Die Vergeblichkeit der Erinnerung VII

Rilke_Malte Laurids BriggeAm Dienstagmorgen bei der Chefarztvisite mit nun vorliegenden Blutwerten entschied es sich, ob am Mittwoch (Ulrich war am Montagmorgen angereist) eine Punktion, eine Laparoskopie oder keines von beiden stattfinden sollte. Dieses Mal hatte er aufgrund der guten Werte Glück und er sollte nach einer letzten kurzen Sonographie am nächsten Tag bereits wieder die Heimreise antreten. Statt ihm hatte es dieses Mal seinen Zimmernachbarn erwischt, er würde punktiert werden. Schon stellte sich die Welt und die Zukunft für den einen als Erleichterung und für den anderen als Ungewissheit dar. Aber der große, athletisch wirkende Bettnachbar nahm es sportlich. Jetzt würde nun mal er ihm bei seiner Abreise sehnsüchtig vom Balkon aus hinterher sehen. “Irgendwer ist immer dran,” war sein lakonischer Kommentar. Das Schicksal mochte man an jedem anderen Ort betrügen, in einem Krankenhaus jedoch nie. Hier war man eine Puppe, die an unsichtbaren Fäden hing und die von der Willkür des eigenen Körpers und den Entscheidungen der Ärzte abhängig war. Eine Nacht also noch, zählte Ulrich, das würde für die erneute Lektüre des Rilke-Bandes nicht mehr reichen. Kurz nach seinem ersten Kasseler Daueraufenthalt hatte er sich den schlichten Band dreihundertdreiundvierzig der Suhrkamp Bibliothek gekauft. Auf der ersten Einbandseite stand mit Bleistift eingetragen 1/1976 und derselbe hatte auch schwache Spuren seiner Unterstreichungen damals hinterlassen:
“Und man hat niemand und nichts und fährt in der Welt herum mit einem Koffer und mit einer Bücherkiste… Hätte man doch wenigstens seine Erinnerungen.”    
Der Malte in diesem autobiographischen Roman hatte an einem Tag in der Pariser Bibliothèque Nationale in seinem Tagebuch vermerkt:
“Ich sitze und lese einen Dichter. Es sind viele Leute im Saal, aber man spürt sie nicht. Sie sind in den Büchern. Manchmal bewegen sie sich in den Blättern, wie Menschen, die schlafen und sich umwenden zwischen zwei Träumen. Ach, wie gut ist es doch, unter lesenden Menschen zu sein.”
Er erinnerte sich, dass Rilke irgendwo geschrieben hatte, man möge die dunklen, depressiven Seiten des Romans gegen den Strich lesen, dass in jeder tiefen Trauer und Enttäuschung immer auch der Nährboden neuer Schöpfungskraft läge. So ähnlich glaubte Ulrich es im Gedächtnis behalten zu haben, aber er zweifelte, ob eine Krankheit ähnliche Effekte haben könnte. Seine Gedanken zogen ihn zu dem Moment, wo er wieder in seinen Wagen steigen würde, um dieser Stadt den Rücken zu kehren, indem er auf dem kürzesten Weg die Autobahnauffahrt suchte.
Bei der letzten Morgenvisite am Mittwoch hatte nur der Professor selbst das Recht, die ersehnten Zauberworte zu sprechen, den magischen Schlüssel zum Entkommen: “Dann wollen wir ihn mal wieder ziehen lassen.” Für Ulrich klang sein Pluralis Majestatis so herrschaftlich und selbstsicher, wie ihn nur ein Gott in Weiß im Munde führen konnte. Der Tross der anderen Ärzte ging sowohl beim Betreten als auch beim Verlassen des Zimmers immer hinter dem Professor. Er musste an die weißen Schwäne des Balletts zurückdenken, die Kittel wehten förmlich aus dem Raum. Danach fiel man in ein Vakuum, egal ob die Erwartungen an die Visite nun erfüllt oder alle Kartenhäuser zusammen gefallen waren. Ulrich hatte sie eine Erlösung gebracht, denn in erster Linie ging es ihm darum, seinen Fluchtimpuls zu befriedigen. Nur weg, alles andere fand sich später. Immer ging es um einen letzten Aufschub, um einen Zeitraum außerhalb dieser Krankenhausmauern.
Der Dieselmotor des Daimler-Strich-Acht schluckte die Fahrbahn wie ein Brett und schnurrte dabei wie ein wärmendes Kätzchen. Im flimmernden Kaleidoskop der Sonnenstrahlen über dem Asphalt der Autobahn spiegelte sich seine ganze unbekannte Zukunft. Alles was noch nicht entzifferbar vor ihm lag und von dem er nicht die geringste Ahnung hatte. So ging es die Kasseler Berge mal hinauf und wieder hinunter, wie in einem Kinderkarussell hinter einem Mercedesstern sitzend, im Auf und Ab einer Achterbahnfahrt unter dem jetzt weiten, hellblauen Himmel. Wieder davongekommen, ein weiteres Mal auf dem Weg in so etwas wie Heimat.
Karussell