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Hundertvierzehn | Bericht
Feminismen: Rosa Liksom

Mit dem Beitrag der finnischen Schriftstellerin Rosa Liksom setzen wir das gemeinsame Projekt mit Logbuch Suhrkamp ›Feminismen: Wie wir wurden, wie wir leben, was wir sind‹ fort. Liksom berichtet von ihrer Kindheit in einem kleinen Dorf in Finnland und der aktuellen Situation der feministischen Bewegung in ihrem Land.

 
Rosa Liksom

Rosa Liksom, 1958 in Nordfinnland geboren, lebt heute in Helsinki und hat lange Zeit im Ausland verbracht (u.a. in der Sowjetunion, Dänemark und den USA). Sie studierte Anthropologie, arbeitete in den unterschiedlichsten Jobs und debütierte 1985 mit Kurzgeschichten, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Ihr erster Roman ist 1999 unter dem Titel ›Crazeland‹ auch auf Deutsch erschienen. ›Abteil Nr. 6‹ ist ihr dritter Roman, er wurde 2011 mit dem wichtigsten finnischen Literaturpreis ausgezeichnet, dem Finlandia-Preis, und ist mit 100.000 verkauften Exemplaren in ihrem Heimatland ein Bestseller. Neben dem literarischen Schreiben verfolgt Rosa Liksom eine künstlerische Karriere und malt, macht Comics und Kurzfilme.

Ich wurde in einem kleinen Dorf in Lappland geboren, unmittelbar an der Grenze zu Schweden. Ich war das jüngste von sechs Kindern und durfte gegenüber meinen Geschwistern relativ frei aufwachsen. Meine Eltern ernährten die Familie mit einer kleinen Landwirtschaft und Rentierzucht. Wir waren nahezu autark. Das Leben in so einem kleinen Dorf war noch in den 1960er Jahren ein täglicher Überlebenskampf. Das Verdienen des Lebensunterhalts zehrte alle Kräfte auf, somit bestand das Dasein meiner Eltern weit gehend aus purer Schufterei. Die beiden arbeiteten sehr gleichberechtigt Seite an Seite, aber die Entscheidungen traf mein Vater. Die anderen hatten keine Möglichkeit, Einfluss auf die Dinge zu nehmen, die das gemeinsame Leben unserer Familie betrafen, nicht einmal meine Mutter. Das erlebte ich als äußerst ungerecht. Warum besitzt mein Vater alle Macht, warum muss er seine Entscheidungen nie begründen? Meinen Eltern fehlte die Kraft, mich zu erziehen, und darum lehnte ich mich gegen meinen Vater auf. Ich forderte Rechte für meine Mutter und uns Kinder – vergebens. Diese Situation entzündete in mir den Funken zu kämpfen. Ich stellte die Frage, ob alles so sein musste, wie es war.

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Mit dem Projekt »Feminismen: Wie wir wurden, wie wir leben, was wir sind« von Thomas Meinecke und Antje Rávic Strubel setzen Logbuch Suhrkamp und S. Fischer Hundertvierzehn ihren im vergangenen Jahr begonnenen Austausch fort. Am 17. Juni erschienen die beiden Eröffnungsessays ›Wie ich Feminist wurde‹ von Thomas Meinecke und ›Hart am Wind‹ von Antje Rávic Strubel, über die sie sich im Gespräch austauschten. Am Montag folgte ein Text von Jennifer Clement, und am 25. Juni fand ein Live-Chat statt. Es diskutierten Jörg Albrecht, Paul Brodowsky, Olga Grjasnowa und Senthuran Varatharajah. Das Projekt wurde mit Beiträgen von Rosa Liksom, Annika Reich & Katharina Grosse, Isabel Fargo Cole, Inga Humpe, Marion Detjen, Alexander Kluge und Rachel Cusk fortgesetzt.

Als ich mit fünfzehn von zu Hause ausziehen konnte, um in der weit entfernten Stadt aufs Gymnasium zu gehen, begriff ich, wie hierarchisch, beschränkt und engstirnig das geistige Klima in meinem Heimatdorf gewesen war. Ich fing an, mich für die Gesellschaft und vor allem für ihre Veränderung zu interessieren. Ich fragte, ob man auf die Verhältnisse Einfluss nehmen, sie gar verändern kann. Ich interessierte mich für Geschichte und Soziologie und las, wie Menschen durch Kampf, Revolution und Gesetze die Gesellschaft verändert hatten. In meinem Denken inspirierten mich u. a. die deutsch-polnische Revolutionärin Rosa Luxemburg, die Bolschewikin Alexandra Kollontai, die RAF-Aktivistin Ulrike Meinhof und die Philosophin Julia Kristeva. So fing ich an, Einfluss zu nehmen, indem ich mich in diversen Bewegungen engagierte, in der Punkbewegung, in der Umweltbewegung, in der Hausbesetzerszene und in der Friedensbewegung. Ich hatte das Gefühl, im Handeln mit anderen die sozialen Entwicklungen beeinflussen zu können, und sah, dass es möglich ist, eine neue Gesellschaft aufzubauen. Bei meinen Aktivitäten in diesen alternativen Bewegungen merkte ich bald, dass dort üblicherweise die Männer redeten und entschieden, was getan wird. Sie waren die Anführer, den Frauen blieb die Rolle der zustimmenden Kaffeeköchinnen. Nach meinem Umzug von Lappland nach Helsinki und dem Beginn meines Studiums der Anthropologie an der Universität wurde mein Interesse für den Feminismus geweckt. Ich fand den Weg in die Frauenrechtsunion (Naisasialiitto Unioni), unter deren Dach junge Frauen eine radikalfeministische Künstlerinnengruppe namens Ekstaasi (Ekstase) gegründet hatten. Dort stieg ich ein. Wir machten Performances und Radiosendungen und beteiligten uns an feministischen Aktionen und am Befreiungskampf der Homosexuellen. Einige Frauen aus der Gruppe gründeten später das Institut für Frauenforschung an der Universität Helsinki. Als Mitglied von Ekstaasi begriff ich, dass die Kunst im besten Fall ein Stachel im Fleisch der Nation ist.

Die größten Früchte des Kampfes der Frauen um Gleichberechtigung, der in Finnland bereits im 19. Jahrhundert begonnen hatte, durften wir in den Jahren 2000-2006 ernten, als wir mit Tarja Halonen eine alleinerziehende Frau aus einer Arbeiterfamilie als Präsidentin hatten. Sie war eine erfrischende und radikale Präsidentin. Als junge Abgeordnete und Juristin war sie Vorsitzende der LBGT-Organisation SETA, die sich für sexuelle Gleichberechtigung einsetzt. Wir hatten also erstmals eine Frau als Präsidentin, und für kurze Zeit regierte in dieser Ära sogar zusätzlich eine Ministerpräsidentin. Die Zahl der weiblichen Abgeordneten hatte ihren Höhepunkt erreicht und die meisten Ministerposten waren an Frauen vergeben.

Gegen Ende des ersten Dekade dieses Jahrtausends machten sich zusehends andere Kräfte im geistigen Klima Europas breit, nämlich Fortführungen des Faschismus der Dreißiger Jahre, Rassismus, Nationalismus, Xenophobie, Rechtsradikalismus, Neoliberalismus, rechter Wertekonservatismus und Militarismus. Bald erwachten diese der Demokratie und der Gleichberechtigung fremden Ideologien und politischen Tendenzen auch in allen Ländern Nordeuropas. Und innerhalb weniger Jahre änderte sich der Geist auch in Finnland völlig. Weibliche Abgeordnete und Minister wurden von Männern abgelöst, zum Präsidenten wurde ein konservativer Mann gewählt, und in Unternehmen, die von Frauen geführt worden waren, saßen nun wieder Männer auf dem Chefsessel. Feminismus wurde zum Schimpfwort. Bei den Parlamentswahlen 2015 schnitten die erzkonservativen, fremdenfeindlichen Perussuomalaiset (Die Finnen) als zweitstärkste Partei ab. Wir mussten lernen, dass die Demokratie, wie in den Dreißigerjahren in Deutschland, auch im 21. Jahrhundert in Finnland undemokratischen Kräften zur Macht verhelfen kann. Die jetzige finnische Mitte-rechts-Regierung begünstigt Familien, in denen die Frauen zu Hause bleiben und sich um die Kinder kümmern. Die Rechte auf Tagesbetreuung werden eingeschränkt.

Wenn derzeit eine Frau Karriere machen will, sollte sie nicht öffentlich verkünden, Feministin zu sein. So weit sind wir gekommen, und es hat dafür nur wenige Jahre gebraucht! Die feministische Bewegung ist vor Schreck erstarrt. Der Kampf der Frauen um Gleichberechtigung muss von vorne beginnen, und das obwohl wir uns gerade erst eingebildet hatten, in den Ländern Nordeuropas liefe alles prächtig. Wir Frauen müssen den Mund aufmachen, mutiger, radikaler und aktiver sein, denn wenn wir uns nicht wehren, leben wir bald in einem neo-fennomanen, frauenfeindlichen Finnland, in dem die Frau wieder einmal ihren Platz zwischen Faust und Herd hat!



Aus dem Finnischen von Stefan Moster

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Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH
Frankfurt am Main 2020
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