Jahr: 2015

Marcel Reich-Ranicki: Meine deutsche Literatur seit 1945

Es kommt sogar vor, dass besonders naseweise Kunden bei Felix Jud in Hamburg Herrn Weber gegenüber äußern, ihre Werke dürften nicht nebeneinander stehen.* Die Abneigung der beiden deutschen Großkritiker Fritz J. Raddatz und Marcel Reich-Ranicki ist legendär, aber mit zunehmenden Jahren, so liest man in den Tagebüchern des Ersten, durch Altersmilde abgeschwächt worden. Die große Zeit als Widersacher, sei es als Kritiker in der Gruppe 47 oder als Feuilletonisten bei FAZ und ZEIT, war da schon länger vorbei.

Eva Demski – “Ich bin der Postillion d’amour” – überbrachte mir “allerherzlichste” Grüße von Reich-Ranicki, der mir ausrichten ließ, er liebe und verehre mich und verfolge alles, was ich tue.

Tagebücher Fritz J. Raddatz – Band II – 21. März 2005

Nun soll dieser Beitrag nicht aber zur ewigen Debatte Beatles oder Stones (Beatles!), FJR oder MRR (FJR!) werden, sondern vielmehr den neuen Sammelband von Rezensionen und Essays Reich-Ranickis verhandeln: Meine deutsche Literatur seit 1945. Und doch noch ein letztes Mal das Thema: “Die Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur kannst nur Du schreiben”, soll ein Freund (war es Hochhuth?) Raddatz, die Jahre gingen bereits zur Neige, gesagt haben. Geschrieben hat sie am Ende aber weder Raddatz noch Ranicki.

meine deutsche literatur marcel reich-ranickiFritz veröffentlichte vor knapp 35 Jahren einen Band Die Nachgeborenen – Leseerfahrungen mit zeitgenössischer Literatur, der bereits viel dessen enthielt was nun auch bei Marcel wiederzufinden ist und dies ist allein schon aufgrund des Umstandes, dass hier zwei aus der Top 5 deutscher Literaturkritiker die Top-Autoren ihrer Zeit besprachen. Die Stars Johnson, Böll, Walser, Grass, Koeppen, die jungen Wilden Fichte und Brasch und Reich-Ranicki aufgrund der späteren Veröffentlichung die Namen der 90er und 00er: Maron, Biller, Hermann, Regener.

Nun, ich muss offen sagen: Das Buch ist vorgeschlagen worden für das Quartett vom Kollegen Karasek, und ich habe zwar – ohne es gelesen zu haben -, habe gesagt: Gut, wenn der Karasek es unbedingt will – einverstanden! […] Um Gottes Willen, warum bin ich verurteilt, diese Art Literatur zu lesen? Ich will das nicht lesen, das ist lächerliches Niveau, das ist ein Geschwätz ohnesgleichen.

Über Sven Regeners “Herr Lehmann” – Aus dem Literarischen Quartett vom 17. August 2011

Marcel Reich-Ranicki hat auch keine zusammenhängende Literaturgeschichte geschrieben. Thomas Anz nun aber eine klug ausgesuchte Sammlung herausgegeben, die sich durchaus als solche bezeichnen darf. Nun all diese Vorrede wäre nicht notwendig gewesen um zu sagen, dass auch dieser zweite Band der posthum erschienen Artikel grandios ist. Bereits die Beiträge zur Entwicklung von der Gruppe 47 bis zur Politisierung durch die 68er liefern einen Einblick in eine Zeit, die so nur durch Zeugen dieser erfahren werden kann. Wie funktionierte die Kritik bei der Gruppe 47, wie lief das Abschiedstreffen in Saulgau, bei dem die Arbeit der Gruppe endete, ab?** Aber auch die Kritiken zu den wichtigen Werken dieser Zeit Johnsons Mutmaßungen über Jakob oder Bölls Und sagte kein einziges Wort stoßen direkt hinein in den epochemachenden Beginn der Nachkriegsliteratur. Auch enthalten, in einer anderen Fassung als im ersten Band und auch ansonsten die einzige Wiederholung, das berühmte Fehlurteil Ranickis über die Blechtrommel mit dem Verriss Auf gut Glück getrommel. Nach dem einleitenden Teil ist bereits das Überfliegen des Registers eine wahre Freude – dieses Buch ist ein perfektes Nachschlagewerk und dazu, ganz anders als Raddatz Nachgeborene, der Wissenschaft und keine Unterhaltung betrieben hat, sehr kurzweilig und unterhaltsam.

Der erste Band Geschichte der deutschen Literatur enthält selbstverständlich bereits Artikel zur Literatur nach 1945. Der Herausgeber Thomas Anz möchte vielmehr, dass sich die beiden Bände ergänzen, daher gibt es auch nur die eine Wiederholung. Anders ist im zweiten Band auch die Anordnung, nämlich nach Erscheinungsdatum des Beitrags, die es ermöglicht nicht entlang eines Schriftstellerlebens, sondern die Essays und Kritiken vielmehr im Kontext der Literaturentwicklung im Nachkriegsdeutschland zu lesen. Falls nicht doch noch eine zusammenhängende Studie Raddatz’ zu dieser Zeit auftaucht, bleibt diese Sammlung Empfehlung Nummer 1.

*Der Hinweis auf die zwangsläufige Nähe durch Alphabet und Genre wurde durch den Kunden ignoriert.
**Zur Gruppe um Hans Werner Richter kann ich auch die Aufzeichnung dieser Sendung empfehlen (solch einen Anorak hätte Raddatz natürlich nie getragen!):

Deutschland – Erinnerungen einer Nation – Neil MacGregor

Brite des Jahres und Träger der Goethe Medaille, Direktor eines der bedeutensten Museen der Welt und Gründungsintendant des Humboldtforums, dieser Mann führt Deutschland und das Königreich zusammen. Mit seiner Geschichte der Welt in 100 Objekten hat Neil MacGregor bereits vor einiger Zeit einen Sachbuchbestseller geschrieben und dem Listen-Genre damit auf hohem Niveau wieder Leben eingehaucht. Nun, nach dem sehr englischen Shakespeares ruhelose Welt, setzt er sich in Deutschland – Erinnerungen einer Nation sehr eindrucksvoll mit der Geschichte des Landes seiner neuen Wirkungsstätte auseinander.

macgregor deutschlan erinnerung einer nationErneut sind es Objekte, anhand derer er seine Untersuchung betreibt: ein Themenwagen des Mainzer Rosenmontagszuges, ein Kanaldeckel, die Ein-Pfenning-Münze, ein Ablassbrief und Trinkkrüge, Schnitzereien, Kirchen und selbstverständlich viel zeitgenössische Malerei – allerdings leider nicht in Listenform. (Die Liste, das gebe ich gerne zu, machte es leichter, Stellen, die nicht dem persönlichen Gusto entsprechen, zu überspringen.)

Spötter würden sagen, dass ein weiteres deutsches Geschichtsbuch nun wirklich nicht nötig sei. Allein in MacGregors Verlag C.H.Beck kann man sich tausendfach mit diesen in unterschiedlicher Schinkendicke eindecken und trotzdem ist dieses etwas besonderes. MacGregor erzählt unterhaltsam ohne zu verflachen, fakten- und kenntnisreich, aber nie langweilig und beweist immer wieder mit der geschickten Auswahl der Anschauungsobjekt seine sichere Hand als Kurator. Besonders empfehlenswert ist dabei die Möglichkeit sich den Text im Hörbuch von Burkhard Klaußner vorlesen zu lassen und nebenher durch die wunderbaren Bilder des großformatigen Bandes zu blättern. Dieses Buch ist ein toller Anreiz, auch für eigentlich weniger Interessierte, sich immer wieder der Geschichte unseres Landes zu nähern.

Übersetzt wurde Deutschland – Erinnerung einer Nation übrigens von Klaus Binder der zuletzt für seine Lukrez Übersetzung für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war.

Über den Gräben von Romain Rolland

daz4edRomain Rolland erhielt 1915 den Literaturnobelpreis, war einer der engagierten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts und ebenso der Verfechter des europäischen Gedankens und des Pazifismus. Doch sind seine bedeutensten Romane der zehnbändige (!) Jean-Christophe und Meister Breugnon, die zuletzt vor über fünfzig Jahren übersetzt wurden, nur noch antiquarisch zu kaufen. Immerhin Pierre und Luce wurde 2010 vom Aufbau Verlag neu aufgelegt ist, soweit ersichtlich, aber ebenfalls nicht mehr lieferbar. Rolland ist, zumindest in Deutschland, fast gänzlich vom Radar verschwunden.

Der Name Rolland ist mir nur geläufig, da sich bereits vor der Zeit des ersten Weltkriegs Stefan Zweig mit dem Franzosen befreundete. Ein stetiger Briefwechsel, entsprechende Tagebucheinträge der beiden und Fußspuren in den Biographien, aber auch ein Buch Zweigs über den Mann und dessen Werk sind Zeugen dieser engen Verbindung.

Wider das Vergessen ist kürzlich bei C.H.Beck in der textura Reihe eine Zusammenstellung aus den Tagebüchern Rollands zwischen 1914-1919 erschienen. Die Zeit des ersten Weltkrieges stellt dabei natürlich, zumal in den privaten Aufzeichnungen eines Mannes mit dem Ziel des Friedens in der Welt, eine besondere Probe für diesen dar. Daher wird sich auch der bereits zu Beginn angeschlagene Ton nicht ändern.

3.-4. August 1914
Deutschland fällt in Luxemburg ein, richtet ein Ultimatium an Belgien.
Ich bin am Boden. Ich möchte tot sein. Es ist furchtbar, inmitten dieser wahnsinnigen Menschen zu leben und ohnmächtig dem Bankrott der Zivilisation beizuwohnen. Dieser europäische Krieg ist die größte Katastrope der Geschichte seit Jahrhunderten, der Zusammenbruch unserer heiligsten Hoffnungen auf die Brüderlichkeit der Menschen.

Rolland berichtet in der Folge über seine berührende Freiwilligenarbeit in der “Kriegsgefangenenauskunftsstelle” in der Schweiz, bei der er sich darum bemüht den Kontakt zwischen Gefangenen und ihren Familien in der Heimat herzustellen. In der Folge übernimmt er einige rührende (nicht rührselige) Exzerpte aus Briefen von Soldaten nach Hause oder sogar eines französischen Soldaten, der einer deutschen Mutter vom Tod ihres Sohnes berichtet. Zugleich gerät Rolland aber auch selbst zwischen die Fronten. Als in der Schweiz lebender Franzose, der zwischen Ideologien und Staaten zu vermitteln versucht, sieht er sich zahllosen Angriffen ausgesetzt, die durch die Vergabe des Nobelpreises an ihn, im Jahr ’16 rückwirkend für das vergangene, nur verstärkt werden. Der Ton seiner Notate ist, ob der Welt- und der eigenen Situation fast durchgängig verzweifelt-resigniert, nie aber weinerlich.

Eine Französin, die in Russland ist, wirft mir vor, ich sei ein schlechter Franzose. Ein Deutscher in Sankt Moritz wirft mir vor, ich sei ein von Nationalgefühl verblendeter Franzose. Beide Briefe erreichen mich mit der gleichen Post.

Die Hellsicht Rollands in der hundertjährigen Rückschau schmerzt besonders, als er die herannahenden Probleme des Friedensschlusses von Versailles skizziert und diesen in weiser Voraussicht mit dem Schlusswort der Sammlung einen lächerlichen Zwischenakt zwischen zwei Völkermassakern nennt.

Lesen Sie!

Der Leser entscheidet mit dem Kauf von Büchern über Wohl und Wehe des Erinnertwerdens eines Autors mit. Kein Nobelpreis und keine noch so hehren Absichten bewahren einen Menschen davor nur knapp siebzige Jahre nach dem Tod der Vergessenheit anheim zu fallen. Bereits diese kleine Auswahl aus den Tagebüchern Rollands von C.H.Beck zeigt wie viel Bewahrenswertes sich in dessen Werk findet und das nicht nur, weil die gegenwärtige Dramtik des Weltgeschehens dessen Aktualität wiederherstellt.

[Lohnend sicher auch der Briefwechsel Von Welt zu Welt zwischen Romain Rolland und Stefan Zweig.]

Louis Begley – Die ungeheuere Welt, die ich im Kopfe habe

Wenn es einen deutschsprachigen Schriftsteller gibt, für den es ausreichend Sekundärliteratur gibt, dann ist es Kafkas Franz. Zur Quasi-Primärquelle der Biographie von Max Brod gesellen sich die von Klaus Wagenbach, die gerade abschlossene dreibändige von Reiner Stach, an der sich inzwischen sicher alles messen lassen muss und viele weitere. Es gibt Kafka Handbücher (z.B. das zweibändige von Binder) und Interpretationshilfen für Schüler. Dazu kommen nicht zuletzt Essays von Adorno, Walter Benjamin, Camus und Canetti, Kundera, to name a few. In dieser illustren Reihe hob Louis Begley den Finger, denn auch er will was zu Franz schreiben.

cover.doDie Voraussetzung für die Notwendigkeit einer weiteren Studie sind hoch, denn wirklich neues wird, insbesondere solange der vollständige Nachlass Max Brods nicht gesichtet werden darf, für lange Zeit nicht zu erwarten sein. Begleys Text hat dazu noch das Pech im Jahr 2008 erschienen zu sein, also im selben, in dem auch der zweite Band der Stach-Biographie Die Jahre der Erkenntnis auf den Markt kam. In Ermangelung neuer Erkenntnisse hat sich Begley also dazu entschieden ein Buch zu schreiben, das bereits auf den ersten Seiten deutlich macht welche Intention der Autor verfolgt: dem riesigen Markt einen weiteren Titel des Mittelmaßes hinzuzufügen. Dazu ist das Ergebnis eines, das de facto keine Leserschaft finden dürfte. Für gänzliche Kafka-Novizen, die es aufgrund der Einheitsschulbildung im deutschsprachigen Raum kaum geben dürfte, vielleicht eine Spur zu viel, für Leser mit Vorbildung zwei Level zu niedrig. Zwangsläufig stellt sich die Frage, ob das Buch gezielt für den amerikanischen Markt geschrieben wurde, das wiederum machte das Bedürfnis nach einer Übersetzung obsolet.

Aber selbst wenn Du, lieber Leser, ein solcher Fan bist, der einfach alles von oder über seinen Helden Kafka (Begley?) lesen möchte, muss ich Dir von Die ungeheuere Welt, die ich im Kopfe habe abraten, denn selbiges liest sich wie eine Quellensammlung, in der Begley nur die Überleitung zwischen den seitenlangen Zitaten geschrieben hat. Lesefluss ist so völlig ausgeschlossen und stattdessen regt sich leiser Groll auf den “Biographen”, ob seiner copy-paste-Methode und vor lauter eingerückten Stellen.

Willst Du einen Überblick über Kafka, lies doch einfach den ausführlichen Wikipedia-Artikel, möchtest Du tief einsteigen, wage Dich an Stach (der mir stellenweise zu schwülstig ist, aber vor dessen Mammutwerk man den Kopf neigen muss) oder wie wäre es damit: lies doch mal wieder Kafka!

Alles ist gut von Helmut Krausser

produkt-2640Helmut Krausser ist in seinen Gedichten so radikal und (stellenweise) genial, dass man seinen letzten Band Verstand & Kürzungen als Vademecum stets mit sich führen sollte. Tatsächlich habe ich dieses Buch nie ins Regal einsortiert, sondern immer im Handapparat neben dem Schreibtisch stehen. Einzelne Gedichte lese ich fast wöchentlich.

Doch was seine Gedichte mit mir anstellen – “Die folgenden Gedichte können Gefühle nicht nur verletzen, sondern auch verursachen.” – vermochten seine Romane bisher nicht und auch das neuste Werk des sehr fleißigen Autoren Alles ist gut haut mich nicht vom Hocker.

Dem erfolglosen Komponist moderner Opern Marius Brandt fällt durch Zufall ein rätselhaftes Manuskript in die Hand, dessen Melodien er nach der Entschlüsselung in seine Kompositionen einbaut. Bei der Uraufführungen eines kleineren Stücks kommt es zu gesundheitlichen Beschwerden im Publikum, ein Mann stirbt sogar. Brandt ist bewusst, dass dies mit der Wirkung der Themen des Manuskripts zusammenhängt, die er selbst beim ersten Hören spürte. Die neue Art der Musik, die er nun zu schreiben im Stande ist, gewinnt einen immer größeren Einfluss auf sein Leben, das bisher von schwierigen Frauenbeziehungen und Alkohol geprägt war, sogar einen Mäzen findet er über Umwege. Nur von wessen Hand die tödlichen Melodeien sind, darauf kommt er recht spät.

In deutlicher Anlehnung an die Faustsage, die über Marlowe, Goethe und Thomas Mann, Heine, Oscar Wilde und Bulgakow zur Perfektion ausgebaut wurde, folgt auch Alles ist gut einer langen Tradition der Ver- und Bearbeitung zum klassischen Künstlerroman. Krausser nutzte die Vorlage bereits in  Der große Bagarozy.

Und auch wenn man aus dem neusten Buch die wahnsinnige Klugheit und den sprühenden Humor Helmut Kraussers herauslesen kann, Seitenhiebe auf modernes Theater und moderne Oper, Intendanten und Künstler amüsant und zuweilen (wirklich) lustig sind, lässt dies nicht den Eindruck des etwas unsorgfältig geplanten Romans verblassen. Der Plot ist literaturhistorisch derart detailliert vorgegeben, dass man entweder versuchen sollte diesen in Meisterschaft zu vollenden, was selbst der selbstbewusste Krausser sich nicht vornahm, oder weiterzuentwickeln und neue Facetten zu entdecken. Ein unterhaltsames, und im Vergleich zu 90 % der übrigen Bücher ein gutes, aber nicht solches Buch, das dem Potenzial und Könnens Kraussers gerecht wird.

Der Fluch des schnauzbärtigen Banditen

1In der Regel scheue ich das Lesen von riesig angelegten Familiensagen. Seit den Buddenbrooks vor Jahren habe ich um solche einen Bogen gemacht. (Nicht etwa weil die Buddenbrooks schlecht seien, Gott bewahre, sondern weil mich der Umfang schreckt und mir zumeist die Geduld fehlt, mich in eine Welt mit 20 Charakteren und Intrigen, Geburt, Hochzeit und Sterben hineinzudenken.) Irina Teodorescu hat nun mit Der Fluch des schnauzbärtigen Banditen aber eine Familiensaga geschrieben, die die Geschichte von knapp acht Generationen auf 140 Seiten erzählt, genau meine Kragenweite also.

Das große Problem der Familie Marinescu ist nicht nur die Habgier des Urahns Gheorghe, sondern dessen hierauf begründeter Mord an einem Banditen. Der ungepflegte Mann mit dem Schnauzbart ist so etwas wie der Robin Hood der Region und hat sitzt momentan auf einem gewaltigen Vermögen. Listig lockt Gheorghe ihn in seinen Keller, lässt ihn dort erbärmlich verhungern und presst ihm vor dessen Tod noch den Standort seiner Schätze ab. Neben dieser Information nutzt der Bandit seinen letzten Atem zur Aussprache eines Fluchs über die gesamte Familie Marinescu, der bis ins Jahr 2000 währen wird und dem die Erstgeborenen jedes Familienzweigs zum Opfer fallen. Trotz des neuerlangten Reichtums und damit einhergehender Machtpositionen gelingt es keiner der Mütter ihre Söhne zu schützen, auch nicht durch entbehrungsreiche Pilgerfahrten.

Maria die Hässliche, Margot die Schlange oder Maria die Versaute sind nur drei der unglaublichen Gestalten, die Irina Teodorescu durch ihre Maxisaga im Miniformat rasen lässt. Jede ihrer Figuren ist derart irrwitzig komponiert, dass die Lektüre eine wahre Freude ist. Faulheit und Durchtriebenheit, Angst und Habgier, Geiz und weitere niederste menschliche Charakterzüge alles findet sich in Der Fluch des schnauzbärtigen Banditen wieder. Eine Komposition, die in ihrer Rasanz derart unterhaltsam ist, dass man aus dem Lachen über die Geschichte und das Staunen über Teodorescus Kunstfertigkeit nicht herauskommt. Es ist zu hoffen, dass auf diesen ersten Roman der Autorin alsbald ein zweiter folgt.

Greenwash Inc.

Wer hat eigentlich die Ansprüche an Absolventen von Schreibschulen (vulgo vor allem für den Studiengang Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim und eine Ausbildung am Literaturinstitut in Leipzig) postuliert, dass solche immer die Literatur neu erfinden müssen? Und soviel darf bereits zu Anfang verraten werden, Karl Wolfgang Flender hat die Literatur nicht neu erfunden, aber man merkt seinem Debüt an, dass er in Hildesheim nicht nur zu einem soliden Handwerker ausgebildet wurde, sondern sich mit Greenwash Inc. das Attribut Schriftsteller verdient hat.

greenwash inc flender dumontThomas Hessel arbeitet in der Agentur Mars & Jung. Hier kümmert man sich aufopferungsvoll um das Wohl der Mandanten und vorgeblich der ganzen Welt. Durch geschicktes Lancieren von Artikeln, das Bestechen von Influencern und das Inszenieren von Stories wird das Image des Klienten aufpoliert. Hessel und Kollegen bewegen sich in einer Welt, die der Jurist aus Großkanzleien und -banken kennt, der Leser aus The Circle. Die ständige Erreichbarkeit wird mit einem großzügigen Gehalt belohnt, das für Champagner und Tranquilizer ausgegeben wird, die Freundin kann dafür aus ihrem brotlosen Job über Beziehungen in gleiche Sphären des Wohlstandes und der Umtriebigkeit gehoben werden. Doch der interne Machtkampf belastet nicht nur den Praktikanten, der mit Geduldsaufgaben geprüft wird, sondern führt zwangsläufig dazu, dass auch eine Position an der Spitze keine Sicherheit bietet.

“Musste kurzfristig arbeiten. Melde mich, sobald zurück. Grüß Papa. Gib Julian einen Kuss”, schreibe ich.

Flender zeichnet nicht nur die Absonderlichkeiten und Auswüchse einer Branche nach, in der es diese skrupellosen Menschen, wie sie bei Mars & Jung arbeiten, geben muss, sondern legt zugleich auch den Finger in die Wunden, die sie reißen. Journalismus wird durch Schmeichelei bis zur Bestechung bis zur Korruption unglaubwürdig, eine ganze Industrie sucht den nächsten heißen, viralen Scheiß und die klügsten Köpfe Flenders und meiner Generation arbeiten an neuen Methoden Werbung und damit Produkte geschickter zu verpacken und damit an den Kunden zu bringen. Der Endverbraucher nimmt die gebotenen Berichte ohne Hinterfragen dankbar an und wiegt sich dank Falschinformation in der Sicherheit ein guter Mensch zu sein, denn Hessels Job in Greenwash Inc. ist es vornehmlich windigen Unternehmen einen ökologischen, gutmenschlichen Anstrich zu verpassen.

Greenwash Inc. ist unterhaltsam und doch nicht ohne nachdenkliche Zwischentöne. Flender ist, wie gesagt, nicht nur ein solider Handwerker, sondern lässt sein schriftstellerisches Potenzial immer wieder durchscheinen. Richtig groß würde das Buch freilich, könnte es die aufgeworfenen Fragen auch einer Lösung zuführen, könnte es die Stimmung mit weniger Markennamen und Beschreibungen beschwören. Die Lösungen – für das gern akzeptierte Einlullenlassen der Masse, das freudige Manipulieren durch Agenturen – müssten gar nicht praktisch, sondern vielmehr literarisch, sein.

Der Verlauf der Geschichte ist manchmal zu leicht zu erahnen, die Auflösung zwar konsequent, aber ebenfalls nicht überraschend. Greenwash Inc. ist trotzdem ein gelungenes Debüt!

Meine Hublot sagt, dass ich nun zum Champagner-Tasting mit Madame muss, schnell die Ray Ban aufgesetzt und in den Wiesmann gesprungen. Tschüss ihr Loser!

Ich werde niemals schön genug sein, um mit dir schön sein zu können

I don’t have meaningful relationships
I don’t have romantic relationships
I read a lot of depressing books

Ohne Vorwissen lese ich diese Gedichte. Unvoreingenommen, unbeeinflusst von einem Hype, den es um die Autorin Mira Gonzalez angeblich gibt. Fast plump, dabei ist es wohl das Gegenteil, habe ich mir das Buch aufgrund des träumerisch, selbstmitleidigem Titels Ich werde niemals schön genug sein, um mit dir schön sein zu können bestellt und zuerst nur sacht hineingelesen.

Gonzales_24940_MR1.inddIn einer auffälligen Ich-Bezogenheit schreibt die junge Autorin Gonzalez über Drogen, Sex, Pornos und Parties. Immer wieder wird die eigene Verletzlichkeit analysiert und beschworen, dazu werden mantraartig eigene Schwächen betont und herausgearbeitet. Klingt alles sehr bekannt. Das Beklagen über den immer wiederkehrenden Egozentrismus der jungen Autoren ändert aber deren Schreiben nicht. Man sollte lieber akzeptieren, dass eine solche Strömung momentan die Hauptströmung, vulgo der Mainstream, der Literatur von, man entschuldige, aber so ist der Eindruck, hauptsächlich jungen Autorinnen ist.

Zwischen den Gedichten befinden sich viele, die nicht so zu zünden vermögen wie etwa Ohne Titel 5

I am looking at people who are dancing and touching each other
I am drinking vodka with ice and feeling incredibly fucked
I wonder if anyone feels more lonely now than they felt an hour ago
when they were alone in their rooms looking at things on the internet

sondern vielmehr nur eine Variation der selben, plattgetretenen Tweets der Internetpeople sein könnten.

Doch immer wieder lauern in den Zeilen, zwischen Sex und Mira selbst und Drogen, kleine Schönheiten der Beobachtungsgabe, die eben doch, gegen alles Unken, den Zeitgeist sehr genau treffen und einen Einblick in die große und kleine bis zur 2-Mann/Frau-Gesellschaft geben. Manche Gedichte stechen auf diese Weise an dem Meer der Einheitsliteratur intelligenter, junger Frauen heraus, wie Gonzalez‘ Stephen in dem Gedicht Weltlicher Humanist, der sich wie ein Sandkorn fühlt, aber doch ein (wenn auch, Anm. d. Verf.) sehr kleines Stück Muschelschale von einer Muschel, die vor 10 Jahren gestorben ist. Liest man intensiv, muss man die Redundanzen überblättern, kann aber große Freude mit und an Mira haben, außerdem sind immer mal wieder diese winzigen Muschelstücke zu finden. Schon der Titel der Sammlung ist in seiner Schönheit fast allein die 16,90 € wert.

Die Veröffentlichung im Hanser Verlag scheint eine Bestätigung des neuen, eigenen Anspruchs, der mit Jo Lendle einzogen ist. Ob aber Mira Gonzalez wirklich der „Star der jungen amerikanischen Literaturszene“ ist, als der sie im Klappentext propagiert wird, muss sich erst noch herausstellen. Das Potenzial ist aber erkennbar.

München und der Nationalsozialismus – lästige Vergangenheitsbewältigung

Die “Hauptstadt der Bewegung” kann sich bis heute nicht als solche der Aufklärung und Aufarbeitung bezeichnen. Wer ohne Schuld ist möge den ersten Stein werfen und so könnte München immer wieder auf andere zeigen: In Braunau weiß man bis heute nicht wie man mit dem Geburtshaus Hitlers umgehen soll, in Schwerte fiel gerade auf, dass man nur noch einen Ehrenbürger hat – Hermann Göring. Und doch scheint das Erbe Münchens schwerer zu wiegen, und auch wenn inzwischen die wenigsten der heute (noch) lebenden Münchner an Verbrechen der Nazis beteiligt gewesen sein dürften, zeigt man sich immer wieder unfähig im Umgang mit der eigenen Vergangenheit.

Für ein Erbe ist der Erblasser*  verantwortlich, nicht der Erbe und trotzdem ist es Letzterer, der an seinem Umgang mit selbigem gemessen wird. Übersteigen die Schulden das Vermögen, schlägt man die Erbschaft klugerweise aus, § 1942 Abs. 1 BGB. Was tut man aber, wenn dies nicht möglich ist?

An München klebt der Makel der Geschichte und durch Ignorieren der Altlasten wird man diese nicht mehr los. Die Taktik des Taubstellens wird manchmal noch durch Akte der politischen, natürlich auch moralischen, Unvernuft durchbrochen, wenn der Stadtrat sich etwa gegen die inzwischen bundesweit etablierten Stolpersteine ausspricht. Erst 1993 (!!) gab es die erste Ausstellung im Stadtmuseum über München im Nationalsozialismus. 2001, 56 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs und dem Erlöschen der als Ehrentitel getragenen Hauptstadtbezeichnung, wurde die Errichtung eines eigenen Museums am Ort der NSDAP-Zentrale, dem “Braunen Haus” beschlossen, dessen Fertigstellung 15 Jahre währte. 70 Jahre nach Hitlers Tod steht endlich das NS-Dokumentationszentrum.

9783406667015_largeDie verspätete, nun aber umfassende Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit wird parallel zur Ausstellung im hervorragenden Band “München und der Nationalsozialismus” von C. H. Beck dokumentiert**. Der Verlag scheint auch daher besonders passend, da dort zum 250. Jubiläum ein Streit um die eigene Geschichte zur Zeit des dritten Reichs entbrannte. Der üppig ausgestattete Band umfasst über 350 Seiten voll farbiger Bilder zur Ausstellung selbst und weitere 250 Seiten mit Aufsätzen zur Vertiefung warum gerade München im NS-Staat eine solche herausragende Stellung einnahm, zur Frühgeschichte der NSDAP, zu den Profiteuren und den Gründen und Abgründen des eigenen Schweigens. Eine gelungene Zusammenstellung, die nicht regionalbegrenzt das Zeug zum Standardwerk hat.

Spät, aber nicht zu spät, erkennt eine Stadt was sie tun muss(te). Dieses Buch ist nicht nur ein Lehrstück der Vergangenheitsbewältigung für München, sondern für ganz Deutschland. Endlich könnte man sagen, nehmt euch ein Beispiel an dieser Stadt und wie sie mit dem schweren Erbe ihrer Vergangenheit umgeht.

*Hier geht es um den Erb-lasser, der natürlich auch ein Er-blasser im Angesicht des Todes ist, besser war. Der ungeheure Humor von Juristen, die diesen Witz seit Generationen pflegen, soll aber nicht Gegenstand des Beitrages sein.
**Ein Buch dieser Ausstattung (sehr viele Bilder in Farbe, Leinen, Format, Lesebändchen) für 38 € ist übrigens ein echtes Schnäppchen! Trust me.

89/90 von Peter Richter

Peter Richter hat ein grandioses Buch über die Zeit der Wende geschrieben, dass ich trotzdem nicht zu Ende lesen kann.

042_87462_153640_xlEine kindlich unbeschwerte, pubertäre Stimmung herrscht in Dresden 1989. Man rebelliert ein bisschen und versucht doch angepasst genug zu sein, um die gewünschte Schulform besuchen zu dürfen. Jungsfreundschaften und zarte Mädchenbande sind der Rahmen, in dem sich das Leben des Protagonisten bewegt, doch der Zeitpunkt des Umsturzes rückt näher und wird Biographien verändern. Richter tritt aufs Gas und lässt wieder bedächtige Ruhe einkehren, er mischt kurze Viertelseiten-Episoden mit längeren Passagen. Der Autor ist ungeheuer klug, was man, wenn nicht aus Deutsches Haus oder Über das Trinken, dann zumindest aus seinen Texten für diverse Zeitungen, inzwischen der Süddeutschen Zeitung, weiß.

Und weil im Westen die ganzen alten Nazis schon wieder beziehungsweise immer noch in den Behörden, den Gerichten, den Schulen und den Universitäten saßen, während im Osten mal was Neues angefangen wurde. Und weil es ganz so aussah, als ob das auch das Bessere sei, wenigstens moralisch. Und weil Leute wie Anna Seghers oder Bertolt Brecht das auch so sahen. Weil damals die Deutsche Reichsbahn dafür sorgte, dass man nach einer Aufführung in Brechts Berliner Ensemble mit dem Spätzug noch nach Hause kam. Und natürlich, weil dieses Zuhause der absolut schönste Ort der ganzen Welt sein konnte…

Der Grund dafür, dass ich das Buch trotz solcher Passagen der Hellsichtigkeit und solcher des besten Humors nicht zu Ende lesen kann ist trivial. Mir fehlt, zu spät geboren, das Hintergrundwissen der kleinen DDR-Schnurren und großen -Sünden, die zwar allesamt in unterhaltsamen Fußnoten erläutert werden, aber meinen Lesefluss zu sehr bremsen. Gleiches gilt für die Marotte R.s seine Personen nicht mit vollen Namen zu benennen sondern grundsätzlich abzukürzen. Die Ungeduld hält mich von 89/90 ab.

Ich habe nun aber das Buch meiner Mutter gegeben, sie wird es lieben, wie sicher viel andere, denen ich den Lesespaß von Herzen gönne.

[…] der Abschied von der Ideologie des Zweittaktmotors war damit eingeleitet. Der Zweitaktmotor war in jenem Land so sakrosankt gewesen wie der Führungsanspruch der SED. Dass jetzt hier Viertakter verbaut wurden, hätte einem im Prinzip schon Symbol genug sein müssen für das nahende Ende. Aber wir sahen das trotzdem nicht. Wir freuten uns auf Porschemotoren für den Trabant.