Jahr: 2018

Sieben Schwierigkeiten und einer der immer schmaler werdenden Pfade (Gastbeitrag von Selim Özdoğan)

Gastbeitrag von Selim Özdoğan / Dieser Text enstand im Rahmen des Autorensymposiums Atelier NRW und erscheint in leicht abweichender Form in Sprache im technischen Zeitalter.

 

1 Die Geschichte mit der Herkunft.

1.1

“Bin dafür, dass wir alle Leute mit reichen Eltern ein Jahr lang keine Romane veröffentlichen lassen und dann nochmal schauen, wie der Buchmarkt aussieht.”

Tweet von Matthias Warkus, 12. Juni 2018, 352 Gefällt mir Angaben, 52 Retweets.

1.2

Man kann niemandem seine Herkunft vorwerfen.

Herkunft ist kein Kriterium literarischer Qualität.

1.3

Literatur entsteht hauptsächlich in einer bildungsbürgerlichen Mitte und das wird weiterhin so bleiben.

1.4

Autoren, die eine andere soziale Klasse als die ihrer Herkunft beschreiben, kennen sie häufig aus eigener Anschauung.

1.4.1

Autoren wie Hans Fallada oder später Jörg Fauser stammen aus Elternhäusern, in denen Bildung vermittelt wurde.
Es war ihre Drogensucht, die dazu geführt hat, dass sie sich in anderen Milieus bewegt und darüber geschrieben haben.

1.4.2

Ralf Rothmann stammt aus dem Arbeitermilieu, über das er viel geschrieben hat. Er ist einer der wenigen Autoren der letzten 100 Jahre, die aus dieser Schicht kamen und anerkannte Schriftsteller wurden, ohne dass ihnen der Nimbus des Proletenhaften, des Hofnarren, des Anrüchigen anhaftete.

Autoren, die aufgrund von Tätowierungen, Hilfsarbeiten oder Hartz 4-Vergangenheit als Repräsentanten einer anderen Welt gelten, aber eigentlich aus Elternhäusern mit Bibliotheken stammen, halten wir uns immer wieder mal.

(„Wir“ meint in diesem Text nicht eine Gruppe von Personen, sondern Strukturen eines Betriebs, unabhängig davon, wer sie gerade am Leben hält oder gegen sie ankämpft.)

Vielleicht ist es eine Art Sidney-Poitier-Effekt. Man kann einem Schwarzen einen Oscar geben, um zu zeigen, dass man das ja auch tut. Und den Rest ignorieren.

1.5

Es braucht kein eigenes Erleben, um aus einem bestimmten Milieu zu berichten, doch es braucht eine Haltung. Empathie und Voyeurismus sind zwei mögliche. Dazu mehr bei 5.3.

1.6

Die Furcht vor dem Abstieg ist größer geworden in einer Welt, in der immer mehr von der Kaufkraft des Individuums abhängt, seinem Image und seinem Status.

Es hat in den letzten dreißig Jahren keinen deutschen Schriftsteller gegeben, der einen Wechsel in eine andere Schicht auch nur in Kauf genommen hätte. Wer heute drogensüchtig wird, berichtet von seinen Erlebnissen in einer Entzugsklinik in Beverly Hills. Schlimmstenfalls lebt man als akademischer Geringverdiener in einem bislang nicht gentrifizierten Viertel, stopft Löcher mit dem Geld aus Papas Tasche und versucht es als Quereinsteiger, sollte auch dieser Strick mal reißen.

1.7

Sozialer Aufstieg ist schwer.

Sozialer Aufstieg in die Literatur, ohne Ghettoromantik zu bedienen, noch schwerer.

2 Die Geschichte mit der Normsprache.

2.1

Wir erwarten, dass jede Autorin die Normsprache beherrscht. Wir betrachten es als legitim, Jargon, Umgangssprache, Mundart und Ähnliches in literarischen Texten zu verwenden, setzen aber voraus, dass diese Mittel bewusst gewählt werden.

H.C. Artmann durfte in Mundart schreiben und mit der Sprache spielen, weil wir wissen, dass er Dudendeutsch konnte.

2.1.1

Das Etikett Gastarbeiterliteratur hat man Texten aufgeklebt, die wir als authentischen Versuch der Beschreibung einer Lebenswelt wahrgenommen haben, aber aufgrund mangelnder ästhetischer Qualität nicht so richtig der Literatur zurechnen wollten. Befindlichkeitsprosa ohne künstlerischen Mehrwert.

Deutsch war meist die zweite oder dritte Sprache dieser Autoren. Wie hätten sie mit jemandem konkurrieren können, dessen Muttersprache Deutsch war.

2.1.2

Gastarbeiter. Fremdarbeiter hatten die Nazis schon belegt. Also brauchte es ein neues Wort.

Wo hat man schon mal gesehen, dass man seinen Gast für sich arbeiten lässt?

2.2

“Man,echt,Twitternazis,zum hundertsten Mal: lernt Rechtschreibung.Hört auf die Timelines anderer Leute zuzumüllen, während Ihr nichtmal „Amazon“ richtig schreiben könnt.Was ist „AMASON“?!Was ist „stärbenslangweilig“?Und was bedeutet „dir zaig ich‘s noch!“?! Echt.Löscht Euch.Danke.”

Tweet von Igor Levit, 30 August 2018, 181 „Gefällt mir“-Angaben, 11 Retweets.

Wer Sprachkompetenz bemängelt, möchte keine inhaltliche Auseinandersetzung, sondern diffamieren und ausgrenzen.

2.2.1

Es ist bekannt, dass F. Scott Fitzgerald große Probleme mit der Rechtschreibung hatte. Niemand glaubt, das hätte ihn zu einem schlechteren Schriftsteller gemacht.

2.3

Über den Autor des Romans Sagt Lila weiß man nichts. Das Manuskript (handgeschrieben in Schulheften) wurde dem Verlag über einen Anwalt angeboten. Heißt es. Möglich, dass das nicht stimmt.

Es sind Fehler in diesem Roman, in dem eine Geschichte aus einem Pariser Banlieue erzählt wird. Grammatische, orthographische und Fehler im Ausdruck. Das Vokabular ist beschränkt. Doch die Auffassungsgabe des Erzählers und seine Fähigkeit, Bilder für sein Innenleben zu finden, machen dieses Buch zu Literatur.

2.4

Der Israeli Tomer Gardi hat sich dafür entschieden, ein Buch auf Deutsch zu schreiben, im vollen Bewusstsein, dass sein Deutsch sich von dem eines Muttersprachlers unterscheidet.

Einen Auszug aus dem Buch Broken German hat er 2016 in Klagenfurt gelesen. Die anschließende Jurydiskussion demonstrierte, wie sieben Menschen, die sich seit Jahren hauptberuflich mit Literatur beschäftigen, völlig unfähig sind, über einen Text zu sprechen, weil er von der Normsprache abweicht und sie vermuten dass der Autor dies auch tut.
Der Text arbeitet eindeutig mit literarischen Mitteln.

2.5

Wir beanspruchen die Deutungshoheit darüber, wer die Sprache beherrscht. Alle anderen Sprachformen neben der Normsprache werden herabgestuft.
Sprache dient als Herrschaftsinstrument.

Wir bejammern die Verrohung der Sprache, die Anglizismen, die fehlenden Artikel, die Verkürzungen, die Auslassungen, die Vulgarität, die Unfähigkeit, einen geraden Satz zu bilden, der womöglich auch noch mehrere Nebensätze hat.

Wir übersehen dabei, dass Texte über literarische Qualitäten verfügen können, auch wenn sie von Menschen geschrieben wurden, deren Sprache nicht Normdeutsch ist.

2.6

Sprache ist lebendig, das heißt, sie verändert sich ständig. Sie lebt von der Vielfalt. Die Deutungshoheit über sie haben zu wollen, schränkt die Lebendigkeit, die Vielfalt nicht ein, verwehrt aber anders Sprechenden und Schreibenden den Zugang zur Literatur.

2.7

Ohne die Eintrittskarte Normdeutsch kommst du nicht rein. Egal, wie viel du von Dramaturgie verstehst, von Dramatisierung, von Metaphern, vom glaubhaften Abbilden von Innenwelten, von Spannung, von Tragik, von Komik, von Psychologie, von Figurenführung, von Aufbau, von Komposition, von Mehrdimensionalität von Texten.

3 Die Geschichte mit den Kritikern.

3.1

Es braucht viel Lektüre und viel Zeit, um Kritikerin zu werden.

Wie jeder, der eine Arbeit macht, die in der Öffentlichkeit sichtbar ist, möchte die Kritikerin Anerkennung: Für ihr Urteil, für ihr literarisches Verständnis, für ihren Blick für das Handwerk, für ihre Expertise.

Sie ist allerdings nur Expertin innerhalb ihres Lektürehintergrundes. Außerhalb kann sie keine sicheren Urteile fällen.

3.1.2

Der Kritiker könnte bei der Beurteilung des Textes Unsicherheit einräumen. Würde sich damit aber sein hart erarbeitetes Expertentum quasi selbst absprechen.
Stattdessen wird er wahrscheinlich weiterhin die gewohnten Kriterien anwenden. Zum Beispiel das Beherrschen der Normsprache. Die Referenzen an den Kanon.

3.1.2.1

In den 60er-Jahren hat es den Versuch gegeben, Phänomene der Popkultur in der Literatur zu verarbeiten und Hierarchien aufzuweichen. Zum Beispiel unseren Dünkel gegenüber Comics.

In den 90er-Jahren verschoben sich die Inhalte der Popliteratur. Während man in den 60ern versucht hatte, die Literatur für neue Bereiche zu öffnen, nutzte man in den 90ern die neu gewonnenen Bereiche dazu, sich abzugrenzen, indem man Geschmacksurteile fällt. Auf einmal ging es darum, warum man nicht Tina Turner hören konnte, und nicht darum, dass Pop insgesamt nicht minderwertig war.

Der Kritiker ist ebenfalls ständig damit beschäftigt, Grenzen zu ziehen, zwischen gut und schlecht, zwischen Sprachkompetenz und mangelnder Kenntnis, zwischen authentisch und konstruiert, zwischen preiswürdig und unterhaltungsverdächtig.

Natürlich gefällt ihm die neuere Popliteratur besser.

Natürlich gefallen ihm Grenzen, weil sie Selbstverortung vereinfachen.

3.2

Die Kritik bescheinigt gerne Authentizität, wenn Texte in einem anderen sozialen Milieu spielen als jenem, in dem die Kritiker sich bewegen. Was in der Regel auch jenes ist, aus dem sie stammen. Die Geschichte mit der Herkunft gilt für Autoren und Kritiker gleichermaßen.

Es ist das eine Mal, dass sie als Experten außerhalb ihres Fachgebietes in Erscheinung treten. Siehe dazu auch Punkt 6, die Geschichte mit der Authentizität.

4 Die Geschichte mit den Pförtnern.

4.1

Der erste in der Familie, der studiert, geht in der Regel nicht nach Biel, Hildesheim oder Leipzig, um Literatur zu studieren, sondern versucht es mit BWL, Jura oder Medizin.

Menschen, die glauben, man sei da frei in der Wahl, sind in der Regel nicht von einem Wertesystem in ein anderes gewechselt und nicht in der Lage, die Schwierigkeiten zu sehen.

4.2

Ich habe nie eine dieser Schreibschulen von innen gesehen, aber ich kenne einen Absolventen ganz gut und einige andere leidlich. Viele sind am Ende nicht Autoren geworden, sondern Literaturvermittler unterschiedlichster Art: Lektoren, Redakteure, Veranstalter, Kritiker.

Gebiete, auf denen man mehr Deutungshoheit gewinnt als mit dem Verfassen von Romanen. Und weniger Gefahr läuft, in die akademische Prekariatsblase zu rutschen.

Das muss nicht das Motiv für die Entscheidung gewesen sein, nicht Autor zu werden, doch diese Entscheidung hilft – ob man will oder nicht –, bestehende Machtstrukturen weiter fortzuschreiben.

4.3

Das Beste, was eine Lehrerin tun kann, ist sich selbst überflüssig zu machen. Schüler heranzubilden, die ihr in nichts nachstehen.

4.4

Das Klügste, was eine Institution tun kann, ist sich der eigenen Bedeutung zu vergewissern.

Genau wie ein Kritiker.

Weder Institutionen noch Kritiker sind bestrebt, sich selbst überflüssig zu machen.

4.4.1

Institutionen brauchen sich selbst nicht überflüssig zu machen, weil sie immer Nachschub bekommen. Es liegt in der Natur jeder Schule, Schüler in ein Wertesystem einzugliedern, das sie selbst miterschafft. Ein Lehrer kann diese Werte in Frage stellen, die Institution selbst kann das nicht.

4.5

Maren Kames, Hildesheim-Absolventin, hat ein Vorwort für eine jährlich veröffentlichte Hildesheimer Anthologie geschrieben, das dort jedoch nicht veröffentlicht wurde.

Darin schreibt sie: Ich habe in Hildesheim übers Schreiben nichts gelernt.

Und: Wenn ich sage, ich wisse nichts im Schreiben, es finde sich oft Nichts und selten Stabiles, meine ich das nicht weinerlich, sondern nüchtern.

Dazu später mehr in 7, der Geschichte mit dem Vorwissen.

Was auch immer die Verantwortlichen dazu bewogen haben mag, das Vorwort abzulehnen, Souveränität und die unerschütterliche Überzeugung von der eigenen Wichtigkeit können es nicht gewesen sein.

4.6

Der Literaturagent ist ein Zwischenhändler. Einer, der eine Vorauswahl trifft, die möglicherweise weder im Interesse der Verlage noch der Lesers ist. Wer weiß das schon so genau?

Er ist ein weiterer Schleusenwärter, der die Möglichkeit hat, den Aufstieg eines Autors zu erschweren, der aufgrund seiner Herkunft wenig Kontakte zum Kulturbetrieb mitbringt.

4.7

Wessen Vater mit Programmleitern von Verlagen essen geht, braucht sich um 4.6 nicht zu sorgen.

5 Die Geschichte mit dem Personal.

5.1

Hat Selim nicht aufgepasst? Da ist doch lauter Personal aus den unteren Schichten in den Romanen der letzten Jahre. Der goldene Handschuh, Hool, Ellbogen, um nur drei der bekannteren zu nennen.

5.2

Hans Fallada schreibt zu Wer einmal aus dem Blechnapf fraß:

Nicht aus Freude am Abenteuerlichen, nicht als echte Milieuschilderung wirklicher ‚Unterwelt‘ wird der Roman geschrieben, sondern um zu zeigen, wie der heutige Strafvollzug und die heutige Gesellschaft den einmal Gestrauchelten zu immer neuen Verbrechen zwingt.

Der Autor interessiert sich nicht für die Kriminalität, sondern für seine Figuren und die Strukturen in der Gesellschaft. Er führt seine Figur nicht vor, lässt ihr ihre Würde.

5.3

In den neueren Romanen interessiert die Figur aus der Unterschicht meist als Delinquent. Pow, da hat er jemandem in die Fresse geschlagen. Wups, da hat sie jemand auf die Gleise geschubst. Ach, da hat er wieder viel getrunken, wie die Unterschichtler es halt so tun, und ist dann brutal geworden.

Es gibt ein voyeuristisches Element, ein Ausstellen von Figuren ohne jegliche Empathie, eine Bestätigung von Klischees.

5.4

Das Personal aus der Unterschicht interessiert nicht als ein Nebenprodukt, das diese Gesellschaft nunmal hervorbringt, sondern als eine Art Freak, der aus der Art geschlagen ist, ohne dass jemand etwas dafür kann, und den man nun bestaunt.

5.5

Mir fällt nur ein Roman ein, der eine Unterschicht nach der Jahrtausendwende beschreibt, ohne voyeuristisches Interesse und ohne Absicht, die Lust am scheinbar Authentischen zu befriedigen. Man Down von André Pilz, ein Roman, in dem Kriminalität das Nebenprodukt der Bedingungen ist, die die Mehrheitsgesellschaft diktiert.

André Pilz ist den wenigsten ein Begriff.

6 Die Geschichte mit der Authentizität.

6.1

Die Kritik bescheinigt Romanen, deren Personal keine Privilegien besitzt, gerne Authentizität. Woher sie die Vergleichsmöglichkeit hat, um diese Bescheinigung auszustellen, bleibt schleierhaft. Und warum das ein Kriterium für Literatur sein sollte, auch.

6.2

Senthuran Varatharajah sagt dazu:

Authentizität als literarisches Kriterium […] ist die Bestätigung dessen, was ich immer schon gewusst habe, über Menschen, von denen ich nichts weiß und nichts wissen möchte. Es ist ein Synonym für Ressentiment.

6.3

Wolf Wondratscheck hat Karasek mal mit Prügeln gedroht. Nein, hat er nicht. Er hat nur gesagt, er bedaure, dass sie Zeiten vorüber sind, in der man derlei Dinge (einen Verriss für Einer von der Straße) vor der Tür unter Männern regelt. (Diese Zeiten hat es natürlich nie gegeben, selbst Hemingway hat keine Kritiker geschlagen, sondern nur Kollegen.)

6.4

Ich haue gerne jedem aufs Maul, der nochmal was von authentisch faselt, wenn er einen Roman bespricht, in dem Menschen vorkommen, mit denen er nie redet.

6.5

Der Ausdruck im Gesicht eines Menschen, der gerade hart geschlagen wurde, ist immer authentisch.

6.6

Ich war seit 25 Jahren nicht mehr beim Boxtraining, traue es mir nicht mehr zu und versuche Gewalt zu vermeiden, wo immer es geht.

Aber die bloße Androhung wirkt schon authentisch, oder?

7 Die Geschichte mit dem Vorwissen.

7.1

Leonard Cohen zitierte häufiger den kanadischen Dichter Irving Layton, der gesagt hat: Zwei Eigenschaften sind für einen jungen Dichter von größter Bedeutung – Arroganz und Unerfahrenheit.

7.2

Sagt Lila (siehe 2.3) wurde in Schulhefte geschrieben und war möglicherweise nie für eine Veröffentlichung gedacht. Zumindest war die Veröffentlichung unwahrscheinlich, sofern es sich nicht um einen Marketingzug handelte.

7.3

Kreativität entsteht auch aus Unwissen. Unwissen darüber, wo die Grenzen liegen. Unwissen darüber, was die richtige Technik ist. Unwissen darüber, wie ein Text eigentlich funktioniert.

7.4

Unwissen darüber, wie die betrieblichen Strukturen aussehen. Unwissen darüber, wie Preise, Stipendien und Ehrungen vergeben werden. Unwissen darüber, wo die richtigen Schaltstellen sind.
Diese Art von Unwissen ist sicher hinderlich, aber sie geht Hand in Hand mit dem Unwissen, wie schnell man zermahlen werden kann. Dieses Unwissen macht Mut und zwingt einen, mit eigenen Augen nach Optionen zu suchen, und bietet mehr Möglichkeit, Strukturen zu hinterfragen, weil man sie erst mühsam erlernen muss.

7.5

Ich habe den Eindruck, jeder der Autoren, die heute auf den Markt drängen, kennt sich nicht nur bestens aus mit seinen Bedingungen, mit Preisen, Stipendien, hilfreichen Beziehungen, den Schreibschulen und Selbstvermarktung, sondern auch mit literarischen Techniken, mit Autorenwerkstätten, in denen an Texten geschmiedet wird, bis sie jegliche Hitze verloren haben.

7.6

Das Wissen, das erworben wird, ist im Hinblick auf die Literatur eine Illusion. Siehe 4.5

Siehe auch die acht Regeln von Kurt Vonnegut zum Schreiben, die mit dem Nachsatz enden, dass große Schriftsteller dazu neigen, all diese Regeln zu brechen.

7.7

Ohne das Wissen kann man heutzutage kaum noch einen Vertrag bekommen.

8 Die Geschichte mit der eigenen Biographie.

Meine Großmutter väterlicherseits hat erst nach ihrem 40. Lebensjahr zu lesen und zu schreiben gelernt. Es war ihre einzige Möglichkeit, Kontakt zu halten mit meinem Vater, der in Deutschland Gast war, aber trotzdem arbeiten musste. Meine andere Großmutter war Analphabetin. Meine beiden Großväter nicht. Oder irgendwie schon. Denn sie hatten Lesen und Schreiben gelernt, bevor die lateinische Schrift in der Türkei eingeführt wurde.

Ich bin in den 70ern aufgewachsen, in einer Zeit, in der man mit einem durchschnittlichen Gehalt noch eine Familie ernähren konnte. Meine Eltern haben beide gearbeitet, wir waren nicht reich, wir hatten aber mehr Geld als die meisten in unserer Nachbarschaft.

Mein Vater hat immer gesagt: Lesen bildet. Und: Für Bücher gibt es immer genug Geld in diesem Haus.

Wir hatten vielleicht 40, 50 Bücher daheim und ich habe meinen Vater fast täglich mit einer Zeitung in der Hand gesehen, aber selten mit einem Buch. Er behauptete, früher viel gelesen zu haben, und die Sätze, die er manchmal zitierte, fand ich später bei Dostojewskij, Hamsun und London.

Ich durfte mir so viele Bücher kaufen, wie ich wollte. Von denen, die im großen Supermarkt bei den Schreibwaren auslagen. Als ich das erste Mal eine Buchhandlung betrat, war ich 13. Ich hatte einen Ausweis für die Stadtbücherei, war aber schon auf der weiterführenden Schule, als ich feststellte, dass es nicht nur den Bus der Bücherei gab, der einmal die Woche kam, sondern auch noch eine Niederlassung direkt im benachbarten Stadtteil.

Niemand lenkte oder beeinflusste mich in meinem Lesen. Meine Eltern wussten nicht, was ich las. Sie wussten auch sonst so einiges nicht. Sie konnten mir nicht bei den Hausaufgaben helfen. Sie konnten mir keine Wörter erklären, die ich nicht kannte.

Aber es war nicht nur die Sprache, die fehlte. In dem Viertel, in dem wir lebten, gehörten Diebstähle im Kiosk, frisierte Mofas, heimlich rauchende Kinder, beim Fußballspielen zerschossene Fenster und Prügeleien zum Alltag. Manche Eltern schwankten auf den Schulfesten in der Grundschule, weil sie zu viel getrunken hatten.

Ich sah, wie Freunde geschlagen wurden, weil ihr Ball unter ein fahrendes Auto geraten und geplatzt war. Ich lernte, Verkäufer abzulenken und was Hausverbot bedeutete. Ich musste Kölsch wenigstens verstehen, weil es wichtig war zu wissen, wann man beschimpft wurde.

Ich lernte Dinge, die man lernt, wenn man in so einem Viertel lebt.

Doch alles, was ich über Literatur wusste, hatte ich aus den Büchern, die ich las.

Ich lernte Fremdwörter mit einem Taschenlexikon, das ich mir dafür kaufte, weil ich begriff, dass es mir der Zugang zur Literaturwelt erschweren würde, wenn ich Wörter nicht verstand.

Ich wusste, es gibt Manuskripte und Verlage machen daraus Bücher. Ich ahnte, dass man in Literaturkreisen Fremdwörter kennen muss. Damit war mein Wissen über den Literaturbetrieb erschöpft.

Ich schickte mit Anfang zwanzig Manuskripte an Verlage. In manchen Büchern stand die Verlagsanschrift drin, die Adressen anderer Verlage fragte ich in der Buchhandlung nach.

Vor der ersten Veröffentlichung bekam ich dutzende Formbriefe als Absagen, einige davon mit dem handschriftlichen Vermerk, dass der Titel toll sei. Die Absagen frustrierten mich nicht. Siehe 7.1, Unerfahrenheit und Arroganz.

Ich entwickelte den Ehrgeiz, von jedem deutschsprachigen Verlag eine Absage zu erhalten. Jedem. Ich denke, man bekommt eine Ahnung von meiner Ahnungslosigkeit.

Als später mein erster Roman erschien und sich alle im Verlag freuten, weil ich eine positive Besprechung in der NZZ hatte, wusste ich nicht, was die NZZ war und warum alle wegen einer Zeitungsrezension so aus dem Häuschen waren.

Ein Buch hatte zum nächsten geführt, ich war durch Buchhandlungen und die Regalreihen in der Bücherei gestolpert, ich hatte nie Rezensionen in Zeitungen gelesen oder gar von Literaturbeilagen gehört. Ich bezweifle, dass ich von den beiden Messen wusste.

Heute erscheint mir der Weg, den ich gegangen bin, völlig unwahrscheinlich. Ich bin dankbar, dass ich den Worten und ihrem Klang so weit folgen konnte.
Vielleicht unterschätze ich das Internet, jemand wie ich könnte sich heute ausführlich informieren. Vielleicht hat jede Zeit ihre eigenen Schwierigkeiten, so wie jeder Autor seine eigenen Schwierigkeiten hat. Vielleicht ist der Zustand des heutigen Literaturbetriebs auch nur ein Ausdruck der zunehmenden Kommerzialisierung, die alle Lebensreiche erfasst hat.

Aber ich weiß, dass Literatur Grenzen überwinden kann. Ich weiß, dass Grenzen überwinden Bewegung bedeutet.

Ich bedaure, dass die Unwahrscheinlichkeit dieser Bewegung heute größer scheint, als sie es damals für mich war.

Institutsprosa, Urwaldgäste und Wüsteneinerlei. Viel über Eckhart Nickels Roman „Hysteria“ und ein wenig über zwei andere, auch tolle Bücher

Mit Heyms Träumen stimmt etwas nicht. Mal kommen ihm in der Nacht Bilder davon, wie er sich schreiend mit einem marokkanischen Fensterputzer auf einem Fensterputzlift unterhält, mal träumt er „von einem Wald, in dem Tiere ohne Haut umhergehen und sich wundern“. Heym arbeitet als Designer, als „Fleurateur“, wie die Kollegen sich gegenseitig nennen, in einer Firma, die möglichst realitätsgetreue Imitate von Pflanzen herstellt. Dabei interessiert ihn besonders die Verweigerungshaltung seiner echten Gegenstände, die „Intelligenz der Pflanzen“, wie er es nennt, die sich „dem Prozess der Fälschung“ widersetzen: „Es war das beste Beispiel für das Wunder, das Heym faszinierte, für die Sache an sich, die er nie ganz begreifen konnte, egal wie lange er darüber nachdachte, und die ihm gleichzeitig das letzte, unüberwindbare Hindernis seiner Arbeit aufzeigte. Die Himbeere, deren Samen erst keimfähig werden, nachdem sie gepflückt, gegessen und verdaut wurden.“

In Roman Ehrlichs Erzählung aus seinem Band „Urwaldgäste“ von 2014 wird Heym, grundsätzlich verunsichert von sich und Welt, in den Fängen einer obskuren Erlebnisfirma namens „Agentur Lateralis“ landen, die mit dem Spruch „Lassen Sie sich täuschen“ alternativ gescriptete Realitäten anbietet, ganz ähnlich, wie es im (ziemlich großartigen) Spielfilm „The Game“ die „Consumer Recreation Services“ einem Investment-Banker (Michael Douglas) verspricht. Aber Ehrlichs Figur ist – anders als die Hollywood-Variante – kein Patrick-Bateman-Verschnitt, der sich einem dekadenten Ennui hingibt, sondern ein mattes und medial verstörtes Männlein, das eine Art von Simulationsfieber erfasst hat. Er produziert Plastikpflanzen als „immerschöne Ergänzung des Natürlichen“ und sehnt sich doch nach dem „Echten im Hoheitsgebiet der Nachbildungen“.

Bevor Heym sein erstes Treffen mit der Agentur wahrnimmt, streift er durch die Stadt und „schaut sich in einer Buchhandlung lange Zeit Bildbände über unberührte Urwaldgebiete in Kanada, Alaska und Sibirien an, über Blauwale und ein Kunstbuch über europäische Marinemalerei“. Nachdem ich „Hysteria“ von Nickel gelesen und mir daraufhin Ehrlichs Erzählung nochmal angeschaut habe, hätte ich mich nicht gewundert, wenn Heym an dieser Stelle in der Erzählung als nächstes Nickels Roman in die Hand genommen hätte, so gruselig nah sind sich beide Texte.

Es wirkt tatsächlich, als seien Ehrlichs Himbeeren weitergereicht worden, bis sie endlich, vier Jahre später, bei Nickel angelangt seien, der sie sich nochmal ganz genau angeschaut hat. Sein erster Roman, erschienen bei Piper, beginnt so: „Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht. Die kleinen geflochtenen Holzschalen, die Bergheim [ja, der heißt wirklich so, wie der große Bruder von Heym] auf dem Markt immer hochhob, um zu sehen, ob sich das weiße Vlies am Boden schon von zerfallenden Früchten rötlich verfärbte, waren übervoll mit zu dunklen Beeren.“ Verstört blickt sich Nickels Protagonist nun auf dem Markt um; ihm ist, als sei etwas Grundsätzliches ins Wanken geraten. Er schaut sich das provisorische Gehege einer Weidefarm für Wagyu-Rinder an, und ihm, dem hypersensiblen Neurotiker, fällt ein Rind auf, das sich eigenartig bewegte:

„Während die anderen bereitwillig zu den Kindern der Einkäufer am vorderen Rand der Koppel kamen, um sich streicheln zu lassen, blieb das Tier verstört an der Tränke stehen. Es kratzte mit den Hufen monoton das Stroh zur Seite und rieb sein Fell an den mit krumm geschlagenen Nägeln übersäten Brettern des Zauns. Dabei blieben Hautteile am Holz hängen, sodass allmählich das Fleisch durchzuschimmern begann. Als er genauer hinsah, entdeckte Bergheim, dass trotz der Verletzungen, die sich das Tier beibrachte, kein Blut zum Vorschein kam, sondern immer größere Flächen einer gräulich glänzenden Fleischmasse, die verdorbener Hähnchenbrust in Zellophan ähnelte.“

Der Traum von hautlosen Tieren, den Ehrlich seine Figur träumen lässt, hat, so scheint es, ein Eigenleben entwickelt. Die waidwunden Gestalten sind schlafwandlerisch aus dem einen Buch hinein ins andere getorkelt, um dort Nickels Figur zu traktieren. Denn die Erfahrung auf dem Markt setzt den Startpunkt für Bergheims investigativen Irrweg, der auf den folgenden gut 230 Seiten skizziert wird. In einer Kooperative namens „Sommerfrische“ lernt er eine Mitarbeiterin namens Asche und einen Wissenschaftler namens Dr. Haupt kennen, die ihm stolz eine belebte Natur-Szenerie in Miniatur-Maßstab zeigen: „Erst jetzt bemerkte Bergheim, dass das, was er sah, nicht nur eine perfekte Nachbildung der Natur in Form einer Spielzeugwelt war, sondern dass sich alles noch dazu bewegte.“ Die „Dermo-Plastiker“ haben ganze Arbeit geleistet. Sie sind in der Fälschungsindustrie die nächste Entwicklungsstufe nach den „Fleurateuren“ und arbeiten daran, „ein Abbild dessen, was so sein sollte, wie es einmal war“, zu erschaffen.

Noch am selben Tag nimmt Bergheim einen Termin im sogenannten „Kulinarischen Institut“ wahr, wo er auf zwei frühere Freunde trifft, zuerst auf Charlotte, später auf Ansgar. Das Trio hatte gemeinsam studiert und sich u. a. Vorlesungen über das Leuchten von Meeresquallen angehört. Wir erfahren insbesondere von einem Abend in der sogenannten Aromabar, in der – nachdem Kaffee und Alkohol verboten wurden – die Studis Trips auf Basis von biologischen Rauschstoffen haben. Aber diese unbekümmerten Zeiten sind längst passé, die Ideologeme des sogenannten „Spurenlosen Lebens“, die dem Trio erstmals im Studium begegnet waren, sind zur Staatsdoktrin geworden. Die „Naturpartei“ ist an der Macht und verkündet salbungsvoll ihre Gebote: Die Existenz der Menschheit sei „ein biologischer Zufall“, eigentlich sei sie „nutzlos“ und „sämtliche Eingriffe in das natürliche Leben“ durch den Menschen seien zurückzunehmen. Dementsprechend seien „Einfluss und Auswirkungen, die seine Existenz an sich auf [die Natur] hat, nach bestem Wissen und Gewissen [zu] reduzieren, und, in letzter Konsequenz, auf[zu]heben“.

Im „Kulinarischen Institut“ laufen alle Stränge zusammen: Charlotte ist die Leiterin des Hauses und eine Adeptin des „Spurenlosen Lebens“ geworden, Ansgar hat als „Frucht-Detektiv“ Karriere gemacht, der besonders raren, noch nicht ausgestorbenen Pflanzen nachspürt. Es entspinnt sich eine merkwürdig motivationslose, zugleich soghaft irritierende Handlung, in deren Verlauf Bergheim für mehrere Stunden abtaucht, um mit einer Gedächtnis-Apparatur frühere Studienerfahrungen nachzuerleben. Später werden die Figuren ein absurd aufwändiges mehrgängiges Menü zu sich nehmen, das Nickel in penetranter Eleganz beschreibt. (Ja, wer mag, kann hier eine aristokratische, parfümierte Wertschätzung des Erlesenen erkennen, eine Absage an die Masse. Aber nicht jeder Typ in der Fußgängerzone, der mit einem beigen Trenchcoat und langstieligen Regenschirm herumläuft, ist ein Dandy, und nicht jeder Text, der sich dem Fetisch der Oberfläche und dem Sezieren von Genuss-Mechanismen widmet, ist ein apolitisches, popiges und dekadent-reaktionäres Stück Literatur.) Im Laufe des Abendmahls werden persönliche und institutionelle Geheimnisse zu Tage gefördert, letztlich aber kreist alles um die Frage, die Charlotte einst als Studentin gestellt hatte: „Was ist mit dem Menschen und seinen Spuren? Da wird es doch erst richtig interessant. Wie schaffen wir es, nicht nur unseren, wie haben sie früher noch gesagt, Kohlenstoffdioxid-Fußabdruck, verschwinden zu lassen, sondern den biografischen, mit dem wir uns so viel nachhaltiger in den Leben der anderen verewigt haben, die wir im Laufe unserer Existenz gemeinhin mit den Füßen getreten haben oder noch treten werden?“

Wie eine erste Erprobung dieser Selbsttilgungsphantasie kommt – lange vor „Hysteria“ – Christoph Ransmayrs bizarres Prosagedicht „Strahlender Untergang“ daher. Es ist im Tonfall einer pathetischen TED-Konferenz geschrieben und verkündet in bemerkenswerter Nähe zu Nickel die Lehre von einer „Neuen Wissenschaft“, welche „Beihilfe zur Zukunft“ sei.  Denn sie „erzeugt […] nichts anderes mehr / als die Bedingungen des Wesentlichen: / die Organisation des Verschwindens“. Der Mensch solle sich abschaffen, aber dieser „planmäßige Untergang ist längst / nicht das Ärgste – im Gegenteil: / Seine umsichtige Organisation / und rasche Verwirklichung / bringt alles zurück, was im / Verlauf der beschämenden Entwicklung / eines von der Herrschaft / über die natürliche Welt / blind faszinierten Denkens / schon verloren schien.“

Ransmayrs Debüt, das bei der Veröffentlichung 1982 größtenteils unbeachtet blieb, ist stark durch das postmoderne Phantasma vom Ende des Subjekts geprägt, von Foucaults Bild eines Menschen, der „verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“ „Les mots et les choses“, aus dem das Zitat stammt, war 1966 im Original erschienen, fünfzehn Jahre vor Ransmayrs post-humanistischer Verstirade. Letzterer malt sich die „die Organisation des Verschwindens“ derart aus, dass in Wüsten Terrarien angelegt werden, „[m]eterhoch die Umzäunung, / sorgfältig geglättet / die Ebene aus Steinen und Sand / und frei von Wasser und Bewuchs“, in die dann ein Mensch eingesperrt wird, bis er dehydriert und sich bis zur Substanzlosigkeit auflöst: „Ich bin der Zusammenbruch der Thermoregulation, / ich bin / der allesumfassende Verlust. / Ich konzentriere mich in allem / und werde weniger.“

„Strahlender Untergang“ mag es sich ein wenig zu schnell zu bequem gemacht haben in seiner Untergangslust. Und doch zeigt das Langgedicht die Nervosität der menschlichen Spezies auf, die zwischen verfluchter Präsenz und ersehnter Abwesenheit, zwischen der schuldbehafteten Unlust am Hier und der schamvollen Lust am Dort pendelt. Bei Nickel ist das „spurenlose Leben“ zur „Neuen Wissenschaft“ geworden. Die Doktrin wird als kritische Fortsetzung eines ambigen Verhältnisses zur Natur entworfen, freilich als zeitgeistige Aktualisierung: Das Programm besteht wesentlich im Versprechen von bzw. in der Nötigung zu einer ethischen Gesundung durch ein dauer-achtsames Leben. Als finale Pointe lockt die Wiederherstellung eines wildwüchsiges Paradieses ohne menschliche Makel. In der Kooperative ebenso wie im Institut wird indes klar, wie schizophren diese Unternehmung ist: Der Wissensstand und die Apparaturen, die nur eine hochentwickelte Kultur hervorbringen können, werden eingesetzt, um eben diese dem Abgrund entgegenzuführen. Nickels schelmisches Buch führt uns eine alte zivilisationskritische Dauerschleife vor: Je mühsamer sich der Mensch im Anthropozän danach sehnt, vom Erdball zu verschwinden, umso stärker schreibt er sich ihm ein.

Aber was gehört überhaupt getilgt? Wer definiert, was am Leben lebenswert, was verabscheuenswürdig ist? Hier treffen sich Nickels Öko-Dystopie „Hysteria“ und Juli Zehs Medizin-Dystopie „Corpus Delicti“: Beide kritisieren eine Form der hygienischen Moralisierung, die keinen Erreger und keinen Abfall, keine Spuren und keine Rückstände zulässt. Während Zehs Roman aber ziemlich konform vor sich hin erzählt und ständig auf seine alarmistische Botschaft schielt, ist Nickels Roman ästhetisch weit anspruchsvoller und verspielter. Der Text inszeniert auch auf einem formalen Level das Thema der Künstlichkeit, etwa durch das unorganische Gebaren der Figuren. Ihnen wohnt kein Leben inne, ihr Habitus ist widernatürlich, sie sprechen an den unpassenden und schweigen an den falschen Stellen. Insgesamt wirken Bergheim, Charlotte & Co wie Apparate, die ruckeln, wie Maschinen, die stottern, während sie so tun, als seien sie Menschen. Ständig hat man das Gefühl, Widergängern aus anderen Büchern zu begegnen, literaturhistorischen Kopien, die in „Hysteria“ als schlechter Import umherstolpern.

Auch glänzt und brilliert und blendet die höchst stilisierte Text-Oberfläche mit Adjektiven, Archaismen und Anspielungen. Das Buch ist ein Pastiche, und die Feuilletons sind ihrer Lieblingsbeschäftigung, der Erbuddelung intertextueller Referenzen, längst nachgekommen. Zeit, SZ und FAZ warten u. a. auf mit: Sigmund Freud (das Unheimliche als Grundgefühl), Edgar Ellen Poe (grusel, grusel), E. T. A. Hoffmann (die Ununterscheidbarkeit menschlicher und nicht-menschlicher Sphären, die Krise des Subjekts), Joris-Karl Huysman (die unbedingte Verschönerung der Natur) und Franz Kafka (Irrwege in einem institutionellen Apparat). Neben der gesättigten Lektüre-Erfahrung bietet einem dieses erratische und kokette und zehnfach geschichtete Werk zwei Boni an: dass erstens jede Seite einen immer neu dazu einlädt, die in launigen Kolumnen gelesenen Bio- und Anti-Bio-Kommentare weiterzudenken und auf ihre Widersprüche und Möglichkeiten, auf ihre Verschwiegenheiten und Selbstlügen hin zu überprüfen, und dass, zweitens, dieser bemerkenswerte opake Text einem – endlich mal – ein genuin ästhetisches Reflexionsangebot unterbreitet, um dem irrsinnigen Zeitgeist beizukommen.

Tschick im Coby County, Faserland – Thomas Klupps “Wie ich fälschte, log und Gutes tat”

Wenn ein Autor neun Jahre nach seinem literarischen Debüt erst seinen zweiten Roman veröffentlicht, liegen zwei Reaktionen nahe. Man fragt sich vielleicht erstens, warum es so lange gedauert hat und man ruft sich zweitens noch einmal ins Gedächtnis, was es mit dem damaligen (ersten) Roman auf sich hatte. Die erste Frage lässt sich vermutlich leicht beantworten. Das Hildesheimer-Urgestein Thomas Klupp unterrichtet seit 2007 an dem Institut, an dem er selbst den Studiengang Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus studierte, und es ist somit naheliegend, dass er mehr damit beschäftigt ist, anderen das Schreiben beizubringen als selbst zu schreiben, warum auch nicht? Die zweite Frage, worum es denn im 2009 erschienen Paradiso noch einmal ging, ruft zunächst Erinnerungen an eine Roadnovel hervor: Alex Böhm will per Mitfahrgelegenheit zum Münchner Flughafen und landet schließlich nach vielen Irrwegen in seinem oberpfälzischen Heimatort Weiden und verschwindet beinahe holden-caulfield-mäßig im Roggenfeld. Soweit so gut. Wie wurde dieser Roman damals aufgenommen, fragt man sich als nächstes. Also noch einmal eine Rezension zu Thomas Klupps Erstling aus den Tiefen des Internets hervorgeholt. Dort heißt es:

„Klupp versteht sein Handwerk. “Paradiso” enthält alles, was ein gebrochener Ich-Erzähler auf der Suche nach sich selbst braucht: Provinz, Pubertät, Pickel. Es geht um Frauen und Drogen, um Weltekel und um literarische Erfahrungen.“

Hier könnte man zum ersten Mal stutzen, denn auch in Klupps neuem Roman Wie ich fälschte, log und Gutes tat (Berlin Verlag, 2018) erzählt ein junger Ich-Erzähler, 16 Jahre alt, von seinen pubertären Wie ich fälschte, log und Gutes tatProblemen in der Provinz. Pubertäre, männliche Ich-Erzähler haben immer Probleme mit Frauen und Drogen in der Provinz. So eben auch Klupps neuer Protagonist Benedikt Jäger. Er ist wie gesagt 16 Jahre alt, spielt sehr gut Tennis, nimmt Drogen und hat seit Neuestem eine Freundin. Zumindest sind die beiden zusammen, was in diesem Fall heißt, sie will, dass alle denken, sie habe einen Freund, weswegen sie und Benedikt ständig sichtbar knutschen.

Fälschen und Vorspielen – Alles ist fake

Und damit sind wir auch schon bei dem Hauptthema des neuen Romans: das Fälschen und Vorspielen. Benedikt Jäger, den seine Freunde häufig Dschägga nennen, ist ein Meister des Lügens und Fälschens. Er fälscht nicht einfach nur Unterschriften seiner Eltern auf Klassenarbeiten, er fälscht sogar die Klassenarbeiten, nachdem er sie zurückbekommen hat, um seinen Eltern gute Noten präsentieren zu können und entwickelt sich dabei zum regelrechten Profi im Fälschen. Aber immer der Reihe nach. Benedikt Jäger lebt in – na, wo? – richtig, in Weiden in der Oberpfalz, er geht auf das Kepler-Gymnasium und spielt sehr erfolgreich Tennis. So erfolgreich, dass er und seine Mannschaftskameraden lokale Berühmtheiten werden und für eine Antidrogenkampagne auf Plakatwänden herhalten müssen. Das ist natürlich auch nur Fassade, da die Jungs selbstverständlich in der Provinz-Disse Butterhof saufen wie die Löcher, kiffen und gelegentlich auch ein bisschen Crystal Meth rauchen – bayrisch-tschechisches Grenzland eben. Peu à peu schält sich aus dem narrativen jugendlichen Gelaber von Benedikt heraus, worum es in dem Roman geht: Alle in Weiden, vom Protagonisten selbst, über den Besitzer der Dorfdisko, Crystalmäx (!), über die Mutter des Protagonisten, bis hin zum Kepler-Gymnasium, haben eine perfekt glänzende Fassade, hinter der es ganz anders aussieht: alles ist fake. Crystalmäx gibt sich als Wohltäter und kassiert Spenden für Wohnungen für Geflüchtete, während er Drogen schmuggelt und andere krumme Geschäfte tätigt. Benedikts Mutter bezahlt ihren Sohn dafür, dass er sie anruft, wenn Freundinnen da sind, damit sie dann weltgewandt so tun kann, als würden Bekannte aus Frankreich oder Italien anrufen und am Kepler-Gymnasium sollen die Schüler in den sogenannten MINT-Fächern nach oben korrigiert werden, damit die Schule in die Exzellenzinitiative hineinkommt – alles fake oder wie der Erzähler es selbst sagt, als er seine Stadt aus der Vogelperspektive sieht:

 „Und die Ansicht darauf sah beschissen aus. Also nicht die Ansicht selbst. Die war okay. Sondern das, was darunter lag. Oder dahinter. Oder wo auch immer. Diese aus der Tiefe emporwuchernde Fälschung, dieses Trugbild, das mein Leben war.“ (17)

Benedikt Jäger ist ein Anti-Felix Krull. Zwar auch ein Blender, aber während Thomas Manns bekennender Hochstapler seine Mitmenschen durch eloquentes Reden, das die Leere hinter seinen Aussagen in blumigen und sprachgewandten Sätzen versteckt, hinters Licht führt, ist Klupps Protagonist eher ein Meister der Dokumentfälschung. Zwar auch unheimlich gut im Reden, aber längst nicht so stilsicher wie Krull, schnoddert Benedikt einfach drauflos. Die literarische Referenz für Klupps Blender ist auch der schillernde und schrille Jay Gatsby – vermutlich die Baz Luhrmann Version – , über den Benedikt einen Aufsatz in Englisch schreibt.

Überdeutliche Parallelen

Nachdem man dieses Thema als den Kern des neuen Romans von Thomas Klupp ausgemacht hat, kann man noch einmal zurückkehren zu Paradiso. Genauer gesagt, man kann sich überlegen, was neben Roadtrip das Thema dieses Romans war. In einer Rezension der Süddeutschen Zeitung hieß es damals:

„Alex Böhms Leben ist eine Kette von bewussten Täuschungen. Ob er seine Freundin per SMS in die Irre führt, seinen besten Kumpel hintergeht oder eine Frau in der Kneipe sitzen lässt, während er sich aus dem Klofenster davonstiehlt – Alex Böhm lügt und betrügt nicht nur, wie es ihm gefällt, sondern auch, weil es ihm gefällt.“

Der Protagonist von Klupps Debüt im Jahr 2009 log und betrog also gerne, sein Leben war „eine Kette von bewussten Täuschungen“ und ein bisschen Literaturreferenz ist auch mit drin. Es wird deutlich, worauf ich hinaus will? Die Parallelen zwischen den beiden Romanen treten sehr deutlich zutage. Man mag einwenden, dass Benedikt Jäger mehrmals betont wie ungern er fälscht und betrügt, aber er tut es immer wieder und sein wiederholtes Beteuern, er würde damit aufhören, glaubt man ihm wirklich nicht.

Viele Gemeinsamkeiten finden sich also zwischen Klupps beiden Romanen – ein paar zu viele kann man sagen. Aber lässt sich das gut lesen? Jein! Es liest sich so schnell wie das sprichwörtliche Messer durch warme Butter geht, durchaus unterhaltsam und am Ende kommt sogar ein bisschen Spannung auf, bei der man merkt, dass Klupp wirklich schreiben kann. Was aufstößt ist der gewollt jugendliche Ton des Erzählers. Da wird die Bag gezippt, da wird abgehasst, da gibt es den Ultraflash nach Crystal-Konsum, den man aber am Morgen mit Kieferfasching bezahlen muss – manchmal klingt der Erzähler als wäre er dem Alptraum der Jugendwort-des-Jahres-Liste entsprungen. Gleichzeitig taucht irgendwann das Wort fickrig auf, das mir sonst vorrangig in der Alternativliteratur der 70er Jahre unter die Augen gekommen ist. Was dann wiederum durchaus realistisch wirkt sind pseudpoetische Passagen wie diese:

„Silbriges Mondlicht fiel von jenseits des geborstenen Türrahmens in den Raum, den wir vorsichtigen Schrittes durchquerten, um in einen von Fenstern gesäumten Gang einzubiegen.“ (100)

So klingen – das weiß ich aus eigener schamvoller Erfahrung – 16jährige wirklich, wenn sie versuchen poetisch zu werden. Dass Klupp in Wahrheit aber keine Ahnung vom Leben der 16jährigen im Jahr 2018 hat, zeigt sich dann leider wiederum daran, dass Benedikt Jäger intensiv Facebook nutzt. War Facebook vielleicht vor 5-10 Jahren, als Klupps Protagonist gerade in der Grundschule war, noch ein wichtiger sozialer Faktor, so ist das soziale Netzwerk heute nicht nur eines von vielen, es ist auch bei den heute 16jährigen kaum noch in. Erst recht nicht, wie Klupp es beschreibt, als Gradmesser des eigenen Status in der peer-group – Benedikt freut sich über 56 neue Freundschaftsanfragen, nachdem er durch die Antidrogenkampagne berühmt wurde, während seine Kumpels deutlich weniger haben. Die Nutzung von Facebook wäre jetzt nicht das Problem, aber da Instagram, Snapchat und andere soziale Netzwerke gar nicht erwähnt werden, entsteht der Eindruck, dass Klupp einfach nicht weiß, was bei den Kids heut so abgeht. Ähnlich sieht es beispielsweise auch bei den Serien aus, Benedikt schaut Game of Thrones, Breaking Bad und Homeland – niemand schaut mehr Homeland!
Alles zusammengenommen: Das Thema und der Ort der Handlung, die nahezu identisch sind mit Paradiso, die gestelzt und falsch wirkende Jugendsprache, die offenbare Unkenntnis eines Anfang 40jährigen das Leben der heute 16jährigen betreffend, all das lässt Wie ich fälschte, log und Gutes tat unfertig erscheinen, nicht richtig durchgegart.

Gutes Thema, aber…

Dabei ist das Thema per se kein schlechtes und die perfekte Oberfläche einer angekratzten Welt ist auch schon wesentlich schlechter dargestellt worden als von Klupp, der es schafft das Thema Scheinwelt ohne aufdringliche Klischees darzustellen und dabei ein paar Seitenhiebe auf Pseudowohltätigkeit einbaut, die durchaus ihr Ziel treffen. Dass er sich dabei erstaunlich wenig an die Fake-Welt der sozialen Medien herangetraut hat, spricht vielleicht dafür, dass er weiß, wie schnell man dabei in die Klischeekritikfalle tappt, das führt aber leider dazu, dass man dem Roman die Umwelt seines Protagonisten nicht so wirklich abnimmt.

Was ist dieser Roman also geworden? Die Jugendsprache hat man schon besser bei Wolfgang Herrndorfs Tschick umgesetzt gesehen, die dürfte zwar inzwischen auch wieder überholt sein, aber damals war sie nah dran. Die Kritik an einer schönen Fassade, hinter der der Dreck lauert, zeigt sich auch bei Leif Randts Romanen und das unzuverlässige Erzählen eines lügenden Protagonisten findet sich auch ein bisschen bei Faserland. Thomas Klupp hat also einen modernen Schelmenroman über einen eigentlich gutherzigen, jungmännlichen Lügner geschrieben – wie auch schon 2009.

Wie ich fälschte, log und Gutes tat ist somit ein unspektakulärer, aber witziger, manchmal kluger Roman geworden, der sehr gegenwärtig sein will, daran aber leider scheitert und insgesamt wirkt als hätte der Autor besser noch etwas mehr Recherche und Feinarbeit investiert, aber dafür war dann vielleicht doch schon zu viel Zeit seit dem letzten Roman vergangen.

Die sogenannte Wiedergabe der sogenannten Welt. Ein paar Gründe gegen Geschichten

Neben einem perfekt geschürten Feuer sitzt Reinhold Messner, vor ihm die Besucher, hinter ihm die Bergmassive. Alles ist auf ihn ausgerichtet, denn es ist wieder Zeit für eines der „Gespräche am Feuer“, bei denen Messner, so steht es in der Ankündigung, „von seinem Leben erzählen“ wird. Aber diese ganz besondere Retrotopie gibt es nicht umsonst. Der Eintritt kostet 20 Euro für Erwachsene, dann aber ist man dabei, wenn der alte weise Mann auf der hauseigenen Burg Sigmundskron bei Bozen den Unwissenden und Daheimgebliebenen vom Unerhörten dort draußen erzählt.

Die Szenerie wirkt, als sollten in der Abgeschiedenheit Südtirols die ersten Sätze aus Walter Benjamins Aufsatz „Der Erzähler“ von 1936 widerlegt werden: „Der Erzähler – so vertraut uns der Name klingt – ist uns in seiner lebendigen Wirksamkeit keineswegs durchaus gegenwärtig. Er ist uns etwas bereits Entferntes und weiter noch sich Entfernendes.“ Anschließend unterscheidet Benjamin zwischen dem vormodernen Erzähler, der aus einer mündlichen Tradition stamme und „Kunden aus der Ferne“ brächte, und dessen modernem Nachfolger, der uns in Romanen entgegentrete, ohne aber die organische Nähe herzustellen, die einst von der Figur des Erzählers ausgegangen sei.

Messners Lagerfeuer-Abende sind in diesem Sinne anti-moderne Reenactments dieser alten Erzähltradition: ein Mann, eine Stimme, große Augen, offene Münder. Und die Smartphones, die nahezu von jeder Kunde aus jeder Ferne berichten könnten, sind auf Burg Sigmundskron sicherlich auf lautlos bzw. Flugmodus geschaltet. Lieber gibt man sich dem archaischen Ritual hin, das ein starkes Bedürfnis zu bedienen vermag: lebensnahes Material zu liefern sowie die Möglichkeit, dabei zu sein, wenn ein großer Bogen gespannt wird.

„Facts tell, stories sell“

In der Erzähltheorie wird diese Funktion als Kontingenzbewältigung bezeichnet. Erzählungen helfen, so der Germanist Albrecht Koschorke in seinem Standardwerk Wahrheit und Erfindung, Erlebtes sinnvoll zu bündeln, um nicht an der Willkür einer kalten Welt zu zerschellen. Laut dem Philosophen Alasdair MacIntyre sind wir denn auch „storytelling animals“, die durch Narration Sinn in die Welt setzen. Kurzum: Geschichten helfen uns seit jeher, klarzukommen.

In seinem Essaybuch Portrait des Managers als junger Autor hat Philipp Schönthaler nachgezeichnet, wie aus dieser anthropologischen Konstante ein ökonomisches Prinzip geworden ist. Er zitiert unter anderem Tham Khai Meng, der als Worldwide Chief Creative Officer einer erfolgreichen Werbeagentur arbeitet und Kampagnen für Coca-Cola und Greenpeace betreut hat: „Ich glaube, es gibt ein Gewerbe, das noch älter als die Prostitution ist. Es gehört zu unserer täglichen Arbeit: Storytelling.“ Und James Carville und Paul Begala bringen die Verschmelzung von Wirtschaft und Erzählen in ihrem Manager-Ratgeber auf eine prägnante Formel: „Facts tell, stories sell.“

Dass die Story längst zu einer Konsumkategorie geworden ist, ist seit einigen Jahren an jedem Bushäuschen und in jeder Werbepause zu sehen und zu hören: Lotterie-Unternehmen und Krankenkassen brüsten sich auf Plakaten damit, ganz besondere Geschichten zu ermöglichen: Erst diejenige, die eine schwere Krankheit überwunden hat, kann und darf erzählen. Und nur derjenige, der im Lotto gewonnen hat, ist auserkoren, seine Geschichte zu teilen. Gesunde oder Arme kommen in dieser Betrachtung nicht vor. Sie zählen nicht, weil sie vermeintlich nichts zu erzählen haben.

Wenn diese Unterscheidung zwischen erzählenswerten und -unwerten Erfahrungen auf die Praxis des eigenen Lebens übertragen wird, setzt eine Selbstdisziplinierung ein. Die Wertigkeit eines Augenblicks misst sich dann an dessen Erzählbarkeit, die wiederum durch zwei Kriterien bestimmt wird: Erfolg und Effizienz. In diesem Sinn ist die „Story“-Funktion, wie sie User und Userinnen bei Instagram, Facebook und Snapchat nutzen, mehr als nur die Bezeichnung für ein technisches Feature. Es geht vielmehr um eine grundsätzliche Operation, durchgeführt am öffentlichen Selbst. Mit jeder „Story“ wird narrative Optimierung betrieben. Letztlich begreift man sich selbst als jemanden, der erzwungen-kreativ die eigenen Erfahrungen als Ressource versteht, um sich ego-erzählerisch die bestmögliche Geschichte abzutrotzen. Wer dem gegenwärtigen Hype um Memoirs, semi-biographische Bücher und autofiktionale Texte nachgehen will, kommt nicht umhin, diese Phänomene zu berücksichtigen und kritisch zu hinterfragen.

Diachroniker versus Episodiker

In seinem Aufsatz Against Narrativity von 2004 polemisiert der Literaturkritiker und Philosoph Galen Strawson nun gegen die Vorstellung, jedes Leben sei narrativ organisiert und jede Biographie sei letztlich als eine Erzählung zu begreifen. Insbesondere wehrt er sich gegen die ethische Implikation, dass nur ein erzählbares und erzähltes Leben als ein gutes gelte. Anschließend unterscheidet er zwischen diachronischer und episodischer Selbsterfahrung. Erstere bestünde darin, sich selbst auf einer Zeitlinie zu betrachten, die Vergangenheit als erfahrene Prägung und die Zukunft als noch zu erfahrende Prägung zu verstehen. Das Leben wird zum Plot mit einem Vorher und Danach. „Episodiker“ hingegen tendieren zu einem punktuellen Weltverständnis. Sie verorten sich nicht auf einer Zeitachse, Früheres und Zukünftiges haben für sie keine Relevanz.

Diese zwei „temporalen Temperamente“ unterscheiden sich Strawson zufolge auch in der Art, wie sie ihr Erleben konzeptualisieren. Indem die Forschung, sei es in Philosophie, Erzählwissenschaft, Psychologie oder Soziologie, nahezu exklusiv die bio-narrative These vertrete, würde der Welterfahrungsmodus der Episodiker als mangelhaft, ja, falsch gebrandmarkt. Dabei sei Strawson, der sich zu den Episodikern zählt, der Meinung, dass er glücklicher als viele andere sei mit seinem „truly happy-go-lucky, see-what-comes-along“-Leben.

Das Leben, eine rhetorische Illusion

Mit diesem psychologischen Veto gegen das Storytelling steht der britische Kritiker Strawson längst nicht allein. Bereits 1986 veröffentlichte der Soziologe Pierre Bourdieu einen Aufsatz mit dem Titel L’illusion biographique. Auf wenigen Seiten skizziert er, dass die Etablierung einer sozialen Identität einhergehe mit der Konstruktion einer Lebensgeschichte – mit allem, was dazugehöre: Die Lebensgeschichte muss chronologisch und logisch sinnvoll sein, sie soll linear und zielstrebig voranschreiten und eine identitäre Kohärenz behaupten. Tatsächlich bestünde hierbei aber die Gefahr, „sich einer rhetorischen Illusion zu unterwerfen“, einer „trivialen Vorstellung von der Existenz“ als Geschichte. An einer Stelle spricht Bourdieu dann auch von einem Gegenmodell, von der „Anti-Geschichte“, die sicherlich auch dem Episodiker Galen Strawson zusagen dürfte.

Als Soziologe interessiert sich Bourdieu aber nicht nur für den Einzelfall, sondern für dessen Einbettung in ein größeres, systematisches Ganzes. Wer sich anschaue, wie sich Menschen artikulierten, dem würde auffallen, dass sie „spezifischen Zwängen und Zensuren“ ausgesetzt seien. So geht man in der Darstellung der Lebensgeschichte konform mit den Anforderungen und Ansprüchen des Systems. Man normalisiert sich und versucht einen Standard zu erfüllen, um „dem offiziellen Modell der offiziellen Selbst-Präsentation“ zu entsprechen. Alle Geschichten beginnen, sich zu gleichen. Das erschütternd Außergewöhnliche wird zum Makel, nicht zum Bonus.

Auch Philipp Schönthaler merkt in seinem Essay kritisch an, dass die Allgegenwart von Erzählungen nicht nur ein Segen ist. Deren literarische Lizenz, nicht so genau zwischen Erfundenem und Gegebenem unterscheiden zu müssen, habe immer schon dazu eingeladen, Geschichten propagandistisch aufzuladen und sie an jenen Stellen einzusetzen, an denen Argumente und faktisches Wissen ihren Dienst versagen. Auch verweist Schönthaler auf den Schriftsteller und Professor für Anglistik James Phelan, der von einem „narrativen Imperialismus“ in der Wissenschaft spricht. Nahezu alle Disziplinen hätten sich dem narrativen Paradigma angeschlossen, ganz so, als sei außerhalb der Narration von Welt und Leben nichts mehr zu haben.

„Life alone is enough“

Es gibt also gute Gründe, skeptisch zu sein gegenüber der mal suggestiven, mal disziplinierenden Macht von Geschichten. Nicht umsonst hat sich Thomas Bernhard zum „Geschichtenzerstörer“ stilisiert. Wenn er „in der Ferne irgendwo hinter einem Prosahügel die Andeutung einer Geschichte auftauchen“ sähe, dann schieße er sie ab. Und Paul Nizon brandmarkt Geschichten als „Anschläge auf das Leben“ und „Anbiederungen“, die dazu dienten, das Leben „abzuziehen oder abzufüllen und in Tüte, Schachtel oder Wort mitzunehmen“. Resignativer klingt wiederum Samuel Beckett: „A story is not compulsory, just a life, that’s the mistake I made, one of the mistakes, to have wanted a story for myself, whereas life alone is enough.“

Mit ihren Aussprüchen passen diese Autoren in eine Schematisierung, die die öffentliche Debatte in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Die Postmoderne wird zur Zielscheibe, und mit ihr werden schriftstellerische Figuren, die die Postmoderne literarisch befeuern, zu „Pappkameraden“, an denen Schießübungen stattfinden: Dieser Schlag von Theoretikern und Künstlern habe, so der Vorwurf, eine fundamentale Unsicherheit über die Gesellschaft gebracht. Sie hätten den Menschen jegliche weltanschauliche Verbindlichkeit und kategoriale Stabilität genommen. Mit der Wunderwaffe des „Konstruiert-Seins“ wirkten sie letztlich zersetzend. Wie, es braucht keine Geschichten mehr? Wie, Wahrheit als Absolutes lässt sich nicht dingfest machen? Dementsprechend sei dieser postmodernen Bedrohung ein Essentialismus entgegenzusetzen, der alte Werte als neue Rettung einbringe: das Reale, das Natürliche, der unantastbare Kern. Es gibt Nationen, es gibt Rassen, es gibt Realität. Und freilich gibt es auch Geschichten, die von alledem künden. Wieso bloß all die Brüche und Relativierungen und Uneigentlichkeiten? Stattdessen brauchen wir wieder richtige Erzähler, wahrhaftige Benenner. Just an dieser Stelle werden dann aus erzähltheoretischen Überlegungen politische Fragestellungen.

Denn eine Gegenwartsliteratur, die ihre Intelligenz größtenteils darauf verwendet, eine soziale Realität möglichst getreu abzubilden, hat für die hier aufgezeigten Problemlagen keinen Blick. Solchen Romanen, wie sie gerade zuhauf auf den Buchmarkt geworfen werden, entgeht, dass ihr schriftstellerisches Kerngeschäft problematisch geworden ist, etwa durch die skizzierte ökonomische Indienstnahme von Narrationen. Ebenso bleiben diese Romane blind dafür, dass sie mit ihrem naiven Realismus einem anti-modernen Zeitgeist in die Hände spielen und sich für fragwürdige politische Andock-Manöver bereitstellen können. Stattdessen fühlen sich ihre Autorinnen und Autoren von einem Feuilleton geschmeichelt, das sie aus exotistischen Gründen hofiert, Stichwort: Authentizität und ein Dunkle-Gesellschaftsecken-für-die-Kulturjournalisten-Ausleuchten (hier, ab 03:14) Wegen alledem ist der untertheoretisierte Realismus, auch „Inhaltismus“ genannt, weit mehr als eine nur harmlose saisonale Erscheinung, sondern ein Symptom dafür, wie wenig Ahnung bemerkenswert viele Autoren und Autorinnen haben, wenn sie erneut zur sogenannten Wiedergabe der sogenannten Welt ansetzen.

Flauberts Jaulen oder das Lesen der Zukunft

Als Flaubert 1864 einen Brief an einen Freund schreibt, klagt er über seine Reise mit der Bahn: „Ich langweile mich derart in der Eisenbahn, dass ich nach fünf Minuten vor Stumpfsinn zu heulen beginne. Die Mitreisenden denken, es handle sich um einen verlorenen Hund; durchaus nicht, es handelt sich um Herrn Flaubert, der da stöhnt.“ Dieses Zitat leitet der großartige Wolfgang Schivelbusch in seinem Buch „Geschichte der Eisenbahnreise: Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert“ nach einigen Vorüberlegungen zur Veränderung der Raumwahrnehmung durch die Eisenbahn mit einer scharfen Diagnose ein: „Die Unfähigkeit, eine dem technischen Stand adäquate Sehweise zu entwickeln, erstreckt sich unabhängig von politischer, ideologischer und ästhetischer Disposition auf die verschiedensten Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts.“ Wenn ich nun heute Elegien darüber lese, dass sich die Leute keine Schmuckbände großer Autoren mehr ins Bücherregal stellen wollen oder Wehklagen über fehlende Bücher im neuen Ikea-Katalog erklingen, fühle ich mich unweigerlich an das Jaulen Flauberts erinnert.

Wir befinden uns in einer interessanten Phase der digitalen Revolution, an der ein sich exponentiell beschleunigender technischer Wandel anfängt zunehmend auch an den Fundamenten ehemals für unumstößlich gehaltener kultureller Gebäude zu nagen. Die Folgen dieses umfassenden medialen Wandels, dessen Auswirkungen Einfluss auf die sozialen und politischen Verhältnisse nehmen, und sogar unsere sensorische Wahrnehmung der Welt selbst verändern, treffen selbstverständlich auch den Literaturbetrieb.

Ein Teil dieses Betriebes ist gerade zusammengebrochen, als der traditionsreiche Stroemfeld-Verlag Insolvenz angemeldet hat. Das ist nicht nur traurig, weil die Geschichte des kleinen Verlags so spannend ist, immerhin entstammt er der linksautonomen Szene Frankfurts in den 1970er Jahren, sondern auch weil sich anhand der Profilbildung und Programmentwicklung dieses Verlages sehr gut nachzeichnen lässt, wie sich kulturelle Sensibilitäten und Wertungen in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Zunächst ließ bereits die frühe Hinwendung eines linken Verlages zur Hölderlin-Herausgabe inklusive detaillierter Faksimiles vermuten, dass es mit dem Umstürzen bürgerlicher Ideale durch die 68er gar nicht so besonders weit her war. Das radikale dieser Generation Linker widerspiegelte sich scheinbar nicht in einer Aufhebung des Kanons oder der Verabschiedung bürgerlicher Statussymbole, stattdessen waren wohl die büchergefüllten Schrankwände, als Teil eines gebildeten Habitus, auch für linke Umstürzler ein entscheidender Bestandteil der Mentalität. Gleichzeitig wurden diese repräsentativen Ausgaben in einem Programm mit den radikal innovativen kulturtheoretischen Überlegungen von Klaus Theweleit herausgegeben, das Verlagsprogramm der frühen Jahre ist also ein recht gutes Beispiel für die inneren Widersprüche und komplexen intellektuellen Verhältnisse des politischen Umfeldes der Gründungszeit des Verlages. Ein Programm, das sich vor Allem von der Neigung zu anspruchsvollen Texten leiten ließ und nicht von politisch motivierter Kanonöffnung und -erweiterung. Nicht nur aufgrund der komplexen Geschichte des Verlages in linker Subkultur ist die Insolvenz zu beklagen, sondern auch weil das Verlagsprogramm mit seinen liebevoll ausgestatteten historisch-kritischen Ausgaben, ambitionierter Kulturtheorie und ästhetisch anspruchsvoller Literatur eine Lücke in der deutschen Literaturlandschaft hinterlassen wird.

Nun wurde der Verlag also von der oben beschriebenen Welle eines umfassenden Medien- und Kulturwandels erfasst und in Folge dessen wird auf die Umwälzungen, vor denen lange bewusst oder unbewusst die Augen verschlossen wurden, wahlweise mit kulturpessimistischem Alarmismus oder einer trotzigen Wagenburgmentalität reagiert. „Einst, als wir lasen“ titelte die FAZ, als ob wir uns momentan in einer Zeit befänden, in der nicht mehr gelesen wird. So wird nicht nur die Kundenschwundstudie “Buchkäufer – quo vadis?” des Börsensvereins, die den Buchmarkt aufrüttelt, das Erscheinen eines Ikea-Katalogs, der  2018 in den Produktfotos von Bücherregalen kaum noch Bücher zeigt und auch die Insolvenz des Stroemfeld-Verlags zum Anlass anschwellender Kulturverlustklagen in den sozialen und gedruckten Medien. Nun sind wir also angekommen, in der vielfach befürchteten digitalisierten Welt, in der nicht mehr gelesen wird, Epigonen der Hochkultur zu Staub zerbröseln und kulturlose Horden ihre Unterhaltung aus Internet und Netflix beziehen – quelle horreur!

Würden die Hohepriester des Kulturverfalls einen Moment innehalten und sich besinnen auf das, was ihnen vorgeblich so wichtig ist, nämlich den Wissensschatz in den eleganten Hardcovern in ihren Schrankwänden, dann würden sie vielleicht eine andere Tonart anschlagen. Unter B oder E beispielsweise, denn traditionell wurden die Bücher in den Regalen noch nach dem Alphabet sortiert und nicht nach Farbe der Buchrücken oder sonstigen fotogenen Sperenzchen, finden sich beispielsweise Pierre Bourdieu und Norbert Elias, bei denen man einiges zum Habitus und seiner symbolischen Präsentation nachlesen kann. Die Wichtigkeit des Bücherregals für die performative Identitätsbildung des gebildeten Europäers war über viele Jahrzehnte unhintergehbare Gegebenheit. Dass die Bücherwand jedoch in den letzten Jahren als Bildungsmarkierung und Hinweis auf Weltgewandtheit ausgedient hat, findet schon ein aufmerksamer Beobachter aktueller Autorenportraits heraus, denn dort zeigen sich nur noch selten Schreibende unter 50 vor ihrer Bücherwand, stattdessen wird vor Mauern oder in Hauseingängen gestanden, in Cafés oder auf Steintreppen gesessen – passende Symbole für ein urbanes Weltbürgertum, das sich nicht auf die eigene Wohnung beschränken und von 2345 Kilo Papier beschweren lässt. Wer braucht heute noch historisch-kritische Ausgaben und Schmuckbände im Privatbesitz, wenn befristete Verträge und schwierige Arbeitsmarktsituationen den regelmäßigen Umzug nicht nur notwendig machen sondern zum Lifestyle einer ganzen Generation werden lassen. Könnte man dann jedoch nicht gerade das Festhalten an schweren Bücherkisten als Anker im Umzugswirrwarr zu einer antikapitalistischen Protestgeste stilisieren? Doch die Trennung von der Büchersammlung ist nicht nur pragmatisch begründet, auch die Hinwendung zu minimalistischer Ästhetik des expeditiven Milieus führt zu einem Abschied von vollgestopften Regalen. Nun ist die Tatsache, dass die gutgefüllte und weit ausdifferenzierte Privatbibliothek als Symbol für die Bildung des Besitzers ausgedient zu haben scheint, an und für sich noch kein Grund das Ende des Abendlandes heraufzubeschwören.

Natürlich wird weiterhin gelesen, es wird bloß anders gelesen und vielleicht wird nicht mehr zwischen Buchdeckeln gelesen werden, aber diesen Wandel zum Ende der Kultur hochzujazzen ist nicht nur verfehlt, es ist auch ein wenig lächerlich. Medienwandel schmerzt, das ist keine Frage, er schmerzt jedoch vor Allem die Gruppen, die von der Existenz, Dominanz und Statuszuweisung eines langsam verschwindenden Mediums profitiert haben. Diese Trauer ob des empfundenen kulturellen Bedeutungsverlustes können historisch interessierte Menschen – also diejenigen die gerne in Büchern, Quellen und Texten wühlen – ohne weiteres nachweisen. In Phasen des Medienwandels sind dystopische Prognosen, ausführlich verbalisierte Ängste vor Auswirkungen neuer Medien und Schwarzmalerei der von Technik geprägten zukünftigen Gesellschaften schon immer ein beliebtes Genre gewesen. Eine gewisse Nostalgie angesichts des raschen Medienwandels ergreift scheinbar übrigens auch diejenige, die den digitalen Wandel mit offenen Armen empfangen, nicht zufällig gibt es Retrofilter in Instagram, zahllose Accounts die in den sozialen Netzwerken obskure, lustige oder skurrile Fotos der Vergangenheit teilen und einen Serienerfolg in historischem Milieu nach dem nächsten, mit Settings, die sich besonders durch hingebungsvolle Nachstellung vergangener Umstände auszeichnen.

Schon 1933 schrieb der US-amerikanische Soziologe und Technikdeterminist W.F. Ogburn:

„Will the machines of the future be our masters or our servants? They are strange creatures with which modern man has chosen to live, stranger than the ox and the dog which ancient man domesticated, and stranger even than the wild beasts which he did not domesticate. Machines have indeed created a new environment.“

In einem anderen Band von 1922 mit dem vielsagenden Titel Social change with respect to culture and original nature schreibt Ogburn über den Umgang von Gesellschaften mit neuer Technologie und entwickelt ein Vierphasenmodell, mit dem er die Verbreitung von neuen technischen Entwicklungen in Gesellschaften untersucht. Nach Erfindung, Akkumulation von Technologie, Austausch und Ausbreitung neuer Techniken und daraus resultierenden neuen Erfindungen, kommt es zu einer Phase der Anpassung, bei der die Gesellschaft auch in den nicht direkt von der Technologie betroffenen, das heißt die nicht-materiellen Bereiche auf die materiellen Innovation reagieren muss. Kommt es hier zu Verzögerungen entsteht etwas, das Ogburn als „cultural lag“ bezeichnet, Probleme und Konflikte entstehen aus dieser verzögerten Anpassung der Gesellschaft an die technischen Neuerungen.

In eben dieser Reibungszone befindet sich der Buch- und Medienmarkt, und das Konfliktpotential wird durch die Geschwindigkeit der Digitalisierung bestärkt, alte Medien und Wahrnehmungsdispositive werden mit neuen technischen Entwicklungen konfrontiert und ehemals für stabil gehaltene kulturelle Kernkompetenzen verlieren ihre Wirkmacht. Dabei ist es leicht zu vergessen, dass der Buchmarkt, ja selbst die Literaturformen, wie wir sie heute kennen ein relativ junges Phänomen sind, die selbst als Reaktion auf gravierende technische Neuerungen im 18. und 19. Jahrhundert entstanden sind. Noch im Barock krähte kein Hahn nach den Autoren literarischer Texte und die private Ansammlung von Büchern zum Studium und zur Ausstellung der eigenen Gelehrtheit ist ein Phänomen der Aufklärung. Den Massenzugang zur Literatur verdankte die breite Masse der Bevölkerung übrigens den Arbeiterliteraturvereinen, das emanzipative Potential von Büchern und die Versuche diese allgemeiner zugänglich zu machen war im 19. Jahrhundert entscheidender Teil des Klassenkampfes.

Durch den Medienwandel erfolgen Verschiebungen in der Käuferschicht und es ist daher letztlich eine kulturpolitische Frage, ob bestimmte verlegerische und editorische Aufgaben nicht in Zukunft einer staatlichen Unterstützung bedürfen. Wir brauchen weiterhin Ausgaben von Gesamtwerken, die in editorischer Feinarbeit geschliffen und poliert sind, jedoch ist die Frage, ob diese Aufgaben den Wirren eines spätkapitalistischen Medien- und Unterhaltungsmarktes unterworfen werden sollten oder ob der Schutz von Bibliodiversität nicht eine staatliche Aufgabe ist. Die kleinen und unabhängigen Verlage forderten daher bereits 2017 mit der Düsseldorfer Erklärung eine staatliche Unterstützung ihres Einsatzes für die Kulturlandschaft, eine Unterstützung die in anderen europäischen Ländern übrigens schon zum Standard gehört und auch als politisches Instrument genutzt werden könnte, um eine breitere Zugänglichkeit von Literatur für die Öffentlichkeit zu gewährleisten.

Hier lohnt es sich nochmal auf die Stroemfeld-Insolvenz zurückzukommen: Studierende konnten sich eine Subskription der Kafka-Ausgaben sowieso nie leisten, wer also hier den Käuferschwund beklagt, sollte sich vielleicht auch auf seine linken Ideale besinnen und über die zunehmend auseinanderklaffende Einkommensschere der deutschen Gesellschaft nachdenken und sich fragen, inwieweit diese ausgesprochen separaten Vermögensverhältnisse Einfluss auf den Zugang zur Bildung – wenn sie denn in Form von Schmuckausgaben und Editionen einhergehen soll – haben. Genau aus dieser Perspektive ist es doch befremdlich, dass gerade zentrale Figuren aus dem Umkreis des Stroemfeld-Verlags und der Verlag selbst in der Vergangenheit so eifrig gegen Open Access, also die digitale Zugänglichmachung von Literatur für eine Allgemeinheit verschiedenster Einkommensgruppen, vorgegangen sind und sich auch ansonsten den sich abzeichnenden Möglichkeiten und Folgen technischer Innovation versperrt haben.

In Norwegen wird beispielsweise zur Unterstützung der Verlagslandschaft eine Mindestabnahme von Büchern durch den Staat mit anschließender Verteilung an die Bibliotheken des Landes garantiert, dazu gehören auch feste Abnahmegarantien für eBook-Lizenzen und ehrgeizige Digitalisierungsprogramme der Nationalbibliothek. Wir brauchen jedoch keine Bibliotheken fördern, die keine Leser haben, in denen die Bücher nur in Regalen aufbewahrt werden. Zu einer vernünftigen Förderung der Literaturlandschaft gehört daher unbedingt auch eine weiträumige Lese- und Bibliotheksförderung und eine nachhaltige Finanzierung von Modernisierungs- und Digitalisierungsvorhaben der Bibliotheken. Die Rezeption von anspruchsvoller, oftmals nicht direkt zugänglicher oder zur Immersion anregender Literatur ist eine Form der Lesekompetenz, eine Fähigkeit, die man sich erwerben kann, analog beispielsweise zu den Sehkompetenzen für zeitgenössische Kunst oder den Hörkompetenzen für die Rezeption klassischer Musik. Hier wird in Zukunft die Rolle der öffentlichen Bibliotheken angesiedelt sein, als Informationszentren und Austauschstellen zwischen digitalem und analogem Raum, als Begegnungsort für alle Einkommensschichten, an dem Angebote zur Schulung von Lesekompetenz gemacht werden, kollektiv in Lesekreisen gelesen und über Literatur gesprochen wird.

Auf Medienwandel sollte der Buchbetrieb und die deutsche Kulturlandschaft nicht mit Angst reagieren, nicht wie Flaubert jaulend im Zugabteil sitzen, sondern offen auf Veränderungen zugehen, Stellschrauben da drehen wo es notwendig ist, Strukturen die erhaltenswert sind erhalten, aber nicht bloß aus einem reinen Selbstzweck oder zur Besänftigung von Statusängsten oder jaulenden Kulturpessimisten. Wir lesen, und wir werden weiterhin lesen. Was das für die Literatur bedeuten wird, wie die spezifischen Möglichkeiten und Kommunikationsformen literarischer Ästhetik sich verändern werden, das wird sich herausstellen, spannend wird es allemal! Dabei bedarf es durchaus einer ideologiekritischen Perspektive auf die neue Technik, die Antwort ist jedoch kein nostalgischer Traum von einer guten alten Zeit, sondern eine klare und scharfe Analyse der digitalen Verblendungszusammenhänge – um mal einen Begriff von Adorno auf den Tisch zu werfen – und leidenschaftliche Plädoyers für Literatur und Theorie, authentisch vorgetragen und zwar nicht nur in buchkitschiger Realitätsflucht zwischen Kaffeetassen am Bootssteg, sondern als Möglichkeit geistiger Schärfung und pluralistischer Meinungsbildung. Diese Position wird gegenwärtig von den etablierten Verlagen im und für den digitalen Raum in weiten Teilen leergelassen, hoffen wir darauf, dass sie gefüllt wird, bevor es dem Buchbetrieb so geht wie den Videotheken der 80er Jahre.

Precht, Picard und der Premiumtarif – »Jäger, Hirten, Kritiker«

»[E]in steriles Raumschiff ohne jedes Grün, fantasieverlassen wie ein Atombunker« – so beschreibt Richard David Precht auf Seite 9 von Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie für die digitale Gesellschaft (Goldmann, 5. Aufl. 2018) das Schiff von Jean-Luc Picard, den er eingangs zitiert hat. Eigentlich möchte man an dieser Stelle schon wieder aufhören zu lesen, denn die Enterprise D verfügt nicht nur über ein Arboretum, sondern ist auch so vollgestopft mit Zierpflanzen, dass sich Fans darüber bis heute beömmeln. »[F]antasieverlassen« ist ein Schiff, das beliebige virtuelle Realitäten generieren kann, dessen belesene Besatzung regelmäßig Theateraufführungen (von Klassikern und eigenen Stücken), Kammer- und Jazzkonzerte veranstaltet und auf dem Kinder hingebungsvoll kunstpädagogisch betreut werden, sicherlich auch nicht.

Precht schreibt nun nicht über Star Trek. Aber wie so oft frage ich mich, warum es sein muss, dass in deutschen Sachbüchern so viel unnötiger Unsinn steht. (Und warum so viele davon anderweitig veröffentlichte Texte einschließen – hier mindestens eine von Prechts Handelsblatt-Kolumnen –, dies aber nirgendwo ausweisen, sondern sich als originäre Monographien ausgeben.)

Das Thema des ausrufezeichensatten Traktats ist eine der drei großen Säue, die in der deutschen Medienlandschaft derzeit durchs Dorf getrieben werden (nicht gerechnet das »Flüchtlings«-Thema, das keine Sau ist, sondern ein rosa gestrichener Schützenpanzer): »Digitalisierung«. Für Precht herrscht, ungeachtet der Tatsache, dass die Anzahl der in Industriegesellschaften Erwerbstätigen auf der Welt gewaltig steigt (in Deutschland übrigens seit 2006 ohne nennenswerte Unterbrechung), Sicherheit, dass bereits in wenigen Jahren die Prognosen der Consulting-Kassandren voll greifen und Millionen Überflüssiggemachte unter keinen Umständen mehr in den regulären Arbeitsmarkt zurückkönnen. Bei der Vorstellung dieses Szenarios schimmert eine gewisse Misanthropie durch, etwa, wenn Precht unterstellt, »völlig unterentwickelte Länder wie der Kongo, die Zentralafrikanische Republik, der Südsudan, Somalia oder Afghanistan« würden sich nie zu Konsumenten von Hochtechnologie entwickeln können, und aus dieser fragwürdigen Prämisse noch fragwürdiger schließt, der Weltmarkt sei insgesamt gesättigt und daher »der Kuchen heute verteilt« (30). Aber irgendwie muss ja erklärt werden, dass die neue industrielle Revolution, anders als alle vorhergehenden, permanente und nicht bloß vorübergehende Massenarbeitslosigkeit auslösen soll.

Es drohen jedoch nicht nur Heere von Langzeitarbeitslosen. So werden etwa altfränkische Handelsbräuche entwertet: Neukunden bei Versicherungen, Telekommunikationsfirmen usw. bekommen günstigere Tarife als Altkunden (»Aus Treue zum Kunden ist Verrat geworden«, 74). Angesichts der mehrfachen Erwähnung des Phänomens (53, 74, 210 u.a.) scheint Precht an der gegenwärtigen Gesellschaft und erst recht der Digital-Dystopie, vor der er warnt, kaum etwas mehr zu stören. Einkaufszentren und Ketten lassen zudem kleinere Städte veröden (175f.; hier fällt auf, dass Precht der kopfkratzwürdigen Meinung zu sein scheint, die BWLer-Hochburg Mannheim sei keine prosperierende Stadt). Schlussendlich ist, wiegen und tanzen und singen die Konzerne den Nachwuchs erst ein, die Lahmlegung von allem zu erwarten, was an Jugend gut und richtig ist: Die Herabsetzung ganzer Generationen als »egoistisch, ungeduldig und faul« (76) ist für einen deutschen Sachbuchbestseller unverzichtbar und darf auch hier daher nicht fehlen. Wo ein Manfred Spitzer oder Michael Winterhoff noch auf aktuelle Kinder und Eltern schimpfen muss, ist Precht allerdings einen Schritt weiter: Er schilt noch ungeborene Twentysomethings schon heute für ihre weltlose, unmündige und motorisch inkompetente Existenz im Jahre 2040. Durchgängig stellt Precht dabei klar, dass die USA, genauer: das Silicon Valley, der Ursprung allen Übels sind und ggf. auch die schlimmsten Auswirkungen zu befürchten haben – »Milizenbildung mit Pogromen« prophezeit er im vierten Jahr von Pegida »in den USA, aber vielleicht nicht nur dort« (249).

Nun möchte das Buch qua Untertitel »eine Utopie für die digitale Gesellschaft« sein, mithin anraten, was wir tun können, damit es nicht so kommt. Dazu macht es folgende Vorschläge: 1. Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens in Höhe von ca. 1500 Euro monatlich, finanziert aus Finanztransaktionssteuern; 2. Reform des gesamten Bildungssystems, mit dem Ziel, intrinsisch motivierte Menschen hervorzubringen, denen tätige Autonomie wichtiger ist als Effizienz und Problemlösungsdenken; 3. staatliche Durchsetzung der informationellen Selbstbestimmung: harter Datenschutz, Automatisierung und Überwachung der Lebenswelt nur mit Zustimmung der Bürger, starke Staatsbeteiligung beim Betrieb der IT-Infrastruktur. (Ein Kurzabriss des Programms, minus die Bildungsreformen, steht dankenswerterweise auf S. 259f.). Ganz möchte Precht der technischen Modernisierung ihren Nutzen dabei nicht absprechen: Auf dem Feld der Mobilität (188–193) und der Medizin (193–199) begrüßt er die bevorstehenden Umbrüche und zeichnet ein freundliches Bild der durch sie eröffneten Möglichkeiten.

Entgegen dem marxschen Titel des Werks werden kaum je Besitzverhältnisse thematisiert. Die Klage, dass internationale IT-Konzerne ihre Gewinne aus Europa abziehen, ist schon das Höchste der Gefühle. Die Zukunft soll ganz explizit staatskapitalistisch und sozialdemokratisch sein: »Wir werden wieder mehr Sozialismus in den Kapitalismus implementieren müssen, um die aufsteigende Linie von Bismarck über die Freiburger Schule fortzusetzen« (253). Der bildungsreformerische Teil des Programms ist für Precht anscheinend deswegen nötig, weil dem grundeinkommenfinanzierten Teil der Gesellschaft nicht ohne Weiteres zuzutrauen sein wird, dass er seinen Tag mit Sinnvollem verbringt und nicht bloß ins Handy stiert (das entsprechende Kapital heißt auch ganz instagrammerisch: »Gute Ideen für den Tag. Neugier, Motivation, Sinn und Glück«, 150). Letztlich ist die prechtsche Utopie nach wie vor eine Gesellschaft, in der ganz wie in unserer die abhängigen Einzelnen dazu angehalten sind, diszipliniert, bildungsbeflissen, »kreativ« und »individuell« zu sein; ihnen droht andernfalls allerdings nicht mehr die materielle Armut, sondern nur das Versacken in einem von Prechts Milieu als minderwertig abgestempelten Lebensstil, also das, was bereits heute Menschen, die von Staatsleistungen leben, flächendeckend vorgeworfen wird. Dazu passt Prechts nicht im Buch zu findende, aber anderweitig hinreichend bekundete Intention, Grundeinkommensbeziehende von der Fortpflanzung abzuhalten, die geradewegs aus der mainstreamigen Transferempfänger-Verachtung der Nullerjahre entsprungen scheint.

*

Prechts Traktat ist weitgehend ein Zusammenschrieb von seit mindestens 40 Jahren zustimmungsfähigen Allerweltsthesen (dass z.B. nicht der zufriedene, sondern der »immer wieder neu unzufriedene« Konsument das Ziel der Ökonomie sei, 211, ist spätestens seit Vance Packard 1957 popkultureller Gemeinplatz). Zwischendurch sollen hübsche Kalendersprüche die Wirkung verstärken, wenn eines der vielen Ausrufezeichen nicht mehr ausreicht, gerne kursiviert: »Wer das Glück messen will, hat es nicht verstanden!« (152); »Alle reden von Lösungen – Philosophen nicht!« (181; beide Hervorh. im Orig.). (Übrigens reden Philosophen dauernd von Lösungen. Auch Precht tut das.) Precht bedient es sich zwar eines großen Inventars an philosophischen Floskeln und Namen, entwickelt aber nirgendwo so etwas wie begriffliche Strenge, argumentative Stringenz oder auch nur einfachste kritische Tugenden wie das Hinterfragen populärer Überzeugungen. Wenn er etwa schreibt, dass die »Weltbevölkerung immer rasanter zun[ehme]« (80), ist dies schlicht völliger und unentschuldbarer Unsinn – seit 1963 hat sich das Weltbevölkerungswachstum ungefähr halbiert und ist auf einem weiterhin nachhaltig fallenden Trend.

Eine wirkliche »Utopie« im Sinne eines ausformulierten Szenarios, in dem klar wird, wie die Elemente eines hypothetischen Gemeinwesens ineinandergreifen, ist sein Buch entgegen dem Untertitel auch nicht. Prechts Ziel ist, soweit man es erkennen kann, ein ruhigeres, grüneres, autoärmeres Europa, bevölkert von gesunden, achtsamen, feinsinnigen Menschen, die glücklich von Staatsknete leben, weil sie in der Schule gelernt haben, dass gemeinsam kochen viel schöner ist, als zu viel Zeit vor dem Bildschirm zu verbringen oder sich von technischen Dispositiven zur Selbstoptimierung peitschen zu lassen. Aber wie verbinden sich die beschriebenen Elemente dazu? Was außer frischem Gemüse und einem guten Gewissen springt für Normalbürger dabei heraus? Was ist das positive Versprechen? Welche Lebensinhalte möchte Precht in den Räumen sehen, die durch Reformpädagogik und bedingungsloses Grundeinkommen offen gehalten werden sollen?

Letztlich scheint er etwas Gefühliges, was mit irgendwie echtem Leben, Handwerk, Kultur, Treue zum Kunden und möglichst wenig Geldverdienen (»Abschied vom Monetozän«, 241) zu tun haben soll, retten zu wollen. Und zwar nicht nur vor der Digitalisierung und dem Kapitalismus in sich, sondern auch deren Auswirkungen, wie z.B. der angeblichen weltweiten Nivellierung der Männermode herunter zur »Einheitszivilisation in Hoodys und Sneakers« (87 u. passim) und überhaupt der Verwandlung von Männern in »beinglatte Wollmützenjungs« (85). Precht beklagt einen geschehenen und noch kommenden Verlust von »Heimat«, »Authentizität«, »Geborgenheit« und »Instinkt für die Realität« (78f.), ohne irgendwie auf den Punkt zu bringen, was damit gemeint sein soll – was gerade mit Rückgriff auf Philosophen wie Martin Heidegger, Hubert Dreyfus und Sean Kelly machbar, dann aber auch angreifbar wäre. (Einiges spricht aber dafür, dass Precht Letztere rezipiert hat, wenn er sie auch nicht nennt: »Wer seinem Navigationssystem auf dem Smartphone folgt, muss nicht mehr nach dem Weg fragen«, 208, ist ein Leitbeispiel in Dreyfus/Kellys All Things Shining.)

Precht weiß auch nicht konkret zu sagen, was das Gegenbild, die zu rettende »Kultur« eigentlich sein soll, bzw.: Er hält sich mit Festlegungen dazu zurück, weil er womöglich weiß, dass es keine seriösen empirischen Belege dafür gibt, dass in den westlichen Industriegesellschaften tatsächlich irgendein relevantes »Verschwinden von Kultur« stattfände, eher im Gegenteil. Unfreiwillig komisch wird es, wenn er eigene Lebensstilpräferenzen schildert (Sammeln antiquarischer Bücher, Schuhe kaufen in Rom, Wochenmärkte in der Provence, 174–176), die nicht nur klischiert sind, sondern auch noch völlig gestanzt beschrieben werden (»ich liebe […] den Geruch, das Aussehen und die Haptik alter Bücher«, 173). Wenn man all das liest, kann man Angst bekommen, dass die von Precht befürwortete basisdemokratische Hoheit der Wohnbevölkerung darüber, welche IT-Infrastruktur es in welchen Stadtteilen gibt, nur dazu führen würde, dass die ungleichheitsfördernde Bullerbüisierung der Lieblingsorte geschmackssicherer und kinderreicher Akademiker noch schneller voranschreitet.

Die vorgetragene Kulturkritik sinkt stellenweise auf das Niveau konservativer Lokalzeitungskolumnen ab; ich musste zuerst an den Meinungskasten in der Sonntag Aktuell vor vielen Jahren denken, aber ich befürchte, mit einem Vergleich täte man Ernst Elitz Unrecht. Man beachte im folgenden Precht-Zitat abermals den klüglich ergatterten Premiumtarif als Paradigma des Verfalls:

[D]ie Konditionierung, vor allem an sich selbst zu denken und andere dabei auszumüllern, ist längst im Gange und älter als die Digitalisierung. Wer tagtäglich indoktriniert wird, sich Vorteile gegenüber anderen zu verschaffen, genießt eine staatsbürgerliche Erziehung von zweifelhaftem Zuschnitt. Ein Milliardenaufwand an Werbegeldern bombardiert die wackeligen Behausungen unserer Werte: die Moral der Kindheit, ein kleiner, meist winziger Rest Religion und ein bisschen Demokratieverständnis aus der Schulzeit. Ein ungleicher Kampf. Niemand fragt heute mehr, ob sein Premiumtarif gegenüber anderen fair ist. (210)

Strategisch befleißigt Precht sich einer Rhetorik, die man eher aus dem rechten Spektrum kennt: Indem er behauptet, sich gegen einen Mainstream zu stellen (der die »Digitalisierung« bagatellisiere und in Untätigkeit verharre), verkauft er seinen Lesern Gemeinplätze, auf die sich das FAZ-affine Abnickermilieu, das in Deutschland jeden Kulturpessimismus begierig schluckt, ohnehin seit Jahrzehnten geeinigt hat. Leider zeigt Precht zumindest punktuell auch inhaltliche Nähe. Wessen Ideen er etwa mit seiner pauschalen Abwertung bestimmter Länder als unentwickelbare Höllenlöcher oder seiner Klage darüber, wie kulturlose »Einheitszivilisation« und Entmännlichung von Amerika aus um den Globus gebreitet würden, reproduziert, weiß er vermutlich selber nicht.

Ich hoffe es zumindest. Denn wenn eine derartig präsente und hofierte Intellektuellenfigur wie Precht, die über eine kaum schätzbare mediale Feuerkraft gebietet, knallrechte Topoi nicht bloß versehentlich, sondern sehenden Auges duplizierte – dann könnte man wirklich ganz Deutschland sagen wie Patrick Bahners der SPD: »Macht den Laden dicht, ihr Deppen.«

Anhang: Das Beste aus 270 Seiten Precht

  • »Ströme von Geflüchteten fließen wie ein Delta ins Mittelmeer« (9)
  • »Die Biodiversität menschlicher Kultur wird immer kleiner.« (35)
  • »Content. (Menschen ohne echte Bildung und Herzensbildung erkennt man an der Verwendung dieses Wortes.)« (158)
  • »Geld halbiert sich, wenn man es teilt – Zeit nicht!« (165, Hervorh. im Orig.)
  • »Wie schön, wenn das Deutschland der Zukunft einmal tatsächlich das Land der Dichter und Denker sein würde und nicht das der Gammler und Gamer!« (180)
  • »das Qualitätssiegel deutscher Produkte ist höher als das der US-amerikanischen« (187f.)
  • »Wer in Beirut über eine rote Ampel geht, wird von der Polizei dafür nicht belangt. In Bayreuth dagegen ist das Risiko höher.« (205)
  • »Für dieses Buch war es mir wichtig, den Weg der Utopie mit einem Traktor zu befahren – und nicht mit einem Luftschiff.« (266)
  • »Pessimismus ist keine Lösung!« (269, Hervorh. im Orig.)

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In „Orten, die mit „ow“ oder „itz“ enden“- Eine Einordnung von “Mit der Faust in die Welt schlagen” von Lukas Rietzschel

In seinem Essay Soviel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel schrieb Maxim Biller 1991 von dem “stoffspendenden Glück”, das er gehabt habe, und meinte damit den Umstand, dass seine jüdische Familie mit ihm als Kind aus der damaligen Tschechoslowakei nach Westdeutschland geflohen war. Er deutet diese – durchaus schwierige – Situation positiv um, da er dadurch Stoff zum Erzählen habe. Folgt man diesem Gedanken, dann hatte auch Lukas Rietzschel dieses “stoffspendende Glück”. Rietzschel, dessen Debütroman Mit der Faust in die Welt schlagen gerade bei Ullstein erschienen ist, wuchs im äußersten Osten Sachsens nahe der polnischen Grenze auf – ein Landstrich, der nicht erst seit den rechtsradikalen Ausschreitungen im August und September in Chemnitz immer wieder unter dem Begriff Dunkeldeutschland firmiert. Es ist – glaubt man zahlreichen Reportagen – die Gegend, in der die Menschen frustriert sind. Frustriert von den “blühenden Landschaften”, die eher kahle Felder waren, frustriert von den Versprechungen der Einheit, die nur auf dem Papier kam, frustriert von all dem, was 1990 versprochen, aber nie eingelöst wurde und vielleicht auch frustriert davon, dass die alte Heimat nicht mehr da ist.

Lukas Rietzschel erzählt uns die Geschichte der Brüder Philipp und Tobi, die als Söhne eines Elektrikers und einer Krankenschwester, in Neschwitz auch im äußersten Osten Sachsens nahe der polnischen Grenze aufwachsen. Der Roman berichtet in drei Teilen von den Jahren 2000 bis 2015, er erzählt vom Hausbau der Familie, von der Hoffnung auf ein glückliches Familienleben, von der Jugend in der Kleinstadt, von Frustration, von Angst, von Männlichkeit und zieht dabei immer wieder lange Linien in die Gegenwart. Dabei erschafft Rietzschel einen Raum der Desillusion um die Kleinstadt Neschwitz – die weiten Felder, das Schamottewerk, die Seen in alten Steinbrüchen, die Grundschule, auf die Tobi und Philipp gehen und viele weitere Orte lassen eine Kindheit und Jugend in der Provinz vor dem inneren Auge der Leser*innen entstehen.

Bis zu einem gewissen Punkt ist man irritiert, ob der Gewöhnlichkeit dieser Jahre. Nüchtern betrachtet durchleben die beiden den typischen Kleinstadthorror zwischen Dorffesten, den Feldern im Sommer – in der deutschen Literatur spielen in der Jugendzeit Felder in der Sommerhitze immer eine große Rolle – und dem Frust der Teenagerjahre. Das alles, auch das Mobbing in der Schule, die Tristesse der Kleinstadt, all das erscheint nicht typisch für ein Aufwachsen in den sogenannten neuen Bundesländern. Das findet man alles auch in den Kleinstädten und Dörfern woanders über die Bundesrepublik verteilt – Hauptsache eben Provinzkaff. Auch in der Eifel brennen nachts die betrunkenen Jugendlichen Löcher in das Plastik der Fahrpläne an den Bushaltestellen, wie Philipp und seine Kumpels das tun und auch in anderen Dörfern in der ost- wie westdeutschen Provinz wird an Stammtischen abfällig über „die Ausländer“ geredet.

Natürlich ist in Neschwitz nochmal alles ein bisschen trostloser und heruntergekommener und der Suizid des Arbeitskollegen des Vaters steht symbolisch für den ostdeutschen Mann, dessen Ausbildung nach der Wende nichts mehr wert war und dessen Frau in die westlichen Bundesländer ging. Und Rietzschel zeichnet das alles in kurzen Hauptsätzen, die kaum mal einen Nebensatz zulassen, denen manchmal gar ein Prädikat fehlt, weil sie nur Stimmungen erzeugen: “Tobi, der nichts sagte, aber jedes Wort verfolgte.” (77) Dieser parataktische Stil führt dazu, dass das alles noch viel trostloser wirkt und dazu, dass Rietzschel das Prinzip des show don’t tell soweit ausreizt, dass man der ganzen Symbolik irgendwann überdrüssig wird.

“Vater schnitt mit dem Messer die Spaghetti klein.” (83)

Die Leser*innen verstehen: Er ist provinziell.

“Er wollte nicht sehen, wie Männer tanzten, vor allem nicht mit nacktem Oberkörper.” (103) Philipp und Tobi haben Angst vor körperlicher Nähe durch andere Männer aus Angst homosexuell zu sein, sie leben in einer harten, männlichen Welt, die jede Form der Nähe zwischen Männern als Schwäche und Zeichen für Homosexualität deutet.

Tobi und seine Freunde bauen im Hort eine Stadt aus Holzklötzen und bombadieren diese dann mit Bällen – schon in diesem Alter zeigen sie Aggressionen.

Teilweise werden diese Beschreibungen, die einfach als Bild für etwas stehen, auch absurd, wie wenn es heißt: “Niemand hatte auf dem Display die Sommerzeit eingestellt.” (163) Was soll das heißen? Dass niemand sich darum kümmert und dass es deswegen mit der Familie bergab geht?

Solche Bilder und viele mehr stehen immer wieder im Raum und man bekommt den Eindruck, der Autor möchte uns etwas sagen, er möchte ein hartes und toxisch-männliches Umfeld in einer provinziellen Welt zeichnen, das letztlich in rechtsradikales Denken und Handeln führt. Das klappt auch, allein es könnte eben auch die Eifel oder die Oberpfalz sein. Es ist kurz gesagt, die Geschichte zweier Brüder, die in einem Provinzkaff aufwachsen. Es mag Spezifika geben, die typisch für eine Jugend in der Provinz in den neuen Bundesländern sind: der Konflikt mit den Sorben, die alten Fabriken und Steinbrüche, die leer stehen und die Frustration über die ausbleibenden Wunder der Wiedervereinigung.

Mit der Faust in die Welt schlagen ist solange gut, bis der Roman versucht als Erklärung für die aktuellen Entwicklungen in Chemnitz und Köthen und überhaupt für den gewalttätigen Rechtsradikalismus herzuhalten. Irgendwann tauchen immer mehr Hinweise auf Ereignisse der letzten Jahre auf: Da wird auf einmal mehr oder weniger stolz von sich selbst als Pack geredet, der Wahlabend der Bundestagswahl 2013 wird detailreich beschrieben, die Ankunft der Geflüchteten in großer Zahl im Sommer 2015 und weiteres – irgendwann wird der Roman auf einmal nicht mehr universell sondern spezifisch, scheint erklären zu wollen, warum junge Männer aus Sachsen Heime für Geflüchtete anzünden.

Man kann sagen, dass Rietzschel einen guten, aber keinen überragenden Debütroman über das trostlose Aufwachsen zweier Brüder in der ostdeutschen Provinz geschrieben hat – das würde reichen und wäre richtig.

Aber weiten wir unseren Blick und schauen auf das, was hier versucht wird – Ein Exkurs ins Feuilleton

Wenn man dem deutschen Feuilleton der letzten Jahre Glauben schenken darf, dann mangelt es Deutschland an Stoffen für narrative Kunst. Unter narrativer Kunst soll hier alles fallen, was in wie auch immer gearteter Form erzählt. Unter anderem die seit Jahren sehnsüchtig herbeigeschriebene große deutsche Serie. Die Serie aus deutscher Produktion, die nun endlich an die großen Erfolge aus den USA und Skandinavien und teilweise auch schon aus Frankreich und Italien anschließen soll, die Serie, die endlich beweist, dass wir mehr können als “Matthias Schweighöfer und die Hacker mit Hoodies”. Die Produktion, die endlich zeigt, dass auch wir hier in der neuen narrativen Form, die ja bekanntlich den Roman abgelöst hat, reüssieren können: das serielle Erzählen mit einem episodenübergreifenden Handlungsstrang. Alles, was dazu fehlte, waren scheinbar die Stoffe – wovon erzählen?

Neidisch blickt man in die USA, wo es anscheinend nur so strotzt vor Stoffen und wie gern geht man in den amerikanischen Serien und der Literatur ins Hinterland, dorthin, wo Drogen und Alkohol, Trailerparks und Arbeitslosigkeit den Alltag bestimmen, dort, wo die jungen Menschen nicht aus den Kleinstädten herauskommen, dort, wo die Frustration besonders groß ist und dort, wo die Trump-Wähler*innen leben. In Orte wie Knockemstiff in Ohio, das Donald Ray Pollock in seinem gleichnamigen Kurzgeschichtenband (2008) beschreibt. Da gibt es Kurzgeschichten, über die es in einer Rezension des SPIEGEL hieß: „Am Ende finden sich die Jungen auf einem Schrottplatz von Knockemstiff wieder, um ein totgefahrenes Huhn über einem brennenden Autoreifen zu grillen. Aus Knockemstiff kommt eben keiner raus.” Man ersetze Knockemstiff durch Neschwitz und dieser Satz könnte sinngemäß auch in einer Rezension zu Mit der Faust in die Welt schlagen stehen. In der SPIEGEL-Rezension stand damals: “Die ungefähre Übersetzung: Schlag ihn tot! Ein Stadtname als Programm.” Ein Titel wie ein Schlag in die Magengrube…oder in die Welt?

Unser Hinterland?

Auch nach 28 Jahren Wiedervereinigung ist Ostdeutschland vom Westen ausgesehen immer noch das unbekannte Land – wir kennen Dresden und Leipzig und waren vielleicht mal in Weimar und Jena, damit hört es meist auf. In unseren Köpfen existiert er, der Wilde Osten.
Es gibt anscheinend zwei Möglichkeiten diese Gegend zu narrativieren und beide haben mit US-amerikanischen Narrativen zu tun. Der romantisierte Wilde Westen, dessen weite Straßen auch lange nach der Zeit des Aufbruchs nach Westen als Symbol für die Weite und Freiheit Amerikas herhalten können: Das weite Land zwischen den Küsten, die Highways nach Westen, die romantische Idee der Landstraße. Das fehlte uns in Deutschland – die A5 ist kein Highway. Doch jetzt darf die B96 ran. Die Bundesstraße, die einmal von Süden nach Norden durch die neuen Bundesländer führt, ist aufeinmal die deutsche Route 66, der Highway durch den Wilden Osten. Die Band Silbermond hat ihr gar einen Song mit dem Titel B96 gewidmet, in dem es heißt:

Und die Welt steht still, hier im Hinterwald,
und das Herz schlägt ruhig und alt.
Und die Hoffnung hängt am Gartenzaun,
und kaum ein Mensch kommt je vorbei.
Im Hinterwald,
wo mein Zuhause ist.
Schön wieder hier zu sein.

Der Songtext schwankt zwischen Verklärung und Realität, es ist etwas trostlos dort, in den Städten an der B96, die an “rostigen Hoftoren” vorbeiführt, aber irgendwie ist es eben doch noch die Heimat im Wilden Osten, wo die Zeit stillsteht, wo die Kindheit noch wie der Nebel über den verregneten Feldern hängt – wenn man dem Video glaubt. Eben die deutsche Version des Wilden Westens.
Während der Hinterwald bei Silbermond zwar ein bisschen ambivalent, aber eben immer noch romantisch ist, wie der amerikanische Highway nach Westen, ist das zweite US-amerikanische Narrativ, das im Osten Deutschlands zum Tragen kommt, wesentlich düsterer und damit reizvoller.

Das Hinterland

Die USA haben trostloses Hinterland, das immer wieder gewalttätige Geschichten produziert, die von archaischer Männlichkeit geprägt sind, und man könnte meinen, wir haben das jetzt endlich auch. Irgendwann in Rietzschels Roman über Männer im Hinterland taucht auch das obligatorische Crystal Meth auf, das einen Kindheitsfreund von Tobi zerstört – Crystal Meth, spätestens seit Breaking Bad die popkulturelle Chiffre für das letzte Ende des Abstiegs, diejenigen, die ganz unten sind, nehmen Crystal Meth. Und seit diese Droge in Ostdeutschland (auch in Bayern an der tschechischen Grenze) aufgetaucht ist, ist diese Gegend noch ein bisschen mehr unser Hinterland.

In dem Song Crystal Meth in Brandenburg (2013) rappt Grim104:

Abseits der Städte
In Dörfern, die mit “ow” oder “itz” enden
Hier lernst Du Kids kennen, die nix kennen
Für die sich Prinz Pi nicht interessiert mit seiner Band

Songzeilen wie die Blaupause für Rietzschels Roman und weiter:

Auf dass der Netto wieder aufmacht?
In der Kneipe jemand auflacht?
Das Geld da ist zum bausparen?
Das kannst Du aber sehr schnell vergessen

Was Rietzschel auf 320 Seiten ausbreitet, verpackt Grim104 in ein paar Strophen eines Songs und schafft damit ein Bild der Zustände, das vermutlich prägnanter ist, und karikiert zudem im Refrain, in dem es heißt: “Rainald Grebe, K.I.Z., alle hatten recht/Angst vor dem Hinterland/Brandenburg, Breaking Bad” auch noch das Narrativ des äußersten deutschen Ostens als das herbeigesehnte deutsche Äquivalent zum amerikanischen Hinterland – auch wir können white trash.

Und solche Geschichten sind vor allem dann gut, wenn sie authentisch sind und damit sind wir wieder beim Anfang – beim „stoffspendenden Glück.“ Rietzschel hat keinen autobiographischen Roman geschrieben, aber Rietzschel kommt von dort – aus den „Dörfern, die mit „ow“ oder „itz“ enden“ und wird derzeit auch so inszeniert: der Erklärer des Ostens. Er ist derjenige, der dem deutschen Westen jetzt mit seinem Roman erklären soll, warum das mit der Demokratie in den neuen Bundesländern so nicht klappt. Glaubt man dem Roman von Rietzschel ist die toxische Männlichkeit schuld am Rechtsradikalismus, an den Hitlergrüßen auf Demos und an den Gewalttaten durch Neonazis. Denn letztlich läuft darauf alles hinaus: Männer, die keine Rolle mehr haben. Die wenigen weiblichen Figuren, die in Rietzschels Roman auftauchen sind nur die Kulisse, vor der die Männer zerbrechen: Mütter, die nie da sind, Schulkameradinnen, die sich nicht für einen interessieren, Ehefrauen, die abhauen, Frauen, die den Frauen, die immer arbeiten, die Ehemänner wegnehmen und schließlich Freundinnen, die auch nicht in der Lage sind, die jungen und verzweifelten Männer zu retten. Und die Männer sind brutal, haben Angst vor körperlicher Nähe, haben Angst homosexuell zu sein und haben keine Aufgabe mehr, weil echte Männer, die in die Fabrik gehen und arbeiten, die ihre Heimat schützen, ihre Familie ernähren und die Traditionen hochhalten, nicht mehr gefragt sind. Deswegen werden die Männer, die noch da sind, desillusioniert und noch frustrierter und überkompensieren ihre Männlichkeit und deswegen werden sie nationalistisch und schließlich rechtsradikal. Das mag so passieren, aber die Kausalkette stimmt nicht.

Der Roman ist trotzdem nicht schlecht (auch wenn man ihm stellenweise eine*n bessere*n Lektor*in gewünscht hätte) und wird vermutlich auch so enthusiastisch aufgenommen, weil er eben endlich auch literarisch ein Narrativ bedient: Trostlosigkeit im deutschen Hinterland, da wo die Orte mit „ow“ oder „itz“ enden – wie Neschwitz.

(Matthias Warkus verbindet in seinem Bericht über eine Blogger*innenreise mit Lukas Rietzschel eine Rezension des Romans mit einer Darstellung der Autorinszenierung)

Gespräch mit Heinrich von Berenberg, Gründer und Verleger des Berenberg Verlages

Gespräch mit Heinrich von Berenberg, Gründer und Verleger des Berenberg Verlages

Angelehnt an den Ausspruch des Historikers Robert Darnton: »In jedem dicken Buch steckt ein dünnes, das schreit: Ich will raus!« erscheinen seit nunmehr 14 Jahren im Berliner Berenberg Verlag Bücher, die selten 200 Seiten überschreiten. “Rhetorisch funkelnde und dezidiert subjektiv gehal­te­ne biografische und autobiografische Literatur und Essays, Bücher zur Zeitgeschichte, seit 2010 hier und da auch hervor­ra­gende Belletristik, zwei Jahre später erschienen die ersten Bände einer kleinen Lyrikreihe”, so der Verlag keineswegs übertrieben über das eigene Programm.

Nach der kürzlichen Lektüre des wunderbaren “Der Geist von Turin” von Maike Albath sprach ich mit dem Verleger Heinrich von Berenberg über die Verlagsarbeit.

In einem Porträt, das im Magazin Cicero im Jahr 2010 über Sie und Ihren Verlag erschien, stand es bereits im Teaser: Zur Zeit der Gründung Ihres Verlages im Jahr 2004 hätte die Buchbranche in der Krise gesteckt, die Gründung eines Verlages sei ein Himmelfahrtskommando, hört man da raus. Wenn ich heute einen Verlag gründete, wäre sicher ebenso zu lesen, die Branche sei gerade in der Krise. Wie lang hält die Krise noch an und wann ist sie überwunden?

Ein Himmelfahrtskommando war die Verlagsgründung bestimmt nicht. Es sind ja zu jener Zeit eine ganze Menge Verlage gegründet worden, einige haben überlebt, andere weniger, einige haben es geschafft, bei größeren Unternehmen als Imprint unterzukommen. Ich bin eigentlich an Krisen nicht so sehr interessiert, denn es hat sie gegeben, solange ich in der Buchbranche tätig bin, also seit Beginn der achtziger Jahre. Da war es die Angst vor dem Fernsehen, heute ist es die, begründete, Angst vor der unübersehbaren Aufspaltung des Aufmerksamkeitsspektrums der möglichen Leser. Die meisten müssen ja ins Iphone schauen oder auf andere Bildschirme. Unsere Leserschaft ist also etwas älter – 40 plus – und interessiert sowohl an den Inhalten als auch an den schönen Büchern, die zum Glück Sammlerinstinkte wecken. Wie es weiter geht, weiß niemand, ich auch nicht. Aber so lange ich lebe – nicht mehr allzu lange – wird es Bücher und einen Buchmarkt immer geben. Ich war soeben ein paar Wochen in Bolivien. Selbst dort, ohne Post, isoliert auf dem zweiten Dach der Welt, gibt es eine überaus lebendige Buchkultur mit beachtlichen Verlagen (ich habe immer noch nicht heraus, wie die das schaffen), so wie es sich für ein Land auf dem literaturbesessensten Kontinent gehört. Dagegen erleben wir hier immer noch eine Krise auf sehr hohem Niveau.

Sie waren über zwanzig Jahre Lektor und Übersetzer bei Wagenbach. Muss man sich die Initialzündung für die Gründung des eigenen Verlages dann so vorstellen, dass einfach die Liste der Bücher, die Sie nicht veröffentlichen durften, zu lang wurde?

Ja, die Tatsache, dass man jahrelang immer wieder Autoren entdeckt und sie weitergeben muss, hat sicher dazu beigetragen, dass der Wunsch, selbst Verleger zu werden, realisiert werden konnte.

Ihr Programm lebt von dem Schwerpunkt autobiografische und biografische Literatur, Essay-Literatur, Memoiren-Literatur. Es findet sich zum Beispiel aber auch ein Roman von Juan Pablo Villalobos dort. Katie von Christine Wunnicke stand letztes Jahr sogar auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Was bringen solche Autoren mit, dass Sie der eigentlichen Programmlinie untreu werden?

Ich habe von Anfang an mir das Vergnügen gemacht, zu jedem Programm stichwortartige Zitate aus den Büchern zu nehmen. Beim ersten Programm hatte ich noch keine eigenen und habe unter anderem Ian Fleming zitiert: „Sag niemals nie“, schon damals mit der Absicht, die Programmlinien bei Bedarf auch mal zu ändern. Wenn Autoren wie Christine Wunnicke oder Maria Sonia Cristoff anfangen Romane zu schreiben, soll ich sie deshalb nach Hause schicken? Nein, und ich muss sagen, dass die Romane dem Programm gut getan haben, zumal sie immer noch so etwas wie die Ausnahme sind.

Sehen Sie bereits Erben Ihrer Idee vom Verlegen? Ich denke z.B. an Sebastian Guggolz, der ebenfalls bei seinem Arbeitgeber aussteigt, um selbst zu gründen und als Kleinverlag genau eine Nische zu bedienen.

Ich sehe eine Menge Kollegen, die ähnliches machen wie ich, aber ich habe noch nie Konkurrenzgefühle gehabt. Was Sebastian Guggolz macht, was Ingo Drzecnik macht, aber auch Christian Kill, Dietrich zu Klampen, Peter Hinke und wie sie alle heißen, nicht zu vergessen die tollen Frauen von Binoki, das ist alles aller Ehren wert, und wir kommen uns niht ins Gehege. Für’s vererben bin ich denn doch noch nicht alt genug.

Es ist kein Geheimnis, dass Sie Abkömmling einer der bekanntesten Bankiersfamilien des Landes sind. Ihre Verlagsgründung ist nun aber wahrlich nicht unpersönliches Mäzenatentum. Sie selbst sind zusammen mit Ihrer Frau der Kopf des Verlages. Ärgern Sie sich dann manchmal doch, nicht einfach einen Scheck für einen anderen geschrieben zu haben?

Oha, für wen hätte ich denn diesen Scheck schreiben sollen? Es ist uns doch gut gegangen und geht uns weiterhin gut. Das Geld im Hintergrund ist ein unverdientes Privileg, und ich fühle mich nach wie vor verantwortlich, damit etwas Sinnvolles anzufangen. Geholfen hat es immer, um die Angst vorm Scheitern ganz weit in den Hintergrund zu drängen, etwas, das glaube ich nötig ist, damit man in Ruhe und mit allem nötigen Ernst ein gutes Programm machen kann.

Lieber Heinrich von Berenberg, vielen Dank für das Gespräch.

heinrich von berenberg cordula Giese
© Cordula Giese

Heinrich von Berenberg wurde 1950 in Hamburg geboren und studierte dort Germanistik und Anglistik. Er war Lektor im Attica-Verlag, im Syndikat Verlag und insgesamt sechzehn Jahre im Verlag Klaus Wagenbach. Von Berenberg war Mitherausgeber der Vierteljahreszeitschrift Freibeuter. 2003 gründete er zusammen mit Petra von Berenberg den Berenverg Verlag in Berlin. Dieser wurde 2010 mit dem Zillmer-Preis der Hamburger Kulturbehörde und 2016 mit dem Kurt-Wolff-Preis ausgezeichnet.

Neben seiner Tätigkeit als Lektor und Verleger ist von Berenberg ebenfalls als Herausgeber und Übersetzer, insbesondere von Roberto Bolaño, tätig, schreibt Artikel und Rezensionen, sowie zahlreiche Vorworte und Einleitungen für Publikationen.

 

Nobilität ist auch ohne Pferd möglich: Die Kunst des lässigen Anstands

alexander graf von schönburg die kunst des lässigen anstands

Als Abiturient oder Zivildienstleistender las ich Alexander von Schönburgs Kunst des stilvollen Verarmens und fühlte mich, so glaube ich mich zu erinnern, gut unterhalten. Verarmen musste ich zu diesem Zeitpunkt eigentlich nicht wirklich. Die Lebensphase, in der ich mich damals befand, ist im Allgemeinen nicht dafür bekannt, dass man aus dem Vollen schöpfte. Perfekt also vor dem Studium bereits zu wissen wie man aus den begrenzten Mitteln das Beste macht, um während des Jura Studiums trotzdem als edler Herr und nicht als Gernegroß durchzugehen.

Was ich bis heute allerdings aus den sicher vielen guten Tipps erinnere, ist nur der, man solle nicht mit (irgend)einem Auto protzen, ein alter Porsche Targa tue es auch. Der Leser möge kurz seinen Kontostand überprüfen. Sie kennen es, während der Verarmung verpasst man meist den Punkt, an dem es noch die finanzielle Möglichkeit gab einen Porsche Targa zu erwerben. Bei vielen allerdings wäre das Geld für den Targa erstmal zu besorgen, man müsste das Auto kaufen und dann darin stilvoll verarmen. Nichts ist heute einfach, nicht mal arm sein oder arm werden.

Die Themen und der Hintergrund Graf von Schönburg-Glauchaus laden natürlich zu Neid und Missgunst ein. Stefan Volk etwa ätzte im Bücher Magazin in der Rubrik Überschätzte Bücher über Die Kunst des stilvollen Verarmens:

Unangenehm aber ist die kumpelhafte Attitüde, mit der von Schönburg aus seinem Elfenbeinturm des „verarmten Adels“ und längst auf dem Weg zurück in die Chefredaktionen ein munteres „Haltung bewahren“ in die Gosse hinunter trällert. Er selbst hat gut daran verdient, dass er Armut zum besseren „Lifestyle“ verklärte.

alexander graf von schönburg die kunst des lässigen anstands piperNun schlägt der Graf aber trotz der Schelte – weil es sich eben auch gut verkauft – weiter in diese Kerbe (einer von denen da oben, der aber auch mal bei euch hier unten war, erklärt euch, wie echte Gentlemen das mit dem Leben machen und zwar von hier oben) und schreibt weiter über Themen, mit denen er sich gut auskennt, etwa ein Lexikon der überflüssigen Dinge oder über Smalltalk. Das neuste Werk, der langjährige Rowohlt Autor ist nun bei Piper, trägt den Titel Die Kunst des lässigen Anstands.

Adel hat nichts mit Geburt, aber sehr viel mit Kultur zu tun, die man sich aneignen kann. Oder eben nicht. Nicht alles, was der Adel bewirkt hat, war segensreich, aber niemand wird leugnen, dass es ein paar Werte, Traditionen, Denkweisen und tugendhafte Eigenarten gibt, die in Adelskreisen besonders hochgehalten worden sind und ein bewahrenswertes kulturelles Reservoir darstellen.

Wahrscheinlich kann man – wie jedem – Schönburg viele Dinge vorwerfen, z.B. für die Bild zu arbeiten – was man wiederum nicht jedem vorwerfen kann, aber auch jetzt erstmal ein recht pauschales Urteil ist. Man kann ihm aber nicht vorwerfen, dass er langweilig schreibe. Durch die zu erlernenden 27 Tugenden zum anständig Sein rauscht er in plaudernd-plapperndem Ton, paart Aristoteles und Thomas von Aquin mit Minnesang, Alltagsgeschichten mit Geschichte, ja man kann sich sehr gut vorstellen, einfach einen Abend von ihm unterhalten werden zu wollen. Denn offenkundig ist er sowohl klug als auch gebildet. Innerhalb der Kapitel gibt es noch putzige Seiten mit kurzen Fragen wie „Darf ich weiße Anzüge tragen?“ (in nuce: nein) oder „Wann darf ich mit den Fingern essen?“ (Spargel), die der Autor als letzte Instanz zu beantworten weiß. Das wäre alles herrlich kurzweilig, wäre das Buch 250 Seiten kürzer. Unklar bleibt dazu was AvS ist oder tut: Spielt er eine Rolle? Ist er ein Naseweis? Will er belehren oder wirklich nur unterhalten?

Wirklich ärgerlich sind vor lauter Kumpelhaftigkeit (wieder so eine Frage: will er mein Kumpel sein oder mein Lehrer?) dann aber Stellen wie

Wenn ich einer/m militanten LGBT-Aktivist*en gegenüberstehe und mit ihr/ihm/x streite, bringt das, muss ich offen eingestehen, in der Regel das Schlechteste in mir hervor. Ich will sie/ihn/x in Grund und Boden argumentieren, fertigmachen.

Offensichtlich tritt auch auf dem Papier beim bloßen Denken und Schreiben über „LGBT-Aktivist*en“ das Schlechteste im Autor hervor. Selbstverständlich endet der Absatz in einem „ich weiß, dies tut man nicht“, da liegt das Kind aber bereits im Brunnen, und es lässt dann doch vermuten, dass die Monstranz des Anstands vielleicht doch nur ein Deckmäntelchen sein könnte. Das Lustigmachen über Minderheiten finde ich dann unter dem Strich irgendwie höchst unanständig. Nicht nur hier, zwischen den Zeilen stolpert der Leser doch immer mal wieder über ein Vonobenherab. Mach ich es mir am Ende dann zu einfach, wenn ich einfach feststelle, dass es mit meinem eigenen Anstand nicht zu vereinen wäre, zusammen mit Julian Reichelt in der Chefredaktion der Bild zu sitzen? Aber was weiß ich schon über Anstand.

„Obacht, dass Sie im Alter kein Peter Hahne werden“, möchte man von Schönburg zum Schluss noch zurufen, wenn er im Buchmarkt Gespräch sagt, es ginge in seinem Buch „um unsere komplette Orientierungslosigkeit, den Verlust aller zeitlosen Werte, Maßstäbe und Standards. Seit 50 Jahren erleben wir eine fortwährende Destruktion und Verwüstung von allen jemals existierenden Wertesystemen.“

Mit dem Bloggerbus nach Görlitz – Lukas Rietzschel, »Mit der Faust in die Welt schlagen«

Da war ein Verlagsgebäude und ein Bloggerbus daneben. Um halb neun stand ich da, trank Kaffee und wartete auf die Blogger, die nicht pünktlich gekommen waren. Dann ab in den Bus, dort Saft und Avocadobagel, Klimaanlage und Vorstellrunde, Stadtverkehr. Ein Busfahrer mit langen Haaren. Social-Media-Mitarbeiterin mit Dutt. Keine Servietten da. Ein Papiertaschentuch sollte meine helle Leinenhose notdürftig schützen. Der Autor des Romans war anwesend, Lukas Rietzschel, »Mit der Faust in die Welt schlagen« hieß das Buch. Nach einiger Zeit: Brandenburg und Alleen.

Umschlag »Mit der Faust in die Welt schlagen«Der Autor erklärte uns, dass in Ostdeutschland viele Menschen noch auf dem Land wohnten, dass es wichtig sei, sich das zu vergegenwärtigen; an einem Trafohäuschen ein Graffito »ENERGIEZONE #judendynamo«. Irgendwo im Bus redeten ein Blogger und ein Richtigjournalist so über Ostdeutschland, als wäre es ein fremdes Land. 28 Jahre nach der Wende.

Nichtberliner bekamen keine Reisekosten erstattet. Ich war auf eigene Rechnung aus Jena gekommen. Am Vortag, hatte bei einem Freund übernachtet, von Görlitz zurück dann per Bahn. Der Autor erklärte uns einige Grundlagen zu Ostdeutschland, beispielsweise etwa zum Thema Bevölkerungsschwund. Irgendwo ein alter Schriftzug: »Ernst Thälmann« und so weiter. Der Autor machte auf die Klischeehaftigkeit des Ganzen aufmerksam und all die Berliner kicherten wiederholt. Der Buchhandel in Ostsachsen wird komplett von Thalia beherrscht. Das erklärte uns eine Verlagsvertreterin, die seit der Wende das Gebiet bereist. Es liege halt daran, an wen die Treuhand verkauft hat.

In Döbern eine Kristallpyramide. Der Autor fand es amüsant, dass die Döberner sehr stolz auf diese Pyramide seien, in der Glasartikel verkauft werden, irgendwie die größte Europas. (Der Inhaber steht längst wegen Subventionsbetruges vor Gericht. Er hatte zugesagt, Döbern die Glasfabrikation zu erhalten. Nach Zeugenaussagen gibt es aber schon seit Jahren keine Glasfabrikation mehr. Was in dieser Klammer steht, habe ich selbst recherchiert, denn auch wenn es die meiste Zeit nur schlechten Empfang gab, manchmal funktionierte das Internet dann doch.) Viele betonten, dass sie sich wie auf Klassenfahrt fühlten. Ich hatte eher den Eindruck, mich auf einer ethnographischen Ostdeutschlandexpedition für Berliner Medienmenschen zu befinden.

»Wir gehen eben hoch.« Der Aussichtsturm bot einen Blick über den Tagebau Nochten bei Weißwasser. Es war etwas diesig, daher waren die Bagger und Förderbrücken kaum erkennbar. Eine Mitreisende erwähnte, dass sie neulich ihren ersten Halbmarathon gelaufen war. Inzwischen hatte sie wieder angefangen zu rauchen, obwohl sie gehofft hatte, dass nicht. Im Veranstaltungssaal war es kaum erträglich schwül. Der Verleger stellte seinen Autor vor und dieser las dann das elfte Kapitel seines Romans. Leider manchmal etwas nuschelig. Anschließend gab es eine kurze Diskussion. Dabei ging es interessanterweise vor allem um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der sorbischen Minderheit in Sachsen, obwohl das im Buch allerhöchstens ein Randthema genannt werden kann. Das Kapitel spielte in Hoyerswerda. Brandspuren kamen vor. Möglicherweise des Pogroms oder anderweitiger Brandstiftungen. Der Autor subsumierte dies darunter, im Strukturwandel sei in Ostsachsen allgemein viel randaliert worden.

Dann fuhren wir wieder Bus, weiter nach Görlitz. Die Social-Media-Mitarbeiterin hatte eine Powerbank. Ich nutzte die unerwartet lange Fahrt dazu, ein gutes Stück des Buchs zu lesen und darüber nachzudenken. Wie schon bei der Lesung bemerkt, ist der Stil des Buchs ein äußerst kleinteilig beschreibender, lakonischer und weitgehend adjektivloser Realismus. Ich habe einmal mit einem vielfach preisgekrönten Romanschriftsteller über Adjektive geredet. Weder er noch ich als Wissenschaftsredakteur konnten uns erklären, was an Adjektiven eigentlich so schlecht sein soll. Manche Wörter und Ausdrücke Rietzschels waren etwas hölzern, aber das machte nichts. Das Buch ist kein Buch, das geschrieben wurde, um stilistisch zu renommieren.

Eine Stunde verspätet Ankunft in Görlitz. Eine Führung durch das Jugendstilkaufhaus. Es soll jetzt durch den Investor mit einer bestehenden Mall verbunden werden. Oben ein Restaurant rein. Der Autor erklärte hinterher, dass der Investor rassistisch und sexistisch sei. Er war ohnehin gut informiert, hatte Ahnung von Stadtentwicklung und auch von der Görlitzer Kommunalpolitik. War »der jüngste Meistererzähler aus Sachsen«. Das meinte zumindest der Verleger (Kulturwirtschaftsglatze, Kulturwirtschaftsbrille, offenes Kulturwirtschaftshemd).

Der Rückentext von Jan Brandt sagt, es gehe um vom Kapital Entmündigte. Nicht wirklich. Der Klappentext des Verlags spricht von Verlust von Heimat. Auch das erscheint mir ein bisschen unglücklich formuliert. Es geht um Jugend. Zwei Brüder wachsen in der Lausitz auf. Sie werden groß, gehen zur Schule, machen Ausbildungen, und am Ende zündet einer von ihnen eine Flüchtlingsunterkunft an. Heimat ist kaum zu sehen. Von Anfang an ist die Umgebung lieblos, abwertend.

Männlichkeit ist ein großes Thema. Kleine Jungs, die Angst vor Berührungen haben. Autoritäre und wortkarge Familien machen autoritäre und wortkarge Kinder. Es gibt kein Vokabular für Zukunftsträume, allerhöchstens hofft man, Großvaters silbernen Opel zu erben. Dörfer sind eben so. Und beim jährlichen Volksfest wird der Autoscooter auch von Jahr zu Jahr immer teurer.

– Im Umland von Görlitz gab es erstaunlich viele Firmen, die irgendwelche Drohnendienstleistungen anboten. Mittagessen auf der polnischen Seite. Inzwischen erheblicher Zeitverzug. Die Medienleute hielten das Personal mehrfach davon ab, gebrauchte Teller und Gläser mitzunehmen. Staffage für das Fotomotiv »Als letzter am Tisch verbliebener Schriftsteller, gedankenschwer blickend«. Der eigentlich geplante Stadtrundgang musste aus Zeitgründen entfallen.

Der Umschlag des Buchs ist als großes blaues Andreaskreuz gestaltet. Zwei Wochen vor dem Erscheinungstermin waren bereits riesige blaue Andreaskreuze an die Buchhandlungen ausgeliefert worden: Schaufensterdekoration. Ich musste daran denken, wie mir ein Sachbuchautor einmal das Marketing großer Verlage erklärte. Rein die Vermarktung reicht relativ sicher für die erste Woche in der Bestsellerliste. Ist das bei Belletristik auch so?

Der Autor baut die alte Synagoge als Literaturhaus auf. Das sagte der Pressetext. Eigentümerehepaar (beide pensioniert): ehemaliger Landeskirchenrat und Religionslehrerin aus Köln. Blogger und Richtigjournalisten waren begeistert von dem Projekt. Obergeschoss als Loftwohnung. Unten Raum für Lesungen jüdischer Literatur. Also nicht nur. Aber vor allem. Ich war beeindruckt. Die Beteiligung des Autors blieb aber bis zuletzt unklar. Zum Schluss gingen wir Kaffee trinken. »Ihr könnt auch richtigen Kaffee bestellen« (damit war gemeint: anderen als Filterkaffee). Auf der Rückfahrt nach Berlin sollte es »Stullenpakete«, Bier und Haselnussschnaps geben. Schade. Ich würde davon leider nichts abbekommen.

In Rietzschels Buch wird wenig erklärt. Man beginnt kleinste Indizien zu beachten. Zwischen gefriergetrockneter Prosa. Es stimmt zwar, dass das Buch nichts über Strukturen der Neonaziszene aussagt. Aber sein Thema ist auch gar nicht der politische Hintergrund für die beschriebene Entwicklung. Eher, wie Aufwachsen Feindseligkeit vermittelt. Die Protagonisten leben in einer Wüste, die unerläutert bleibt. Der Vater, der Polen als »behindert« beschimpft. Ungeschrieben eine Art Verbot von Zartheit, Bildung, Sehnsucht nach Höherem. Aufs Gymnasium gegangene »Christen« und weggezogene Mädchen als Hassgegenstände.

Rietzschel wurde bereits vor Erscheinen Experte. Er ist jetzt der neue Ostdeutschlanderklärer. Dabei hat er natürlich gar kein Sachbuch geschrieben. Warum wird sein Roman uns als Antwort auf die Zeitfragen verkauft? Er hat einen Roman über eine bestimmte Provinz geschrieben. Buchstäblich ein Jugendbuch. Ich musste an Elmar von Salms »Brandstiftung« (1988) denken. Damals auch seiner Zeit leicht voraus.* Rietzschel wird eine beliebte Schullektüre werden. Gar nicht abwertend gemeint! Mit großem Gewinn gelesen. Aufwühlend. Vieles hat bei mir als Dorfkind (strukturschwache Westpfalz) Saiten zum Klingen gebracht.

Aber wie wird das Buch uns präsentiert? Als eine Antwort auf heutige Journalistenfragen danach, warum »diese Leute« so sind, wie sie sind, taugt es nicht. Es beschreibt mitleidlos und nahezu ohne Einordnung, ohne Begründungen. Man soll es lesen und man soll es Kindern (vor allem Söhnen) zu lesen geben. Aber Sozialforschung ersetzt es nicht.

Die Satzlängen dieses Texts entsprechen jenen des Anfangs des besprochenen Romans, die Wörter sind im Mittel allerdings länger und die Absätze anders aufgeteilt.
Simon Sahner hat Rietzschels Buch inzwischen ausführlich für 54books rezensiert
 und dabei noch einmal präzise herausgearbeitet, wo der Bruch zwischen der allgemeingültigen und aufschlussreichen Provinzbeschreibung und dem (durch das Marketing noch mehr als durch das Buch selbst erhobenen) Anspruch, die Affinität der ostdeutschen Provinz zum Rechtsextremismus erklären zu können, liegt.

*Dem Verlag wurde das Buch kurz nach der Bundestagswahl 2017 angeboten. Die rechten Ausschreitungen in Chemnitz ereigneten sich zwischen der beschriebenen Reise und dem Erscheinungstermin (7.9.2018). Von Salms Buch erschien 1988, im Jahr des ersten großen Brandanschlags auf türkische Einwanderer in Deutschland (Schwandorf, 16./17.12.). Zur Zeit der Pogrome der frühen 1990er war es gängige Schullektüre in Rheinland-Pfalz.

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