien, sich einem Kanon und für geltend erachteten Regeln zu unterwerfen und damit zu Ergebnissen zu kommen.
Zu Reventlow klingt interessant – ich hatte nur ihren Namen mal gehört, aber nichts gelesen. Überhaupt scheint die Zeit von vor hundert Jahren wert, sie viel genauer lesend zu erforschen. Neulich ein interessanter Film, müsste Ihnen auch aufgefallen sein über den „Monte Verità“ – wie die Utopien verschwinden und wiederkehren, und wie wir alle früheren Geistern hinterhängen und es meist nicht mal wissen.
Zum Bloggen komme ich mal wieder nicht, ein langer, mir immer wichtiger werdender Text (und dann doch ein paar Nebenarbeiten) absorbieren mich. Dabei hätte ich längst große Lust auf was ganz anderes …
(Jetzt sehe ich gerade, über die von höherer Warte uns so strikt untersagten „Rührseligkeiten“ wollte ich eigentlich noch etwas bemerken … denn auch sie können erhellend sein. Aber jetzt nicht.)
Es freut mich, dass sie trotz sicher wichtigerer „Text- und Nebenarbeiten“ Zeit finden, bei mir recht ausführlich zu kommentieren. Eine Gewichtung zwischen Poesie und Prosa, ob bei Rilke, Bolano oder wem auch immer erscheint mir nebensächlich, ich esse Birnen und Äpfel, süß oder sauer können beide sein. Die Syntax eines Gedichts ist ja zwangsläufig reglementierter als eine Erzählung. Mir fällt gerade kein Beispiel ein, aber besonders interessant schien mir immer ein Text, bei dem die Grenzen dieser beiden „Sprachgattungen“ verflossen. Vielleicht der „Tod des Vergil“ von Broch oder überhaupt poetische Prosa. Von der Rezeption her wahrscheinlich nur eine Geschmacksfrage. Vielleicht ist ein Gedicht ohnehin nur komprimierte Prosa und Erzähltes erst dann gut, wenn es sich der gleichen Genauigkeit bei der Wortwahl unterwirft (aber wem sage ich das).
Mein eigenes Schreiben finde ich selbst oft banaler als das, was ich in gelesenen Büchern finde. Dennoch wäre es wohl falsch, sich irgendwie epigonenhaft von der eigenen Schreibweise zu entfernen, um moderner oder zeitgemäßer zu klingen. Gut finde ich manche meiner Texte, wenn ich am Ende merke, dass ich selbst da doch unverkennbar drinstecke, Banalitäten und Rührseligkeiten hin oder her.
Reventlow war mir bei dem Besuch des Husumer Schlosses vor zwei Jahren noch einmal „über den Weg gelaufen“. Dieser plauderhafte, leichte Sprachton fasziniert mich, weniger die ach so unmoralische Seite ihres Lebenslaufes. Mit Oscar Wilde gesprochen:
„Es gibt weder moralische noch unmoralische Bücher. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben. Das ist alles.“
Danke für den Hinweis auf die arte-Dokumentation „Monte Verità„, habe ich übersehen. Leider fand ich nur noch einen Trailer der englischen Version „Freak out“„. Wenn man das sieht, kommt es mir so vor, als würde sich die Geschichte doch wie die Mode vielleicht in einem hundertjährigem Turnus wiederholen. Zumindest die Gier der Welt nach dem schnöden Mammon ist einfach nicht totzukriegen.