Archiv für die Kategorie 'Rezensionen'

Papa hat sich erschossen

Mittwoch, 4. Februar 2015

Buchcover Papa hat sich erschossenAls ich Saskia Jungnikls Satz im „Album“, der Beilage in der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“ lese, fällt eine große Last von meinen Schultern. Auch ich unterliege dem –selbstauferlegten – Druck nach einem Todesfall möglichst schnell wieder zu funktionieren. Ich leiste Trauerarbeit und merke, dass ich in den in diesem Konzept beschriebenen Phasen nicht vorwärtskomme, immer wieder ganz vorne anfangen muss. Anscheinend werde ich mit meiner Trauerarbeit – ein Wort, das ich mittlerweile kategorisch ablehne – nie fertig. Ich bin ungeduldig. Ich bin wütend und frage mich, wann sich diese Trauer endlich vom Acker macht. Und dann gibt es den nächsten Satz, der mir den Kopf zurechtrückt: „Trauer gibt einen Dreck auf meine Ungeduld.“

Dabei hatte ich mit „meinem“ Todesfall Glück: kein Unfall, kein Mord. Kein Suizid – so wie bei Saskia Jungnikl, deren Vater sich 2008 erschossen hat. „Seit diesem Tag trinke ich schwarzen Tee mit Milch.“ Ihren „Bericht“ über diesen Tag, über die Zeit danach, über die Zeit davor verfasst sie in der Gegenwartsform, bleibt so ganz nahe am Geschehen, erlaubt keine scheinbare, abgeklärte Distanz. Die Zärtlichkeit, die Saskia Jungnikl mit ihren Eltern verbindet, braucht keine ausschweifenden Formulierungen. Sie nennt sie Papa und Mama – das genügt.

Saskia Jungnikl zeichnet ein unsentimentales Bild ihres Vaters und entgeht so dessen undifferenzierter Verklärung. In einigen Kapiteln lässt sie ihn selbst zu Wort kommen: in Kurzgeschichten und Gedichten. Sie zeigt ihn als widersprüchlichen Menschen: künstlerisch tätig und anpackend, willensstark und sensibel. Er neigt dazu, andere zu dominieren. Er fühlt sich schuldig am Tod seines Sohnes Till, der mit 26 Jahren stirbt; droht daran zu zerbrechen. Es gibt keinen Trost, nicht für die Schwester Saskia, nicht für die zwei anderen Brüder, nicht für die Mutter: „Doch dass mein Bruder alleine gestorben ist, dass ich nicht da war, das kann ich nicht verwinden. Niemand von uns kann das.“
Und was kann sie antworten, wenn jemand sie fragt, wie viele Geschwister sie hat? Zwei lebende? Drei prägende? „Ich bin Halbwaise, weil mein Papa tot ist, aber was bin ich, weil mein Bruder tot ist?“

Der Suizid des Vaters hinterlässt Fragen nach dem Warum, Schuldgefühle, Wut.
Jede/r in der Familie versucht auf die eigene Art, damit zurechtzukommen. Saskia Jungnikl hat viele Affären, trinkt viel, geht viel weg, unternimmt eine Reise nach Afrika. Nichts davon schafft „Abhilfe“. Renate, eine gute Freundin, hält zu der Trauernden, Um-sich-Schlagenden, Verzweifelten, andere Beschimpfende, Zynische; erträgt sie, scheut keine Auseinandersetzung mit ihr – obwohl auch die Freundin hilflos, ratlos, verzweifelt ist.

„Es heißt, dass jeder Suizidtote etwa drei bis fünf Angehörige hinterlässt.“ Suizid ist (nach wie vor ) ein Tabu. Von betroffenen Angehörigen gibt es selten etwas zu lesen oder zu hören. Saskia Jungnikl bietet als Angehörige keine Phrasen à la „Die Zeit heilt alle Wunden“. Sie bemüht sich, alles nach „Trauerbewältigungsanleitungen“ zu absolvieren; trotzdem ist sie frustriert von diesem Vor und Zurück. Langsam, aber sicher gibt es viele Tage, „an denen alles wie ein weit entfernter Schrecken hinter mir liegt“. Dass die Wunde endgültig verheilen wird, diese Hoffnung wird immer wieder zunichtegemacht. Ein Anknüpfen an das vorige Leben ist nicht mehr möglich. Diese Einsicht macht Angst. Sie macht unsicher. Sie schürt Zweifel. Sie ist jedoch unausweichlich; sie ist ehrlich – und ist genau deswegen Trost. Wahrscheinlich nicht nur für mich.

Petra Öllinger

Saskia Jungnikl: Papa hat sich erschossen.
FISCHER Taschenbuch, Frankfurt am Main 2014. 255 Seiten, € 15,50 (A)
Über Saskia Jungnikl

Armin Baumgartner – Almabtreibung

Sonntag, 25. Januar 2015

Armin Baumgartner ist für die LeserInnen des „Duftenden Doppelpunktes“ kein Unbekannter.
Als wir 2007 den Literaturpreis „Der Duft des Doppelpunktes“ zum Thema Arbeitswelt ausschreiben, ist er sofort bereit, seine Erfahrungen aus dem Literaturbetrieb zur Verfügung zu stellen und unterstützt als Tutor Johanna Vorholz, eine der zehn Preisträgerinnen des zweistufigen Wettbewerbs. Für die Anthologie „Rote Lilo trifft Wolfsmann. Literatur der Arbeitswelt“ , in ihr finden sich sowohl die Beiträge der PreisträgerInnen als auch der TutorInnen, stellt er den Text „Der Lohn“ zur verfügung
Als 2012 „Die Wucht des Banalen“ bei Kitab erscheint, freuen wir uns, im „Duftenden Doppelpunkt“, das Buch zu rezensieren. Der Beitrag erscheint mit dem Untertitel „Stamperl, Kredenz; und Karel Gott hängt neben Jesus“.

Armin Baumgartner ist ein unermüdlicher Schreiber. Für seinen Text „Das kupferne Fernrohr“ erhielt er 2014 den Alois Vogel-Literaturpreis.

Armin Baumgartner Almabtreibung Anfang 2015 nimmt Rudolf Kraus „Almabtreibung“ in der Bücherschau als einen „beunruhigenden Blick in die österreichische Seele“ wahr. Abschließend fasst er das Werk folgendermaßen zusammen: „Ein gewaltiger Text, voller Donnergrollen und ungestümer Schonungslosigkeit, aber gleichzeitig zart und verletzlich mit feinen poetischen Bildern.“

Baumgartner, Armin – Almabtreibung: Klagenfurt: Kitab 2014. 144 S. – br. : € 16.00, ISBN 978-3-902878-32-8

Die nächste Gelegenheit, Armin Baumgartner und „Almabtreibung“ kennenzulernen, ergibt sich am 30. Jänner 2015, gemeinsam mit Beppo Beyerl und Rudolf Kraus unter dem vielversprechendem Titel

Jetzt lachen wir noch

Wo: Gasthaus Assmayer, 1120 Wien, Klährgasse 3 (Ecke Aßmayergasse). Nähe U-Bahn-Station Längenfeldstraße,
Wann: Freitag, 30. 01. 2015, 19.30 Uhr
Wer: Armin Baumgartner, Beppo Beyerl, Rudolf Kraus

Die drei Wiederholungstäter Baumgartner, Beyerl und Kraus kehren traditionellerweise an den Tatort zurück und lesen diesmal explizit Texte über Abtreibung, Tod und Verschwinden.

In Zeiten von Kriegen, Krisen und Demokratieabbau hilft oft ein humoriger Blick auf das Schicksal der Menschheit.

Armin Baumgartner unternimmt in seiner Erzählung „Almabtreibung“ mit den Lesenden eine wahre Geisterbahnfahrt durch die österreichische Seele, bei der das Lachen allzu schnell gefriert.

Beppo Beyerl verschwindet nicht aus seinem Leben, sondern berichtet aus seinen „26 Verschwindungen, von Arbeiterzeitung bis Ziegelbehm“. Wer weiß schon, ob er da nicht selber vorkommt?

Rudolf Kraus dringt als Meister der integralen Lyrik an den Horizont seines Lebens und liest aus seinen Sprachminiaturen „tausend tode könnt‘ ich sterben“.

Gmeiner Verlag – Wien literarisch

Dienstag, 14. Oktober 2014

BagagepülchercafepilgramgasseU1

„Und manchmal weiß ich nicht, wo mir der Kopf steht vor lauter Wien.“1

Andreas Pittler Wiener Bagage

Es muss ja nicht immer das Riesendradl sein. Oder die kandierten Sisi-Veilchen. Oder der Steffl. Oder das Schönbrunner Gelb. Oder das goldne Wiener Herz. Obwohl, das goldne Wiener Herz, das hat schon was. Was resch-Herbes hat es, so ein „Schleichts eich! So a Bagage!“ Darunter kommt aber eh schon das Punschkrapferlrosa durch, wenn sich das Herz ein bisserl beruhigt hat. Überhaupt, diese Bagage.
Aber, das muss man ihm lassen, da hat sich der Gmeiner Verlag schon was traut, nennt ein Büchl „Wiener Bagage“. Mit Kriminalgschichten.
14 sind‘s, 14 historische Kriminalgeschichten. Vom Andreas Pittler. Sieben sind erfunden, die anderen sieben beruhen auf historischen Tatsachen. So basiert zum Beispiel „Der letzte Tanz“ auf den Februaraufständen 1934, und der Anhang in dieser Bagage bietet einen interessanten Einblick in historische, gar grausliche Ereignisse, die sich in der schönen Wienerstadt zugetragen haben. Ergänzt werden die Kriminalgeschichten durch ein Glossar, wo unter anderem das Geheimnis um Wiener Wörter wie Tschumpass oder Addendum gelüftet wird.

Andreas Pittler: Wiener Bagage. 14 Wiener Kriminalgeschichten. 283 Seiten

Anna Fuchs Der blaue Liebesknoten

Wer in der Historie ein bisserl weiter zurückreisen möchte, kann das mit Anna Fuchs’ „Der blaue Liebesknoten“ tun. In diesem Roman aus dem mittelalterlichen Wien gelangt man immerhin bis ins Jahr 1384, genauer gesagt startet der ganze Bahöö in Prag, am 13. Dezember 1378, am Tag des Heiligen Jodokus. Und was für Falotten sich da herumtreiben! Sakrament – ein toter Mönch, ein Anschlag auf die Herzogsfamilie, eine Klosterköchin, die als Giftmischerin verdächtigt wird, und man ist gar nicht zimperlich mit dem Aussprechen eines Todesurteils. Noch dazu eines besonders scheußlichen: am Stephansfriedhof lebendig begraben werden soll sie, Johanna, Hannerl, Maipelt. Da helfen auch die vielen Heiligen – zumindest auf den ersten Blick – nix, denen die einzelnen Tage gewidmet sind. Zum Beispiel der 26. Juli 1384, der Annentag, der mit der Bemerkung beginnt: „Ich sag euch ja, die sind ein himmelschreiend verrücktes Volk, die Wiener, heute zum Beispiel musste ich allen Arbeitern freigeben, deren Mutter, Frau oder Tochter Anna heißen! …“
Sakrament! Vielleicht sind‘s dann doch die Heiligen, die Hannerl vor ihrem Schicksal bewahren, auf dass sie die wahren Schlawiner entdeckt …

Anna Fuchs: Der blaue Liebesknoten. Hannerl ermittelt. 501 Seiten

Gerhard Loibelsberger Kaiser Kraut und Kiberer

Zurück zum Anfang des 20. Jahrhunderts – und kein End mit dieser Bagage; und diesen Pülchern und Fetzenschädeln! Mit der muss sich Inspector Joseph Maria Nechyba herumschlagen. Der Herr Autor, Gerhard Loibelsberger, lässt in „Kaiser, Kraut und Kiberer“ den koch- und essfreudigen Mann des Gesetzes nicht nur in Wien ermitteln, sondern schickt ihn in den dreizehn Kurzgeschichten auch nach Venedig (Nechybas Hochzeitsreise plus Diebstahl) und Freiburg (Einfangen eines homosexuellen Erzherzogs).
Derweil bekommt am Naschmarkt in Wien der Begriff Wurstfinger gleich eine ganz andere Bedeutung, wenn ein Finger, der vorher in der Faschmiermaschine verwurschtet wurde, in eben dieser Wurst, in der „Schoafen“, steckt. Und im Prater, da blühen nicht die Bäume, sondern es wird sich duelliert, und so manches Wiener Café entpuppt sich auf den zweiten Blick als Tschecherl mit gar verdächtigen Besuchern.

Gerhard Loibelsberger: Kaiser, Kraut und Kiberer. Ermittlungen im alten Wien, in Venedig und Freiburg. 279 Seiten

Gerhard Loibelsberger Wiener Seele

Der Herr Autor, Gerhard Loibelsberger, schickt nicht nur den Herrn Jospeh Maria Nechyba durch die Wienerstadt, er tut dies auch mit zeitgenössischen Autorinnen und Autoren. Dreizehn an der Zahl (u. a. Cornelia Travnicek, Peter Henisch) schreiben „Spannendes und Skurriles aus der Donaumetropole“ über die „Wiener Seele“. Die reißt eine/n um zwischen Punschkrapferlrosa und Bagage!-Rufen, eine Zwiespältigkeit, die durch manche Zeilen hindurchblitzt, zum Beispiel in Ekaterina Heiders Text „Trotz allem geblieben. Zwischen Ottakring, Karlsplatz, Christkindlmarkt und AMS“, wo „Geschichten gesehen, gehört“ und „manchmal wieder ausgekotzt“ werden.

Gerhard Loibelsberger (Hg.): Wiener Seele. Spannendes und Skurriles über die Donaumetropole. 283 Seiten

Petra Öllinger

1: Aus Ekaterina Heider „Trotz allem geblieben. Zwischen Ottakring, Karlsplatz, Christkindlmarkt und AMS“, erschienen in „Wiener Seele. Spannendes und Skurriles aus der Donaumetropole“.

Kaffee in Wien – das Weltkulturerbe im Häferl

Donnerstag, 11. September 2014

Eine kleine Hommage des Holzbaum Verlages an den Kaffee in Wien

Kaffee in Wien Holzbaum Verlag Wenn man sein Wiener Stammcafé hat, dann hat man’s. Und will gar kein anderes kennenlernen, denn nirgendwo sonst gibt es einen, wie den Herrn Hans. Oder eine wie die Frau Isolde. Die brauchen nicht mehr zu fragen: „Was darf‘s sein?“ Weil man doch seit Jahr und Tag den kleinen Braunen trinkt. Oder den Verlängerten. Oder den Doppelmokka.
Dann schielt man doch ins Büchlein „Kaffee in Wien“, bleibt fürs Erste skeptisch und fragt sich: „Steht da überhaupt auch was über Kaffeemaschinen?“ Man blättert darin und findet einen kurzen Abriss darüber. Sogar der Filterkaffee hat einen Auftritt. Man nimmt einen Schluck vom kleinen Braunen. Oder vom Verlängerten. Oder vom Doppelmokka. Und liest über die verschiedenen Röstungen. Jaja. Aber über die Mehlspeisen? Steht auch was drinnen. Man bestellt im Stammcafé einen warmen Apfelstrudel. Oder einen Milchrahmstrudel. Oder ein Paar Sacherwürschtel. Nun gut. Aber über die neuen, jungen Kaffeesieder/inn/en? Ja, steht auch was drinnen. Und die Röstereien in Wien? Ha! Schon reibt man sich schadenfroh die Hände. Zu früh! Naber und Co. – alle da.
Man blättert im Register und linst nach dem Stammcafé. Steht da etwas darin? Hätte man es nicht ahnen können? Man gibt sich geschlagen. Auch wenn es einem bei Schlagsahne oder bei lecker in einem Büchlein über Wiener Caféhäuser ein bisschen flau wird. Aber schon eilt der Herr Hans, oder die Frau Isolde, herbei und serviert einen zweiten kleinen Braunen. Oder Verlängerten. Oder Doppelmokka. Danach geht’s wieder besser.
Doch nun ist man schon der Versuchung erlegen. Man leert ein bisschen schneller als sonst die Tasse. Schnappt sich das Büchlein, stromert durch die Stadt. Vielleicht findet man doch einen weiteren Ort mit einem Herrn Hans. Oder einer Frau Isolde.
Ein zweites Stammcafé – warum nicht?
Oder ein drittes …

Petra Öllinger

Holzbaum Verlag: Kaffee in Wien. Wien, 2014. 128 Seiten. Euro 9,90

Birgit Ebbert – Brandbücher

Montag, 8. Juli 2013

Die Autorin, Leseförderin und Erich-Kästner-Spezialistin Birgit Ebbert hat mit „Brandbücher“ ihren ersten Roman für Erwachsene veröffentlicht.
Wie im Titel schon anklingt, bildet die Bücherverbrennung den roten Faden der Handlung.

Dieser „… besteht aus zwei oder sogar drei Geschichten. Im Mittelpunkt steht eine junge Frau, die alte Postkarten findet und versucht herauszufinden, was es damit auf sich hat. Es wird schnell deutlich, dass es einen Bezug zum Dritten Reich gibt und die Folgen bis in die heutige Zeit reichen. Die beiden anderen Handlungsstränge spielen im Frühjahr 1933. Die Haushälterin eines jüdischen Buchhändlers beschreibt auf den Postkarten, wie sie die zunehmende Judenverfolgung erlebt. Der Leser kann außerdem verfolgen, wie der Sohn des Buchhändlers und sein Freund in die Geschehnisse hineingeraten. Sie studieren beide in Münster und erleben die Vorbereitung und Durchführung der Aktion wider den undeutschen Geist, zu der die Bücherverbrennung gehörte, mit“.

Bereits vor mehr als zehn Jahren hatte Birgit Ebbert eine Site über die Bücherverbrennung ins Netz gestellt. Ihre langjährige Beschäftigung mit dem Thema Bücherverbrennung und Nationalsozialismus bildet den Garanten, dass bis hin zu den Details der Handlung ein realistisches Bild dieser Zeit in Ihrem Buch vermittelt wird.

Am kommenden Mittwoch, dem 10. Juli, findet die Buchpremiere im Rahmen einer Autorinnenlesung in Hagen im Theater an der Volme statt. Karten und weiterführende Informationen gibt es direkt im Theater.

Brandbuecher

Birgit Ebbert: Brandbücher. Gmeiner Verlag, Meßkirch 2013, 281 Seiten, € 11,95 (D)

Weiterführende Links:
Birgit Ebbert- Romane für Groß & Klein
Leseerziehung
Erich Kästner im Netz
Bücherverbrennung

Jan Ulrich Hasecke – „Ich bin doch auch ein Hitlerjude!“

Donnerstag, 4. Juli 2013

Gefahrvoller Humor – Flüsterwitze im Nationalsozialismus

Eine Ziege, eine Kuh und ein Esel stehn in Österreich in der Nähe der deutschen Grenze. Die Ziege geht nach Deutschland, kommt aber sofort zurück und sagt: »In Deutschland darf man noch nicht einmal meckern.« Die Kuh geht auch, kommt sofort zurück: »In Deutschland wird man zuviel gemolken.« Der Esel geht auch nach Deutschland und kommt nicht zurück. (In Deutschland wird jeder Esel Amtswalter).

In einem dunkelblauen Schreibheft hielt die Tante von Jan Ulrich Hasecke kurz nach 1945 unter dem Titel „Humor während und nach der Regierungszeit Hitlers“ zahlreiche Witze und Anekdoten fest, die während des Nationalsozialismus und kurz danach entstanden sind.
Die Sammlung enthält neben regimekritischen Flüsterwitzen sowohl Witze über Deutschlands Kriegsgegner als auch über Mussolini bzw. das verbündete Italien und einige wenige antisemitische Witze. Die Witze werden, wenn erforderlich vom Herausgeber durch klärende Erläuterungen ergänzt.

Folgende Anekdote gab dem Buch seinen Titel: Die Kinder wollen mit dem Judenjungen Herz in Ohligs nicht mehr spielen. Der Kleine sagt: „Ach, spielt doch wieder mit mir, ich bin doch auch ein Hitlerjude.“

Das Buch gliedert sich in drei Teile:
Nach der Machtergreifung
Im Krieg
In der Nachkriegszeit

Die Menschen nahmen mit Hilfe von Flüsterwitzen zu nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens im Deutschen Reich Stellung. Die NationalsozialistInnen reagieren darauf bereits 1934 mit dem „Heimtückegesetz“ bzw. mit dessen Paragrafen 2: „Wer öffentlich gehässige, hetzerische oder von niederer Gesinnung zeugende Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates oder der NSDAP, über ihre Anordnungen oder die von ihnen geschaffenen Einrichtungen macht, die geeignet sind, das Vertrauen des Volkes zur politischen Führung zu untergraben, wird mit Gefängnis bestraft.“
Ab 1938 wird für die Verbreitung von Flüsterwitzen, die sich aus der Sicht der NationalsozialistInnen als „wehrkraftzersetzend“ erweisen, die Todesstrafe verhängt. Nach dem Sieg der Roten Armee in Stalingrad kommt es zu einer weiteren Verschärfung der Repressionen. Flüsterwitze für die 1938 „lediglich“ eine Gefängnisstrafe verhängt wurde, werden nun mit dem Fallbeil „gesühnt“.

Ich bin doch auch ein Hitlerjude

Jan Ulrich Hasecke: „Ich bin doch auch ein Hitlerjude!“ Witze im 3. Reich. Gesammelt und aufgeschrieben von Annegret Wolf (geb. Hasecke), herausgegeben von Jan Ulrich Hasecke

Taschenbuch und E-Book für Kindle bei Amazon

Zehnter Todestag von Erich Zwirner

Mittwoch, 17. April 2013

Der „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ gibt zur Erinnerung an den zehnten Todestag des Arbeiters und Schriftstellers Erich Zwirner eine Broschüre heraus.

Erich ZwirnerErich Zwirner wurde 1928 in Mürzzuschlag geboren und hat sein gesamtes Arbeitsleben in der Stahlindustrie verbracht. Er beschrieb diese Arbeitswelt in zahlreichen Prosatexten mit größtenteils autobiografischen Zügen. Er starb am 17. April 2003.

Wir hatten das Glück, in Mürzzuschlag-Hönigsberg einen Arbeiter zu haben, der schreibend und ohne „höhere Bildung“ seine Interessen formulieren konnte, denn das hat seine Arbeit mit sich gebracht- darum war er auch so unverfälscht realistisch. Das sollten wir schätzen und nutzen, in dem wir wieder auf seine Literaur zurückgreifen und aus seinen erlebten Geschichten lernen. Denn diese Arbeitswelt gibt es immer noch.

In einem Brief an Helmut Brenner aus dem Jahre 1990 schreibt er über seine Kriegsjahre: „Wenn ich heute in mein Arbeitsbuch schaue, kann ich nur den Kopf schütteln, wie schnell alles durchgepeitscht wurde, um ja früh genug als Soldat zur Verfügung zu stehen. Am 14. August 1942 hatte ich schon mein Arbeitsbuch, obwohl ich erst am 22. September 14 Jahre alt wurde. Meine Lehrzeit als Schlosser dauerte 2 Jahre und 2 Monate und schon konnte ich die Freisprechung antreten (Lehrbrief vom 7. Dezember 1944). Nach der Kapitulation 1948 in jugoslawischer Gefangenschaft. Ich war genau 18 Jahre und 5 Monate alt, als ich nach drei Jahren heimkam.“

Gleich danach nimmt er seine Arbeit bei den Schoeller-Bleckmann-Edelstahlwerken als Walzer auf. Er wird danach fast alle Bereiche des Werkes als Oberbau- und Platzarbeiter, Kessel- und später bis zur Pensionierung als Umspannwärter kennenlernen. 1978 erhält er den Literaturpreis der Arbeiterkammer Steiermark. Erich Zwirner nimmt auch, als Mitglied der steirischen Werkstatt „Literatur der Arbeitswelt“, an zahlreichen Lesungen teil. 1983 erhielt er den Peter-Rosegger-Preis der Stadt Mürzzuschlag, 1986 den 2. Preis beim Paula-Grogger-Erzählwettbewerb und 1991 den Theodor-Körner-Preis für Wissenschaft und Kunst verliehen.

So sollte uns Erich Zwirner in Erinnerung bleiben: als ein ewig suchender und lernender Arbeiter, der durch sein Schreiben nicht nur sein Leben, sondern auch die Zeit seines Daseins in der Arbeitswelt in seinen Schriften seiner Generation wie auch der nächsten vermitteln wollte.

Text: Werner Lang

Werner Lang Hg., Erich Zwirner Schreib! Arbeiter! Edition Tarantel, 61 Seiten, 10.- €. Bestellung: Werkkreis Literatur der Arbeitswelt – Werkstatt Wien

Werner Lang: Arbeitswelten in Bild und Wort

Montag, 25. März 2013

Werner Lang ist als Autor ein Stiller im oftmals geräuschvollen Literaturbetrieb.

Werner Lang, Arbeitswelten in Bild und WortEr kommt aus Betrieben, in denen die Geräusche von Maschinen und Werkzeugen nicht selten so laut sind, dass sie alle menschlichen Äußerungen übertönen. Er kämpft dagegen mit Worten an. Seine jahrzehntelangen Erfahrungen in der industriellen Arbeitswelt hat er zu Literatur verdichtet, die sich nicht mit dem Ausdruck des sinnlich Empfundenen und Erlittenen begnügt. In Werner Langs Literatur werden darüber hinaus die Bedingungen von Lohnarbeit theoretisch reflektiert und in eine Begrifflichkeit gegossen, die ihre Herkunft und Bildung im Denken der marxistisch inspirierten Arbeiterbewegung erkennen lässt.

Einen Teil seines Schaffens hat er im vorliegenden Auswahlband Arbeitswelten in Bild und Wort zusammengefasst, der mit Grafiken und Collagen des vielseitig produktiven Werner Lang illustriert ist.

Vielfältig sind auch die Resultate seines Schreibens: Wenngleich Prosa den Schwerpunkt bildet, so versucht sich Lang auch in der Dramatik (Theater: Vor Ort S.34ff., Herzbluttheater „Aktion T 4“ Hartheimer Vergangenheits-Zukunfts-Spiel S.64ff.) und der Lyrik. Er nennt sie Beschädigte Lyrik, in der er die Gefühle bei der Wiederbegegnung mit der entfremdeten Heimat in Mürzzuschlag-Hönigsberg (Geheimatet S.80) ausdrückt und angesichts der verstorbenen Herkunftsfamilie Trauer und Erschütterung vermittelt (Lyrik S.80), weil die Rückkehr zu den Wurzeln für immer unmöglich geworden ist.

Überhaupt sind Beschädigungen ein Leitmotiv Werner Langs für die Zuordnung seiner Texte in die Kategorien Grundlegende Beschädigungen und Verinnerlichte Beschädigungen – es darf vermutet werden, dass hier auch das persönliche Trauma eines schweren Arbeitsunfalls einfließt, dessen Verletzungsfolgen ihn in die Frühpension zwangen.

Werner Lang thematisiert Arbeitsabläufe und Arbeitsleid, wenn er über den Verkauf von Arbeitskraft (Wie verkaufe ich meine Zeit S.10ff.) oder über den erzwungenen Arbeitsplatzwechsel an einen anderen Firmenstandort (Mündliche Mitteilung vom Betriebsratsobmann an Ersatzbetriebsrat S.78ff.) schreibt und auch hier wählt er verschiedene Ausdrucksformen: Opfer der Produktion (S.6ff.) wird als Sprechtext eines Arbeiterdichters in Brecht’scher Manier und lehrstückhaft vorgetragen und der stille Tod am Arbeitsplatz wird sowohl aus äußerer Sicht (Am Tag als Ganglbauer sitzen blieb S.62) als auch in Form eines inneren Monologs (Zehn Minuten im Kopf von Ganglbauer S.63) betrachtet.

Anhand einer Mülldeponie abgehandelte ökologische Fragen (Lieber Löffel! S.70ff.), der Rechtspopulismus der FPÖ (Stammtischanalysen S.60f.) und eigene Erfahrungen Langs auf einer Baustelle der VOEST-Alpine-Montage in Weißrussland (Reisebericht S.32f.) haben ebenso Eingang in den Sammelband gefunden, als dessen Höhepunkt die Erzählung Stramms letzte Liebe (S.14ff.) gewertet werden kann: Ein großartiger, beeindruckender und berührender Text mit autobiografischen Elementen.

Für Arbeitswelten in Bild und Wort muss Werner Lang herzlichst gedankt und ihm persönlich gewünscht werden, seine Literaturproduktion ungebrochen fortsetzen zu können. Er verkörpert eine Stimme, die mehr Aufmerksamkeit verdient.

Heimo Gruber

Werner Lang: Arbeitswelten in Bild und Wort. Hrsg. v. Werner Lang, Ungargasse 40/7-8, 1030 Wien in Zusammenarbeit mit dem VEWZ Literaturverein.
Wien: VIZA Edit 2012. 80 Seiten. ISBN 978-3-900792-31-2 € 45,–