Günter Saalmann [1] ist ein arrivierter Autor von Kinder- und Jugendbüchern, mit der „Fiedlerin auf dem Dach“ stellt er seinen ersten Roman auch für Erwachsene vor. Publiziert wird das Buch vom kleinen Eichenspinner Verlag in Chemnitz [2], es wurde in die Hotlist von Erscheinungen unabhängiger Verlage gewählt. Die nachfolgende Besprechung erfolgt im Rahmen dieser Preisvergabe.
Klawdia Wessely ist noch nicht lange in Berlin. Vor fünf Monaten ist sie mit ihrer Familie aus Kasachstan nach Deutschland ausgereist, der Vater mit seinem altertümlichen Schwäbisch, die Mutter mit den paar Brocken Deutsch, die sie sich mühsam angeeignet hat und die beiden Kinder, der 20jährige Wolodja und sie, die ein Jahr jüngere Klawdia, Studentin der Pädagogik, die jetzt mit einer Geige auf dem Dach des Hochhauses steht und in die weite Landschaft schaut, die sie an ihre kasachische Heimat erinnert. Sie steht vorne, an der Kante, unten, im Hof, sind eine Menge Menschen zu sehen, klein wie Ameisen…
Es lief gut für die Wesselys, sie kamen problemlos durch den Zoll, sie trafen auf eine alte Bekannte der Mutter, noch aus kasachischen Zeiten, aber schon seit einigen Jahren in Berlin. Diese half ihnen und so bekamen sie schnell eine eigene Wohnung, konnten das Heim verlassen. Bei ihrer Ankunft ist es Ostern und die kurz vor ihrer Ausreise verstorbene Großmutter hat ihnen einen großen Sack getrockneter Pilze mitgegeben, dem traditionellen kasachischen Ostermitbringsel. Doch diesmal war etwas anders: im großen Sack mit Pilzen war noch ein kleiner Koffer versteckt, den sie unwissentlich durch den Zoll geschmuggelt hatten: eine alte, wertvolle Geige, ein Familienstück, das schon lange als vermisst galt (angeblich – so die Oma seinerzeit – gegen eine Seite Speck eingetauscht…). Mit dieser Geige könnte sich Klawdia ihren Herzenswusch erfüllen, nämlich auf´s Konservatorium zu gehen und sich zur Soloviolinisten ausbilden zu lassen. Man könnte sie aber auch verkaufen, um sich den Start in Deutschland zu erleichtern…
Obwohl Wesselys das Glück hold ist, zerren die deutschen Verhältnisse am Familienzusammenhalt. Der Vater findet zwar Arbeit und die Mutter besucht ihren Sprachkurs, aber Wolodja zieht bald aus, er hat Anschluss an etwas undurchsichtige Typen gefunden. Klawdia wird im Jugendclub „HDV“ („Haus der Völker“) heimisch, hier kann sie an den Vormittagen ungestört auf ihrer Geige üben, denn der Vater konnte einen guten Deal machen, zwar hat er die Geige verpfändet, aber er musste sie nicht hinterlegen…
In diesem Jugendclub treten wie unter einem Brennglas die Probleme der verschiedenen Gruppen von Auswanderern auf. Kosovaren, die vor dem Balkankrieg geflohen sind, Russen, Aussiedler und der neofaschistische Bodensatz Berlins: sie treffen hier aufeinander und können vom Clubleiter oft nur mühsam in Schach gehalten werden. Die Situation eskaliert schließlich, als der Schrank, in dem Klawdia ihre Geige immer eingeschlossen hat, aufgebrochen und die Geige gestohlen wird. Denn eigentlich kann nur Alban, der Kosovare, der Dieb sein, ein Junge, der das Instrument ein paar Wochen zuvor mit teuflischer Präzision gespielt hat…. und somit sehen sich Leute um Odin in der Pflicht, den Kosovaren einen Denkzettel zu verpassen….
Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Fiedlerin auf dem Dach eine eher ruhig verlaufende Erzählung, die eben über das Schicksal dieser Familie Auskunft gibt. Mit dem Diebstahl der Geige jedoch bricht die dünne Decke des Waffenstillstands unter den einzelnen Parteien, die im HDV verkehren, ein, die bislang mehr oder weniger in Schach gehaltenen Aggressionen treten offen zu Tage. Die Geige, bzw. deren Diebstahl, wird instrumentalisiert, um sich zur „Schlacht“ zu verabreden, einem kleinen Abbild des großen Schlachtens, unten im (ehemaligen) Jugoslawien. Es wird eine kurze, aber blutige Auseinandersetzung und ausgerechnet Klawdia findet zwei Schwerverletzte, von denen einer ihr Bruder ist, von dem sie keine Ahnung hat, wie er dorthin gekommen ist…. und schließlich ist er es, der Klawdia den Schlüssel in die Hand gibt, mit dem diese das Netz, das schon seit vielen Monaten um sie, die Wesselys, ohne ihr Wissen, gewoben worden ist, lösen kann…
Klawdia ist nicht die Ich-Erzählerin des Romans, aber die Geschichte wird aus ihrer Sicht geschildert. Manchmal wechselt der Erzähler in eine auktoriale Rolle, wenn er etwa aus ihrem Notizbuch (in das sie z.B. neu gelernte deutsche Wörter und Redewendungen notiert) zitiert. Klawdia ist eine intelligente, musisch hochbegabte, synästhetische (Farben, Töne, Gerüche) Frau, die in Deutschland auf einmal die Möglichkeit sieht, sich ihren Traum von der Karrieren als Geigerin zu erfüllen, ein Traum, der auf bittere, bitterste Art platzen sollte. War er von Anfang an nur eine Illusion? In seiner letzten Szene kommt Saalmann auf seinen Eingangsabschnitt mit Klawdia auf dem Hochhaus zurück: Sie steht dort am Rand des Hauses, schrammelt auf dem alten, schlechten Stück Geige, das sie in der Hand hält, der Bogen fällt vom Dach nach unten, wo die Menschen sich formieren…
Sie springt nicht.
Die Wesselys sind in Deutschland angekommen.
Es ist ein rätselhafter Satz, mit dem der Autor seinem Roman enden läßt. Jetzt, nach all dem Unglück, das die Familie heimgesucht hat, der die Tochter bis kurz vor den Suizid trieb, jetzt sind sie in Deutschland angekommen? Ein Satz, den jeder für sich interpretieren kann…
Fiedlerin auf dem Dach – der Romantitel erinnert nicht umsonst an den Fiddler on the Roof, jenes bekannte Gemälde Chagalls. Nicht nur, daß Klawdia zur Fiedlerin auf dem Dach wird, das Gemälde war für sie in der alten Heimat ein Zeichen ihrer ersten großen Liebe, der in der neuen Heimat aber bald eine andere folgte, die sich als sehr falsch erweisen sollte… wenn es denn Liebe war… vielleicht war es auch nur Einsamkeit und die Sehnsucht, diese Kälte ums Herz herum für ein paar Augenblicke zu verscheuchen. So ist das Buch nicht nur ein Blick in die triste Szene derjenigen, die von Krieg, Hunger und Elend vertrieben wurden, auf diejenigen, die mit der Hoffnung auf ein besseres Leben in das Land ihrer Vorväter zurückgekehrt sind, es ist auch eine Geschichte über eine junge Frau, die sich zurechtfinden muss, sie sich selbst finden muss und die ihren Weg suchen muss….
Die Geschichte unten, auf dem Hof, auf den man vom Dach aus schaut, geht weiter, sie geht immer weiter, sie wird nie enden. Wie dieses eine Kapitel hier auf dem Hof des HDV enden wird, erfahren wir nicht, der Autor belässt es bei Andeutungen, wir erfahren auch nicht, wie es mit den Wesselys weitergeht, wenn Claudia wieder vom Dach heruntersteigt. So bleibt die Geschichte offen – in alle Richtungen… ich hätte ihnen jedenfalls mehr Glück gewünscht, ein besseres Schicksal zu haben, als nur Spielball zu sein…
Fiedlerin auf dem Dach ist – obwohl in diesem Milieu angesiedelt – kein ausgesprochener Aussiedler- oder Asylantenroman (der angesichts der aktuellen Vorfälle in NRW [3] sicher not täte), dazu geht er zu wenig in die Tiefe, verwendet er zu sehr Stereotypen – die von Saalmann selbst gewählte Bezeichnung „Schwarz“ bzw „Weiß“ deutet dies an (wobei mit den Begriffen keine moralische Bewertung verbunden ist!). Aber trotzdem zeigt er die Menschen gefangen und eingebunden in reflexhafte Handlungsschemata, wie die Pawlow´schen Hunde reagieren sie nach bestimmten Mustern auf bestimmte Reize. Selbst (oder gerade?) in so extremen Situationen wie nach einer Flucht, auf der man alles verloren hat, kommen die Menschen nicht aus ihrer Haut heraus, fast scheint es, als würden die angestauten Aggressionen alles nur noch schlimmer machen.
In der Hauptsache aber schildert der Roman die Entwicklungsgeschichte einer jungen Frau, über die sich in der zweiten Hälfte in einer Art Krimi ein minutiös und langfristig geplanter Betrug, mit dem eine einfache und harmlose Familie übers Ohr gehauen wurde, stülpt – ein Betrug, der alle Beteiligten einen hohen Preis abverlangt.
Saalmanns Roman ist mit seinen gut 200 Seiten ein schmales Bändchen, gegliedert in viele kleinere Kapitel, flüssig und einfühlsam, im letzten Teil auch spannend, geschrieben. Er macht nachdenklich, hinterläßt Fragen, bringt zum Grübeln. Er ist – kurz gesagt – lesens- und empfehlenswert und nicht nur für Erwachsene!
Links und Anmerkungen:
[1] Wiki-Seite zu Günter Saalmann
[2] Kleinverlag ist „hot„
[3] z.B. hier
Günter Saalmann: Fiedlerin auf dem Dach. Eichenspinner Verlag 2014, 208 Seiten, 12,90 €.
Herzlichen Dank an flattersatz von aus.gelesen für diesen Gastbeitrag!
Bisherige Rezensionen zur Hotlist 2014:
» Sarah Schmidt: Eine Tonne für Frau Scholz (Verbrecher Verlag)
» Emrah Serbes: junge verlierer (binooki)
» Lili Grün: Mädchenhimmel! (AvivA Verlag)
» Andri Pol: Menschen am CERN (Lars Müller Publishing)