Jahr: 2020

[Atelier NRW] Leben, um zu schreiben – schreiben, um (davon) zu leben?

Im vergangenen Oktober trafen sich sechs Autorinnen und Autoren aus Nordrhein-Westfalen im Gräflichen Park Bad Driburg zu dem dreitägigen Symposium Atelier NRW. Aus den Vorträgen und geführten Gesprächen sind Essays entstanden, die einmal im Monat auf 54books veröffentlicht werden.

Einleitung von Dorian Steinhoff
Über das Leben der Ideen im Verborgenen von Sabrina Janesch
Nabelschau von Yannic Han Biao Federer
Ans Ende schreiben von Gunther Geltinger

Von Juliana Kálnay

1.

Wie muss ich leben, um schreiben zu können? Ob bewusst oder unbewusst haben sich die meisten Schriftsteller:innen mit dieser Frage auseinandergesetzt oder mit jenen, die ihr verwandt sind: Welche Rahmenbedingungen brauche ich für mein Schreiben? Wie muss ich dafür meinen Alltag strukturieren? Und je nachdem, wie es die aktuellen Lebensumstände erlauben, beeinflussen die Antworten wichtige Entscheidungen, wird Alltag und Leben danach ausgerichtet.

2.

1929 schrieb Virginia Woolf in ihrem berühmten Essay A Room of One’s Own: „(…) eine Frau muss Geld und ein eigenes Zimmer haben, um schreiben zu können (…).“[1] Das ‚Geld‘ in diesem Zitat lässt sich auf finanzielle Einnahmen (oder sich im eigenen Besitz befindendes Vermögen) beziehen, die das Auskommen sichern und unabhängig machen: von der Last des Broterwerbs, von der Last der Armut und unabhängig auch von der finanziellen Unterstützung durch die Familie oder einen Partner. Woolf selbst beschreibt, wie sie durch den Tod ihrer Tante Mary Beton zu finanzieller (und in der Konsequenz auch zu künstlerischer) Freiheit gelangte: Diese vererbte ihr nämlich auf Lebenszeit 500 Pfund im Jahr, die es ihr erlaubten, die Broterwerbstätigkeiten, deren Ausübung sie verbittert hatte, aufzugeben. Woolf musste von da an nicht mehr für die Zeitung über Eselsschauen und Hochzeiten berichten, älteren Damen vorlesen, Umschläge addressieren oder Kleinkindern das Alphabet beibringen.[2] Die zweite zum Schreiben benötigte Ressource, die Virginia Woolf nennt, ist das eigene Zimmer. Dieses steht für einen Raum, in dem ein Rückzug und damit ein möglichst ungestörtertes und konzentriertes Arbeiten möglich ist. Etwas allgemeiner formuliert ließe sich sagen, das ‚Zimmer‘ steht für Raum zum Schreiben und das nicht nur in einem wörtlich-räumlichen Sinne, sondern auch in einem zeitlich-räumlichen: Man benötigt ausreichend Zeit, um sich zurückzuziehen und sie ungestört dem Schreiben widmen zu können.[3]

3.

Hinter einem Roman stecken oft mehrere Jahre Arbeit. Dazu zählt nicht nur die Zeit, die es braucht, um den Text zu verfassen. Man benötigt auch Zeit, um sich konzeptionell mit dem Vorhaben auseinanderzusetzen und um Dinge wieder verwerfen und neu ansetzen zu können, wenn sie einmal nicht gelungen sind. Das Schreiben ist per se eine Arbeit mit dem Ungewissen. Wenn man beginnt, weiß man noch nicht, wie das Ergebnis aussehen wird, und auch das Scheitern ist nicht ausgeschlossen. Doch um sich die Zeit zum Schreiben, Denken und Scheitern nehmen zu können, braucht es ein gesichertes Auskommen. Desto mehr Zeit nämlich in eine andere Quelle des Gelderwerbs aufgewendet werden muss, desto weniger Zeit bleibt für das Schreiben selbst. Der Wert von ökonomischen Kapital liegt also für den Schreibenden in der Schreibzeit, die damit einhergeht. Für Schriftsteller:innen gilt demnach in der Regel weniger das bekannte Prinzip nach dem Zeit gleich Geld ist, sondern vielmehr – und das ist nicht dasselbe –, dass Geld gleich Zeit ist.

4.

Kürzlich veröffentlichte die US-amerikanische Autorin Lynn Steger Strong einen Artikel in The Guardian, in dem sie eine vermeintlich banale Wahrheit konstatierte, nämlich die, dass man sich das Schreiben erstmal leisten können muss:

I would argue that there is nothing more sustaining to long-term creative work than time and space – these things cost money – and the fact that some people have access to it for reasons that are often outside of their control continues to create an ecosystem in which the tenor of the voices that we hear from most often remains similar.[4]

Steger Strong rät ihren Studierenden, sich einen Job zu suchen, der ihnen Zeit und Raum zum Schreiben verschafft und kritisiert Kolleg:innen, die öffentlich behaupten, vom Schreiben zu leben, und dabei verheimlichen, dass sie über weitere Einkünfte verfügen – etwa, wie Steger Strong selbst, durch Tätigkeiten in der Lehre, durch Auftrags- und Werbetexte oder weil Familie und Partner:innen mit regelmäßigem Einkommen für finanzielle Sicherheit sorgen.[5] Ich lese Steger Strongs Text vor allem als Plädoyer, die ökonomischen Rahmenbedingungen des Schreibens transparent zu machen, anstatt diese unter dem Nimbus einer professionellen Schriftsteller:innentätigkeit zu verklären. Wir sollten über Geld sprechen, obwohl oder gerade wenn es um die Produktion von Kunst geht.[6] Denn auch wenn ihr Motor zumeist ein intrinsischer ist, wird die künstlerische Arbeit von ihren Rahmenbedingungen beeinflusst. Das Klischee des „armen Poeten“, der in einer klammen Dachkammer hockt,[7] hält sich hartnäckig und hat immer wieder auch zu einer Romantisierung des künstlerischen Prekariats geführt. Doch wir sollten uns bewusst machen, dass ein Leben unter präkeren Voraussetzungen unter Umständen zwar die Konsequenz, aber niemals die Bedingung für künstlerische Arbeit sein kann. Und auch wenn die Not einer bekannten Redewendung nach erfinderisch macht, sind es in der Regel eher die besseren finanziellen Voraussetzungen, die ein freies und unabhängiges Schaffen und damit auch literarische Vielfalt begünstigen.

5.

„Die geistige Freiheit hängt von materiellen Dingen ab. Die Dichtkunst hängt von der geistigen Freiheit ab“[8], stellt Virginia Woolf fest, und ich frage mich, wie man sich diese geistige Freiheit bewahren soll, wenn das Schreiben zum Beruf geworden ist. Wenn also die Quelle des ökonomischen Kapitals, das nicht nur die Währung ist, mit der man sich die für das Schreiben notwendige Zeit erkauft, sondern auch jene, welche die für das Schreiben ebenso benötigte Freiheit ermöglicht, wenn jene Quelle also das Schreiben selbst ist? Wie sich beim Schreiben von dem Gedanken befreien, dass man vom Ergebnis dieser Arbeit finanziell abhängig ist? Wie tatsächlich künstlerisch frei sein und sich nicht von Fragen der ökonomischen Verwertbarkeit beeinflussen lassen? Fragen wie: Wird das Buch, an dem ich gerade schreibe, ausreichend Leser:innen und damit Käufer:innen finden? Werde ich damit zu Lesungen eingeladen? Bekomme ich Stipendien? Und muss ich das Manuskript möglichst früh verkaufen, weil der Vorschuss dringend benötigt wird? Oder kann ich es mir leisten, mehr Zeit in ein Projekt zu stecken, wenn ich denke, dass es das braucht? Doch wie der Schreibprozess an sich eine Arbeit mit dem Ungewissen ist, sind auch die Einkünfte von Schriftsteller:innen – meist eine Mischkalkulation aus Buchverkäufen, Lesungshonoraren, Preis- und Stipendiengeldern – nicht planbar. Es gibt keine Garantie darauf, ob ein Buch besser oder schlechter laufen wird, als das vorherige. Die Unwägbarkeit und die darin liegende Labilität dieses Finanzierungsmodells offenbart sich während ich dies schreibe (Anm.: im März 2020) in einem beispiellosen Ausmaß, wenn nämlich aufgrund einer Pandemie auf einen Schlag alle Lesungen ausfallen und Buchhandlungen ihre Türen schließen müssen. Es bleibt nur zu hoffen, dass die solidarischen Initiativen und staatlichen Schutzschirme ausreichen werden, um die vielfältige Literaturlandschaft zu erhalten.

6.

Vermutlich setzt eine absolute künstlerische Freiheit auch eine ökonomische Freiheit von der Kunst voraus. Nicht zuletzt deshalb glaube ich, dass das Schreiben des Debüts von einer Autonomie begleitet wird, die sich in dieser Form nicht wieder einstellt, wenn die professionelle literarische Bühne erstmal betreten ist. Mit der Publikation geht die Unschuld des Schreibens um seiner selbst willen verloren. Aus der Leidenschaft wird ein Beruf und das ist durchaus ein Privileg, beinhaltet aber auch eine andere Herangehensweise, ein anderes Verhältnis zum Schreiben.

7.

Der argentinische Autor Ricardo Piglia erklärte einst in einem Interview, es wäre doch einmal interessant, die Literaturgeschichte dahingehend zu untersuchen, wie Schriftsteller ihr Geld verdienen.[9] Piglia gehörte ebenfalls zu jenen Stimmen, die die materiellen Bedingungen der literarischen Produktion sichtbar machen wollten und das nicht nur in seinen öffentlichen Äußerungen, sondern auch innerhalb seines literarisches Werkes.[10] So legt er etwa in seinem Roman Falscher Name der Figur des Schriftstellers Roberto Arlt, die an den echten Schriftsteller Arlt angelehnt ist, folgende Zeilen in den Mund:

Um ein Meisterwerk hervorzubringen, um einen Anzug zu weben, der ein Jahrhundert hält, muss man fühlen, denken und schreiben. Wir können nicht denken, wenn wir keine Zeit haben zu lesen, nicht fühlen, wenn wir emotional ausgelaugt sind, und wir können nicht schreiben, wenn wir keine freie Zeit haben (das heißt: Geld, um die freie Zeit zu finanzieren).[11]

Um an das für die Zeit zum Schreiben benötigte Geld zu kommen, arbeitet die Schriftstellerfigur Roberto Arlt im Roman an der Entwicklung eines Herstellungsverfahrens für Damenstrümpfe ohne Laufmaschen. Der echte Roberto Arlt meldete übrigens – wie der Arlt in Piglias Roman – ein Patent für gummierte Damenstrümpfe an, er fand jedoch keinen Investor, der sie produzieren und vertreiben wollte. Der Reichtum blieb aus und er verstarb wenige Monate später.

8.

Während sich für Virginia Woolf jede Tätigkeit, die dem Gelderwerb diente und nicht das Schreiben selbst war, wie eine Zumutung anfühlte, und während Roberto Arlt das Reichwerden mit literaturfernen Geschäften als einen Weg sah, sich eine zukünftige Schreibzeit zu sichern, empfinde ich es als große Entlastung für mein Schreiben, dass ich daneben noch einer anderen Erwerbsarbeit nachgehe. Aus dem Schreiben-müssen wird ein Schreiben-können und ich bilde mir ein, dadurch zumindest einen Teil der Autonomie, die ich beim Schreiben meines Debüts verspürte, bewahren zu können. Und doch erlebe ich den Konflikt, dass mir durch den Gewinn der Freiheit allzu häufig eine andere für das Schreiben benötigte Ressource abhanden kommt: die Zeit.

9.

Für den französischen Soziologen Pierre Bourdieu sichert Geld „immer noch am besten die Freiheit von Geld. (…) Sie erspart den ‚reinen‘ Schriftstellern die Kompromisse, zu denen fehlende Einkünfte aus Kapital und Besitz sie sonst zwingen würden.“[12] In seiner Theorie des literarischen Feldes typisiert er Autor:innen nach ihrem Autonomiegrad und den Kapitalsorten[13], über die sie verfügen. Vereinfach dargestellt, unterscheidet dieses Modell zwischen jenen, die den Geschmack eines breiten Publikums bedienen und durch den Publikumserfolg monetäre Verdienste erzielen und jenen, die symbolisches Kapital in Form von Aufmerksamkeit und Anerkennung durch die Fachwelt genießen. Im Literaturbetrieb äußert sich symbolisches Kapital etwa in Form von Besprechungen im Feuilleton oder Auszeichnungen, es kann also durchaus mit ökonomischem Kapital einhergehen. Darüber hinaus gibt es im literarischen Feld eine noch nicht arrivierte Avantgarde, die nur eine kleine Gruppe von Interessierten erreicht, dafür aber eine hohe künstlerische Autonomie genießt.[14]

10.

Es steckt eine gewisse Freiheit in der Nische, denn wenn man vorrangig literarische Formen bedient, die sich nicht dazu eignen ein breites Publikum anzusprechen, wird der Druck, damit Geld verdienen zu müssen von vornherein klein gehalten. In diesem Fall ist den Autor:innen jedoch ebenfalls von Anfang an bewusst, dass das Schreiben aus anderen Mitteln finanziert werden muss, und dass diese unter Umständen zulasten der Zeit gehen. Einige literarische Formen, die auf dem Markt ein Nischendasein fristen, wie die Kurzprosa oder die Lyrik, haben aber auch den Vorteil, dass sie von dem Schreibenden oft weniger lange Konzentrationszeiträume einfordern als beispielsweise der Roman.

11.

Manch eine:r mag während der Lektüre dieses Essays der Gedanke gekommen sein, ob nicht gerade aus der finanziellen Not auch Literatur entstünde, in der ein existenzieller Antrieb zu erkennen sei. Ich halte es für einen Mythos, dass ein wirtschaftlicher Mangel in irgendeiner Weise der Entstehung von Literatur förderlich wäre.[15] Es ist zudem ein gefährlicher Mythos, weil er in letzter Konsequenz dazu verwendet werden kann, Förderprogramme zusammenzustreichen, Ausbeutung zu rechtfertigen und prekäre Bedingungen dort, wo sie bereits vorhanden sind, zu zementieren und zu zelebrieren.

12.

Von dem russischen Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewskij ist bekannt, dass er sich als Berufsschriftsteller verstand, dem Literatur zunächst als Erwerbsquelle dienen sollte. Seine schriftstellerische Arbeit sollte demnach angemessen und am besten schon im Voraus honoriert werden. Er schien keinen Widerspruch darin zu sehen, kapitalismuskritische Romane zu schreiben und gleichzeitig davon zu träumen, durch den Erfolg derselben zu Reichtum zu kommen. Obwohl Dostojewkijs schriftstellerische Karriere mit dem Erfolg des Romans Arme Leute (1846) auch in ökonomischer Hinsicht vielversprechend begann, war sein Schreiben aufgrund hoher Spielschulden sowie eines temporären Publikationsverbots nach seiner Zeit im Gefangenenlager über weite Strecken seines Lebens von finanzieller Not geprägt, bevor sich die Verhältnisse in den letzten Jahren seines Lebens stabilisierten.[16] Vor diesem Hintergrund erscheint es interessant, dass die Frage nach einem Zusammenhang zwischen Geld und Freiheit auch in Dostojewskijs Literatur auftaucht. So hat der Protagonist seines 1875 veröffentlichten Romans Der Jüngling das Ziel, reich zu werden, jedoch nicht um das Geld selbst, sondern weil er sich dadurch Freiheit und Autonomie verspricht.[17] Aus Dostojewkijs Erzählung Aufzeichnungen aus einem Totenhaus bzw. Aufzeichnungen aus einem toten Haus (1862), dessen Handlung in einem sibirischen Gefangenenlager angesiedelt ist, in dem die Häftlinge untereinander heimlich Waren und Dienstleistungen austauschen, stammt dagegen das Zitat „Geld ist geprägte Freiheit“[18].

13.

Im letzten Kapitel von A Room of One’s Own zitiert Virginia Woolf einen Zeitgenossen, den Literaturprofessor und Schriftsteller Arthur Quiller-Couch, der 1916 – immerhin 76 Jahre vor Pierre Bourdieu – einen Zusammenhang zwischen Bildung, ökonomischem Kapital sowie schriftstellerischer Schaffenskraft feststellte: Quiller-Couch zählt die Namen der Schriftsteller:innen auf, die er für die größten der englischsprachigen Literatur im 19. Jahrhundert hält – „(…) Coleridge, Wordsworth, Byron, Shelley, Landor, Keats, Tennyson, Browning, Arnold, Morris, Rossetti, Swinburne (…)“ – und bemerkt: „Von diesen waren alle bis auf Keats, Browning und Rossetti Akademiker; und von diesen drei war Keats, der jung starb, in der Blüte seiner Jahre dahingerafft, der einzige, der nicht leidlich wohlhabend war.“[19]

14.

In der Literaturgeschichte lassen sich ohne Zweifel Beispiele für Schriftsteller:innen finden, die, wie Keats und Dostojewskij, trotz finanzieller Widrigkeiten herausragende Werke schufen. Die Frage, welche Werke diese Autor:innen unter besseren Rahmenbedingungen darüber hinaus hervorgebracht hätten und welche Texte allgemein nie geschrieben wurden, weil Geld und ein eigenes Zimmer fehlten, drängt sich auf – und dennoch werden wir die Antwort niemals gänzlich erfahren. Auf der anderen Seite kommt es auch vor, dass Autor:innen trotz großzügigem Stipendium an einem Schreibvorhaben scheitern. Diese Möglichkeit ist – wir erinnern uns – in keinem Schreibprozess ausgeschlossen. Als prominentes Beispiel für einen Schriftsteller, der trotz gesicherter Projektfinanzierung scheiterte, gilt Wolfgang Koeppen, der ab 1961 für Jahrzehnte ein monatliches Honorar vom Suhrkamp-Verlag erhielt. Der Verlag hoffte auf den von Koeppen angekündigten großen Roman, dessen Vollendung jedoch nie erfolgte.[20] Sicherlich schafft die Freiheit von Geld- und anderen Sorgen nicht automatisch gute Literatur. Aber sie schafft Freiraum im Kopf, der für zielloses Denken wie für die Konzeption und Weiterentwicklung von literarischen Stoffen genutzt werden kann. Und sie schafft zeitlichen Freiraum und damit die Möglichkeit, sich überhaupt erst an den Schreibtisch zu setzen und die Projekte, die einen umtreiben, realisieren zu können.

15.

Bourdieu selbst betrachtete die objektive finanzielle Unabhängigkeit nicht als „(…)notwendige und schon gar nicht hinreichende Voraussetzung“ für die gefühlte künstlerische Autonomie, sondern „(…) allein die uneingenschränkte affektive, emotionale Besetzung eines wirklichen intellektuellen Projekts“.[21] Und doch wirken materielle wie auch andere Sorgen auf unser Schreiben, denn Literatur – und hier zitiere ich wieder Virginia Woolf:

(…) ist wie ein Spinnennetz, vielleicht nur ganz lose, aber dennoch an allen vier Ecken mit dem Leben verknüpft. Oft ist die Verknüpfung kaum wahrnehmbar (…) Aber wenn das Netz verzogen wird, am Rand verhakt, in der Mitte zerrissen, bedenkt man wieder, dass diese Netze nicht mitten in der Luft von körperlosen Wesen gewebt werden, sondern das Werk leidender Menschen sind, verknüpft mit grob materiellen Dingen wie Gesundheit und Geld und den Häusern, in denen wir wohnen.[22]

16.

„Weder Schreiben noch Publizieren lassen sich restlos in ökonomischen Gesetzmäßigkeiten fassen.“, schreibt Philipp Schönthaler in seinem sehr lesenswerten Essay Schreiben im Zeichen des Geldes, „Dennoch produziert die Verflechtung mit dem Markt sehr wohl eine Kette von Widersprüchen, die sich weder theoretisch noch strukturell auflösen lassen. Allein deshalb kann es für Autorinnen keine konfliktfreie Beziehung zum Geld geben.“[23] Auch der Konflikt zwischen den für das Schreiben benötigten Ressourcen der Zeit und des Geldes wird sich nicht mit einem Universalrezept lösen lassen. Es gilt ein für die eigene Lebenssituation passendes Modell zu finden, mit dem sich die individuell richtige Balance beider Ressourcen realisieren lässt, sich unter Kolleg:innen darüber auszutauschen wie wir vom Schreiben leben und bei Bedarf daran zu erinnern, dass der Schriftsteller:innenberuf nicht allein auf die Berufung reduzierbar ist.

[1] Woolf, Virginia: Ein eigenes Zimmer, dt. von Heidi Zerning, Frankfurt am Main, 2001, S.7.

[2] Vgl. ebd., S.39f.

[3] Den nötigen Raum und das nötige Geld zum Schreiben sind zwei der wichtigsten Ressourcen für eine schriftstellerische Tätigkeit – m.E. unabhängig vom Geschlecht des Schreibenden. Allerdings – und darum geht es auch in Virginia Woolfs Essay – haben Frauen aus strukturellen Gründen häufig größere Hindernisse zu überwinden, um an diese Ressourcen zu gelangen. Das war 1929 so und gilt in vieler Hinsicht auch heute noch – z.B. weil Frauen überdurchnittlich oft unbezahlte Care-Arbeit leisten. Um diese strukturellen Unterschiede zu vertiefen, wäre allerdings ein eigener Essay angebracht.

[4] Steger Strong, Lynn: A dirty secret: You can only be a writer if you can afford it. In: The Guardian, 27.02.2020 <https://www.theguardian.com/us-news/2020/feb/27/a-dirty-secret-you-can-only-be-a-writer-if-you-can-afford-it>, zugegriffen am 10.02.2020. Was diese Feststellung für Konsequenzen auf die soziale Diversität von Schriftsteller:innen bzw. dem schriftstellerischen Nachwuchs an den Literaturinstituten hat, wurde im deutschsprachigen Feuilleton vor einigen Jahren in Reaktion auf eine Polemik von Florian Kessler diskutiert (s. ders.: Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn! In: DIE ZEIT, 16.04.2014 <https://www.zeit.de/2014/04/deutsche-gegenwartsliteratur-brav-konformistisch>, zugegriffen am 10.02.2020).

[5] Vgl. Steger Strong: A dirty secret, a.a.O.

[6] Mein subjektiver Eindruck ist, dass es momentan auch auf internationaler Ebene vermehrt Vorstöße in diese Richtung gibt. So hat im vergangenen Jahr der argentinische Autor Patricio Pron eine Diskussion zur finanziellen Wertschätzung schriftstellerischer Tätigkeit angestoßen, die er für die Sicherung einer vielfältigen und und künstlerisch interessanten Literaturlandschaft für unabdingar hält (vgl.: Patricio Pron: Escritores urgidos de dinero. In: Letras Libres, 01.11.2019 <https://www.letraslibres.com/espana-mexico/revista/escritores-urgidos-dinero>, zugegriffen am 10.03.2020). Und auf dem Portal Medium führte Mike Gardner Interviews mit zwölf US-amerikanischen Autor:innen zur Frage „How I paid the bills while I wrote the book“. Gardner, der selbst ein Doppelleben als Schriftsteller und Rettungssanitäter führt, interessierte sich besonders dafür, wie die Broterwerbstätigkeiten Schreibprozess und -vorgehensweisen beeinflussen und wie die einzelnen Autor:innen es schafften „den Teil ihres Gehirns, der für Sprache und Vorstellungskraft zuständig ist“ während dieser Tätigkeit zu schützen (vgl.: Gardner, Mike: How the Interviewer Pays the Bills While He Writes the Book. In: Medium, 19.02.2019, <https://medium.com/s/day-job/mike-gardner-day-job-interviews-introduction-81ce0d17fcc6>, zugegriffen am 15.03.2020. Zur vollständigen Interviewsammlung siehe: <https://medium.com/s/day-job>, zugegriffen am 10.03.2020).

[7] Wie er auch vom Maler Carl Spitzweg in seinem Gemälde Der arme Poet (1839) dargestellt wurde.

[8] Woolf: Ein eigenes Zimmer, a.a.O., S.106.

[9] Vgl.: Solanes, Ana: Ricardo Piglia: “Uno escribe para saber qué es la literatura”. In: Cuadernos Hispanoamericanos, núm. 681 (03/2007), S. 133-144.

[10] Zum Motiv des Geldes in Piglias Werk siehe auch: Becerra, Eduardo: Ricardo Piglia: literatura, dinero, propiedad. In: Cuadernos LIRICO, Hors-série 2019, 16.02.2019, <http://journals.openedition.org/lirico/7926>, zugegriffen am 11.03.2020.

[11] Piglia, Ricardo: Falscher Name, dt. von Sabine Giersberg, Berlin, 2003, S.35.

[12] Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, dt. von Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt am Main, 2001, S. 138.

[13] Bourdieu unterscheidet vier Sorten von Kapital: das ökonomische Kapital, das Geld bzw. materiellem Besitzvermögen entspricht, das kulturelle Kapital, das sich in etwa mit Bildung übersetzen lässt, das soziale Kapital, das für Beziehungen und Netzwerke steht, sowie das symbolische Kapital, zu dem die Reputation und die Anerkennung durch die Fachwelt zählt. Dabei begünstigt das Verfügen einzelner Kapitalsorten häufig auch den Erwerb anderer.

[14] Vgl. ebd., S. 198ff.

[15] Siehe hierzu auch Abschnitt 4. dieses Essays.

[16] Zum komplexen Verhältnis von Dostojewskij zu Geld vgl. Guski, Andreas: „Geld ist geprägte Freiheit“ – Paradoxien des Geldes bei Dostoevskij. In: Dostoevsky Studies. Bd. 16 2012, S. 7-57.

[17] „Ich brauche das Geld nicht, oder, richtiger gesagt, ich brauche nicht das Geld und nicht einmal die Macht, sondern nur das, was man durch die Macht erlangt und was man ohne Macht auf keine Weise erlangen kann: das ist einsames, ruhiges Kraftbewusstsein! Das ist die erschöpfendste Definition der Freiheit, diese Definition, mit der sich die Welt so herumschlägt.“ (Dostojewskij, F.M.: Der Jüngling, dt. von H. Röhl, Berlin und Weimar 1971, S.120).

[18] Zit. n. Guski: „Geld ist geprägte Freiheit“, a.a.O., S. 19.

[19] Quiller-Couch, Arthur: On the Art of Writing (1916) zit. n. Woolf: Ein eigenes Zimmer, a.a.O., S.105.

[20] Vgl. Fellinger, Raimund: „Komm‘ bei mir vorbei“. Wolfgang Koeppen und der Suhrkamp Verlag. In: TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur 34 – Wolfgang Koeppen. Hrsg. von Eckhard Schumacher und Katharina Krüger. 2. Aufl./Neufassung. München 2014, S. 89-95. In dem dort zitierten Briefwechsel von Wolfgang Koeppen mit dem Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld gibt Koeppen immer wieder neue Probleme an, welche die Fertigstellung des Manuskripts In Staub mit allen Feinden Brandenburgs verzögern. 1976 gelang es Koeppen immerhin den Prosatitel Jugend bei Suhrkamp herauszubringen. Ansonsten musste sich der Verlag mit Neu- und Werkausgaben seiner älteren Bücher begnügen (vgl. ebd.).

[21] Ebd. S. 139.

[22] Woolf: Ein eigenes Zimmer, a.a.O., S.43.

[23] Schönthaler, Philipp: Schreiben im Zeichen des Geldes. In: Volltext, 10.04.2019, <https://volltext.net/texte/philipp-schoenthaler-schreiben-im-zeichen-des-geldes/>, zugegriffen am 17.03.2020.

Vom Spiralblock zum Blog? – Ortsbestimmung der aktuellen Theaterkritik

von Felix Lempp

 

       Und schreit das Publikum: Hurra! – das nützt euch nichts, denn ich bin da!

Georg Kreisler: Der Musikkritiker

 

Der Angriff auf den Kritiker

Auf den ersten Blick umgibt den gängigen Spiralblock eine gewisse anachronistische Aura. Als College-Block fand er sich in den Umhängetaschen von Generationen von Studierenden, bevor MacBooks in Fjällräven-Rucksäcken die Universitäten eroberten, und auch als Notizblock für Einkaufslisten wird er wohl im digitalen Zeitalter zunehmend abgelöst. Die meisten Schreibwilligen nutzen Smartphone oder Tablet, wer sich prinzipiell zu Tinte und Papier bekennt, tut das oft im höherpreisigen Segment auf handgeschöpftem Büttenpapier oder im Moleskin-Notizheft. Und doch war es ein Spiralblock, an dem sich im Jahr 2006 einer der ersten Theaterskandale des Jahrtausends entzündete. Was sich am Abend des 16. Februars in der Schmidtstraße 12, einer der Spielstätten des Schauspiels Frankfurt, ereignete, hat alles, was es zur Legendenbildung braucht: Einen mächtigen Kritiker, einen übergriffigen Schauspieler, die Premiere einer sehr freien Bearbeitung eines sehr unbekannten Stückes, eine Oberbürgermeisterin kurz vor den Kommunalwahlen – und eben nicht zuletzt: einen Spiralblock!

Was an diesem Abend wirklich geschah, darüber gibt es verschiedene und teils abweichende Aussagen der Beteiligten. Als kleinster gemeinsamer Nenner lässt sich folgender Tathergang rekonstruieren: Im Verlauf der Premiere von Eugene Ionescos Das große Massakerspiel. Oder Triumph des Todes weigerte sich Gerhard Stadelmaier, Theaterkritiker der FAZ und bekanntermaßen kein Freund textferner Stück-Dekonstruktionen, an der Publikumsbeteiligung mitzuwirken, die Sebastian Hartmann in seiner Inszenierung vorgesehen hatte. Dies bewegte den Schauspieler Thomas Lawinky dazu, Stadelmaier direkt anzusprechen und ihm nach kurzem rhetorischen Schlagabtausch seinen Spiralblock wegzunehmen. Er blätterte ihn durch, um darin Hinweise auf die Meinung des Kritikers zur Inszenierung zu finden, und gab ihm das Schreibgerät dann zurück. Stadelmaier, der dieses Vorgehen als Übergriff empfand, verließ unter Protest die Aufführung, während ihm Lawinky noch ein „Hau ab, du Arsch! Verpiß dich!“ nachgerufen haben soll. Über eine Beschädigung des Blocks wurde nichts bekannt.

Damit war aber die Angelegenheit keinesfalls erledigt. Die Spiralblockaffäre – unter dieser Bezeichnung gingen der Zwischenfall und seine Folgen in die Theaterhistorie ein – stand erst an ihrem Beginn. Noch in der Nacht über den Vorgang informiert, schrieb Petra Roth, die Oberbürgermeisterin Frankfurts, am Morgen des nächsten Tages einen Brief an die Intendantin des Schauspiels, Elisabeth Schweeger. Sie forderte sie angesichts des „unentschuldbaren Vorfall[s]“ auf, „das Vertragsverhältnis mit dem Schauspieler Thomas Lawinky sofort zu beenden“. Dieser kam seiner Entlassung durch Kündigung zuvor, sodass Schweeger letztlich eine Trennung im gegenseitigen Einvernehmen verkünden konnte.

Neben diesen kulturpolitischen Folgen hatte der Vorgang natürlich auch ein feuilletonistisches Nachspiel. Unter dem Titel „Angriff auf einen Kritiker“ veröffentlichte Gerhard Stadelmaier seine Sicht auf den Theaterabend. In diesem Artikel kommt nicht nur die Erschütterung des Kritikers über eine „Attacke auf meinen Körper und meine Freiheit, die nichts weniger als die Freiheit der Presse ist“, zum Ausdruck, sondern auch der Spiralblock zu seinem Recht: So sei Stadelmaier der „Kritikerblock brutal aus der Hand“ gerissen worden, bevor Lawinky den „schönen Spiralblock wie eine Trophäe“ präsentiert, ihn dann aber wieder zurückgegeben habe. 

Es fällt schwer, die hier hervorbrechende Bestürzung über den entwendeten Block nicht als Entsetzen über den Verlust der Insignie des souveränen Kritikers zu deuten. Was sich also in der Affäre um Stadelmaiers Spiralblock auch manifestiert, sind Fragen zu Rolle und Stellenwert der Theaterkritik in einem Theatersystem, das besonders seit der Jahrtausendwende seine Pluralität, Formenvielfalt und Ablösung vom Dramentext nicht nur in der Praxis vorführt, sondern auch zunehmend theoretisch reflektiert. Bemerkenswert an der Spiralblockaffäre ist auch die von ihr ausgelöste öffentliche Debatte im Feuilleton und der Theateröffentlichkeit, in der die Frage mitschwang, ob die Institution des allmächtigen Großkritikers – der Verzicht auf das Gendern ist hier intendiert – noch zeitgemäß ist. Denn es gab keinesfalls nur Stimmen, die dem Kritikerfürsten beisprangen und angesichts von Lawinkys Verhalten von einem „so aggressiven Akt, daß mir der Atem stockte“, sprachen.

Selbst Kritikerkollegen wie Peter Michalzik äußerten ihr Unbehagen, dass „im Namen der Pressefreiheit [–] für die zu kämpfen die FAZ vorgibt – einem Theater vorgeschrieben [wird], was es zu tun hat. Jetzt entlassen also Kritiker via Oberbürgermeister die Schauspieler. Sehr schön. Meine Freiheit ist das nicht, liebe FAZ“. Und Claus Peymann ergriff die Gelegenheit, dem nun arbeitslos gewordenen Thomas Lawinky ‚Theaterasyl‘ und Job  im Berliner Ensemble anzubieten. Das Theater leistete seinem Kritiker hier also durchaus Widerstand – ein Widerstand, der sich explizit nicht gegen den Inhalt der Rezension richtete (das wäre im gespannten Verhältnis zwischen Theaterpraxis und Theaterkritik ja nichts Neues), sondern gegen die Art, wie ein Kritiker seine Medienmacht gegen einen einzelnen Schauspieler in Stellung brachte.

 

Die Klage des Kritikers

Doch auch der Kritiker war mit seinem Theater ganz und gar nicht zufrieden! So veröffentlichte Gerhard Stadelmaier zehn Jahre später eine Polemik, die sich schon im Titel gegen ein „Regisseurstheater“ wendet, in dem Text und Tradition nichts, Zeitgeist und die Selbstherrlichkeit der Regisseur*innen jedoch alles bedeuteten.[1] Interessant für die Frage nach dem aktuellen Stellenwert und Platz der Theaterkritik ist dieser Text vor allem wegen dem dort skizzierten Verhältnis zwischen Zeitung, Kulturkritik und Leserschaft.

Die Beziehung des von Stadelmaier figurierten Kritikers zu seinen Leser*innen ist ambivalent: Einerseits sind sie die „kritischen Partner“, die durch eine Theaterkritik, „die den Verstand und die Phantasie des Lesers anregt, zum Widerspruch, zum Ganz-anders-Denken reizt“, überzeugt werden müssen (S. 39f.). Doch andererseits sollten diese Leser*innen das ‚Ganz-anders-Denken‘ und die kritische Partnerschaft auch nicht übertreiben, etwa indem sie selbst – nicht zum Spiralblock, aber dem digitalen Schreibgerät greifen. Feindbild sind besonders solche Leser*innen, die online und damit „im allgemeinen elektronischen Stammtisch-Sumpf des Jeder-darf-mal-Postens und Senf-dazu-Gebens“ aktiv werden, „wo im Schatten allgemeiner Anonymität jeder das, was ihm zu einem Ereignis oder einer Nachricht oder gar einem Artikel [!] durch die Rübe rauscht, als Kürzestpublikation ins Internet stellen kann“ (S. 39). Statt „als aleatorischer Publizist zu fuhrwerken“ (S, 52), so ist das wohl zu verstehen, sollen die Leser*innen den partnerschaftlichen Dialog mit dem Kritiker möglichst für sich führen – was für letzteren vielleicht auch den Vorteil hat, im Zweifel von diesem Dialog weitestgehend verschont zu bleiben.

Diese Sorgen bezüglich einer (online) schreibenden Leser*innenschaft können als Anzeichen einer generellen Aversion gegenüber der Pluralisierung des Über-Theater-Sprechens und Theater-Machens verstanden werden, die Stadelmaiers Polemik prägt. So greift der Kritiker auf Ebene der Theaterproduktion die einflussreiche ‚Talentschmiede‘ der Gießener Angewandten Theaterwissenschaft an und bezeichnet das Institut, aus dem in den letzten Jahrzehnten inzwischen etablierte und einflussreiche Theatermacher*innen wie René Pollesch, Gob Squad, Rimini Protokoll oder She She Pop hervorgegangen sind, als „Szenenverkopfungsfabrik“, in der „Drama und Schauspieler nichts mehr gelten“ (S. 72). Gegen einen „lieb- und bildungslose[n]“ (S. 123) ‚Stückezerschlager‘ setzt Stadelmaier das Idealbild eines Regisseurs als „Diener der Dichter“ (S. 110), das Publikum, das dieses folglich vom Text her gedachte und beurteilte Theater richtig begreifen möchte, braucht dazu „ein lesendes, nachlesendes und sich darin phantasierend vertiefendes Herz“ (S. 123).

Sehr deutlich spricht aus den Seiten von Regisseurstheater das Selbstverständnis eines einflussreichen Kritikerpapstes, der sich kompetent und befähigt fühlt, nicht nur über ‚richtiges‘ und ‚falsches‘ Theater zu entscheiden, sondern dieses ästhetische Urteil auch seinen Leser*innen zu vermitteln. Ebenso deutlich spricht hier aber auch ein Kritiker, der im Zeitungswesen groß geworden und für den Theaterkritik gleichbedeutend mit Zeitungsfeuilleton ist. Seine Kritik des ‚Zeitgeists 2016‘, seine Attacken gegen Blogger*innen, Twitter und das anonyme Internet wirken wie aus der Zeit gefallen, weil sie erkennbar in Widerspruch zur Lebensrealität der meisten Leser*innen stehen. Symptomatisch zeigt sich das, wenn Stadelmaier Theater und Zeitung als „die zwei bedeutenden Zeitgeistmaschinen […], die beide einen gewissen Bedeutungsschwund zwar hinzunehmen hatten und haben, aber immer auch noch ziemlich gesellschaftlich wirksam sind“, bezeichnet. (S. 36). Es geht an dieser Stelle nicht darum, Theater und Zeitung eine gesellschaftliche Wirkungsmacht grundsätzlich abzusprechen. Problematisch ist die hier skizzierte ideale kulturelle Modell-Öffentlichkeit von Theater und Zeitung im Jahr 2016, weil Stadelmaier über die Kommunikationsformen und gesellschaftlichen Wirkpotenziale des Internets in der Folge derart herablassend hinweggeht.

Es ist dabei zu vermuten, dass der Kritiker die pluralistischen Möglichkeiten zu Meinungsäußerung und -austausch, die das Internet bietet, keinesfalls übersieht oder auch nur unterschätzt. Viel eher scheint ein vielstimmiger und enthierarchisierter Dialog über Kunst und Kultur seinem Verständnis professioneller Theaterkritik grundlegend zu widersprechen. So gilt das, was Stadelmaier über das Theater festhält, auch für das Kritikerhandwerk: Wird es zum „Mitmach- und Mitspielgewerbe“ nach dem Motto „Keiner bleibt draußen“, verliert es seine Daseinsberechtigung. (S. 73)

In diesem Sinne ist es wegweisend, dass sich der Theaterskandal zehn Jahre vor Regisseurstheater gerade an einem Spiralblock entzündete, dem analogen Erkennungszeichen des Theaterkritikers also, das ihn aus der Menge des Publikums heraushebt und auf dem er den Prozess vorbereitet, der das performative Bühnengeschehen in die lineare Textlogik der Rezension überführt. An einem Schreibblock, der im Theatersaal als Kennzeichen professioneller Theaterkritiker*innen Autorität spendet, aber eben im digitalen Zeitalter gleichzeitig immer auch ein wenig aus der Zeit gefallen erscheint.

 

Der Kritiker als Bürger

Um ein Beispiel zu benennen, das er von seiner polemischen Kritik der gegenwärtigen Theaterlandschaft positiv absetzen kann, muss Gerhard Stadelmaier weit in die Vergangenheit gehen. Er findet es in der Mitte des 18. Jahrhunderts und damit zu der Zeit, in der sich nicht nur das heutige deutschsprachige Theatersystem, sondern mit dem vermehrten Aufkommen von gedruckten Periodika auch die deutschsprachige Theaterkritik formierte. Sozialhistorisch war diese Epoche vom ökonomischen und gesellschaftlichen Aufstieg des Bürgertums gekennzeichnet, das im Theater ein Versuchslabor fand, in dem es eigene Lebensentwürfe und Moralvorstellungen erproben und zumindest auf der Bühne auch durchsetzen konnte.

So wurde das Theater von Reformtheoretikern wie Johann Christoph Gottsched und Gotthold Ephraim Lessing für das Projekt einer bürgerlichen Aufklärung vereinnahmt und die von Friedrich Schiller gelobte „gute stehende Schaubühne“ als Sittenschule in den Dienst der Volkserziehung gestellt. Denn nicht nur das deutschsprachige Theater sollte im 18. Jahrhundert jenseits des Jahrmarktsbuden-Spektakels reisender Theatertruppen erneuert werden – auch das Publikum war zu einer aufmerksamen und gesitteten Rezeptionshaltung zu erziehen. Neben der Leistung der Schauspielenden findet sich deshalb in den Kritiken und programmatischen Essays der Zeit vor allem das Verhalten des Publikums während der Aufführung beurteilt: Die Formung des Theaters zur „einzige[n] Sittenschule für die Erwachsenen des Ersten und Mittelstandes“[2], als die es 1782 in der (durchaus zeittypisch-programmatisch benannten) Theaterzeitschrift Der dramatische Censor bezeichnet wurde, ist damit auch ein Anliegen der aufkommenden Theaterkritik.

Stadelmaier erkennt im Publikum des 18. Jahrhunderts jedoch weniger das Objekt ästhetischer Erziehungsmaßnahmen, sondern das „Glückskind eines glücklichen Zeitgeistes“ und einen „Partner des Kritikers“. Dadurch, dass letzterer sich die „Freiheit [nahm], in Kunstsachen seine Meinung zu sagen“, bereitete er auf dem Feld der Kultur letztlich die politische Willensbildung des Bürgertums vor: „Das Feuilleton wurde dergestalt zu einer Art Vorparlament“, (S. 55) der Kritiker zum Archetypus des Bürgers: „Im Kritiker trat der Bürger erst richtig in Erscheinung“. (S. 56) Das hier geschilderte Theater- und Feuilletonsystem im 18. Jahrhundert war damit seiner theoretischen Fundierung nach ein System des Theaterspielens und -kritisierens von Bürger*innen für Bürger*innen, das andere Bevölkerungsteile geradezu konzeptionell ausschloss. So empfiehlt auch der Dramatische Censor den deutschen Theatern, „mehr Zuschauer, besonders aus dem Bürgerstande, – nur auf diese Klasse kann sich ein stehendes Nationaltheater gründen – an sich zu ziehen“[3].

Diese Beschreibung des Theaters im 18. Jahrhundert entspricht jedoch eher bürgerlich-theaterreformatorischen Wunschvorstellungen der Zeit als der Praxis. Die deutschsprachigen Theater  wurden bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nahezu ausschließlich von den Fürsten protegiert, finanziert und nicht selten zensiert, was ein allzu freies Denken, Schreiben und Spielen erschwerte. Doch auch das Publikum war keineswegs gewillt, sich von Theater und Kritik zum besseren Menschen erziehen zu lassen: Es waren nicht so sehr die heute im aufklärerischen Theaterkanon fixierten Stücke, die den Geschmack der Zuschauer*innen zwischen 1750 und 1850 trafen und deshalb die Bühnen beherrschten. Der erfolgreiche Schauspieler und zeitweilige Theaterdirektor Friedrich Ludwig Schmidt – ein Praktiker, der es wissen muss –, erinnert sich beispielsweise in seinen Memoiren: „Außer dem Dichternamen ‚Schiller‘ bewirkte bei uns noch derjenige von ‚Goethe‘ und ‚Lessing‘ u n f e h l b a r ein leeres Haus“. – Dass diese Namen noch immer so viel bekannter als die von Charlotte Birch-Pfeiffer oder August Wilhelm Iffland sind, wäre eigene Reflexionen wert.

Für jetzt aber zurück zu dem Theater und der Theaterkritik, die Gerhard Stadelmaier in Regiesseurstheater als positives Gegenbild zum Zeitgeisttheater und der entprofessionalisierten Kritik des neuen Jahrtausends zeichnet. Dieses Gegenbild ist vor allem von zwei Merkmalen bestimmt: Zum einen von einem Theater, das stets vom Text her gedacht wird und die Inszenierung folglich als Umsetzung des Dramas begreift. Zum anderen von der Einbettung dieses Theaters in eine bildungsbürgerliche kulturelle Identitätspolitik, die mit der Bühne den Platz gefunden hat, eigene Lebensentwürfe zu propagieren und sich so vom Adel genauso wie von den unteren Bevölkerungsschichten abzugrenzen.

Das deutsche Stadttheatersystem wie auch die Theaterkritik wurden damit aus dem Geist eines Bürgertums geboren, für das gesamtgesellschaftliche Kohäsion nicht im Fokus der eigenen kulturpolitischen Bemühungen stand, da es zunächst selbst seinen wirtschaftlichen, kulturellen und in der Folge auch zunehmend politischen Platz in der Gesellschaft finden musste. Beim Blick auf dieses gemeinsame Erbe erscheint es kaum als Zufall, dass die Probleme, vor die sich das Stadttheatersystem aktuell gestellt sieht, in vielerlei Hinsicht die der Theaterkritik sind. Für die Theater lassen sich viele dieser Herausforderungen auf die Frage zuspitzen, wie die teuren Institutionen verhindern können, mit dem Kontakt zur Lebenswelt der diversen (Stadt-)Gesellschaft diese auch als Publikum zu verlieren. Wie die Theater auf entsprechende Problemstellungen reagieren, darüber wurde – von Stadtteilprojekten bis hin zum vergünstigten Eintrittspreis – viel geschrieben. Wie aber reagiert die Theaterkritik?

 

Der kritische Dialog

Die Frage nach Anpassungs- und Erneuerungstendenzen der Theaterkritik führt noch ein letztes Mal zurück zur Spiralblockaffäre. Denn ihre für das deutschsprachige Theaterfeuilleton vermutlich bedeutendste mittelbare Folge sollte sich erst ein Jahr später zeigen, als 2007 das Branchenportal nachtkritik.de antrat, den deutschsprachigen Zeitungen zu zeigen, wie Theaterkritik im digitalen Umfeld funktionieren kann. Die Journalistin Esther Slevogt, die das Portal gemeinsam mit Petra Kohse, Nikolaus Merck, Dirk Pilz und Konrad von Homeyer gründete, beschrieb in einem Interview mit dctp die Spiralblockaffäre als unmittelbaren Auslöser für ihre Bemühungen um eine neue Form von Theaterkritik: „Da war für mich ein Punkt erreicht, an dem ich dachte, man muss die Einbahnstraße Theaterkritik für den Gegenverkehr freigeben.“

Der Plan von nachtkritik.de war also die Pluralisierung des kritischen Diskurses über das Theater, die Ersetzung des einen Kritikers durch den kritischen Dialog. Die typischerweise am Morgen nach der Premiere erscheinende Kritik soll also gerade nicht als abschließendes Verdikt über eine Inszenierung verstanden werden, sondern im Gegenteil als „Beginn eines künstlerischen Gesprächs über eine Arbeit“. In der Strukturlogik des Internets kann deshalb jede Kritik und jeder Essay, der auf dem Portal publiziert wird, von den Leser*innen kommentiert werden, die Rückbindung an das Zeitungsfeuilleton bleibt durch eine Presseschau gewahrt, die am Ende jeder Kritik beständig erweitert wird. Diese Kritiken selbst, darauf legt die Redaktion wert, sind jedoch Texte, die nicht „wild […] gebloggt“, sondern von bezahlten Autor*innen geschrieben und von einer Fachredaktion redigiert werden. Somit ist die textuelle Verfasstheit der Gattung Theaterkritik nicht angetastet, aber durch die Möglichkeit zu Repliken und (Gegen-)Kritiken der Leser*innen diskursiv anders gerahmt.

Über zehn Jahre nach der Gründung ist inzwischen klar, dass das Branchenportal so erfolgreich wie einflussreich ist. Längst finden sich dort nicht mehr nur Kritiken, sondern unter vielem anderen auch Essays zu aktuellen Entwicklungen, Buchbesprechungen und verschiedene Themendossiers. Die Redaktion zeigt immer wieder die Vorteile auf, die eine technisch wie konzeptionell wendige digitale Plattform gegenüber den Schlachtschiffen des Zeitungsfeuilletons hat. So sammelte nachtkritik.de schon ab Beginn der coronabedingten Theaterschließungen systematisch Online-Angebote der Theater und initiierte spezifische Streaming-Events inklusive begleitendem Chat mit den Regisseur*innen. Aus einem Kritik-Portal wurde eine reichweitenstarke Netz-Heimat für Theater in all seinen Facetten. Dass Kritiker*innen, die ihre Texte vorwiegend im Internet veröffentlichen, inzwischen ganz selbstverständlich Pressekarten in den Theatern erhalten und in großen Theaterjurys sitzen, verdanken sie nicht zuletzt dieser digitalen Pionierarbeit.

Aber die Geschichte von nachtkritik.de zeigt auch, dass der plurale und diverse Theater-Diskurs im Netz krisenanfälliger ist als die vielleicht immer kleiner werdende, aber eben doch noch nicht ganz gestrichene Feuilletonsparte in den Redaktionen. Wenn wie während der Pandemie Werbebanner wegbrechen, sind mit viel Herzblut, aber ohne große finanzielle Reserven und Absicherungen geführte digitale Portale schnell existenziell bedroht.

Theaterkritik im Netz kann also die Zeitungskritik – die gerade natürlich ihre eigenen Probleme hat – nicht ersetzen, aber sehr wohl ergänzen. Doch gerade deshalb sollte sie sich auf ihre medienspezifischen Stärken noch grundsätzlicher besinnen und Pluralität nicht nur als Einbettung der Kritik in den Diskurs einer Netzöffentlichkeit denken, sondern auch formale Konsequenzen ziehen. Warum beispielsweise derart an der textuellen Verfasstheit der Gattung Theaterkritik festhalten, statt die mediale Vielfalt des Internets auch für eine neue Art des Kritisierens von Theater nutzbar zu machen? Erste Schritte auf diesem Weg zeigt beispielsweise Berit Glanz’ Rezension eines Theaterabends in Notizheft-Tweets. Diese wurden zwar nicht alle live während der Vorstellung getwittert, aber eben doch nachträglich ohne größere textuelle Überarbeitung in Tweet-Form auf nachtkritik.de veröffentlicht.

Orientieren könnten sich derartige Bemühungen weiterhin an der Literaturkritik: Längst werden hier Rezensionen zu neuen Romanen nicht mehr nur textuell auf Blogs publiziert, sondern auch auf anderen sozialen Plattformen tummeln sich Lesebegeisterte, die gleichzeitig literatur- und medienaffin sind. Wie klug und reichweitenstark eine medial diverse Präsentation von Literatur sein kann, beweist zum Beispiel die Redakteurin und Moderatorin Miriam Zeh auf ihrem instagram-Kanal, wo sie „Feuilleton, nur fancy“ betreibt. Ihre Videoclips verbinden Film, Bild und Text zu Besprechungen, die natürlich knapper ausfallen als Zeitungsrezensionen – dafür aber auch eine ganz andere Rezipient*innenengruppe erreichen. Auch auf youtube nutzen Buchhändler*innen und andere Enthusiast*innen als Booktuber teils mit Follower*innenzahlen im fünfstelligen Bereich die Videoplattform für ihre Besprechungen und Features. Versuche, dieses Medium auch für die Theaterkritik zu erschließen, wie sie beispielsweise die Theater-Pilger unternehmen, sind dagegen – noch! – Ausnahmen.

Bei der Bestimmung des aktuellen Ortes der Theaterkritik geht es also keinesfalls um einen reinen Umzug vom Spiralblock in den Blog. Vielmehr steht die Gattung vor der Aufgabe, sich nicht nur hinsichtlich einer größeren Dialogfähigkeit, sondern auch in ihren medialen Mitteln und Strukturen zu verändern: Sie muss gerade die digitalen Orte erobern, an denen die ‚aleatorischen Publizist*innen fuhrwerken‘, die Stadelmaier ein Dorn im Auge sind, und den „allgemeinen elektronischen Stammtisch-Sumpf des Jeder-darf-mal-Postens und Senf-dazu-Gebens“ (S. 39) produktiv erschließen, vor dem der Feuilletonist so nachdrücklich warnt.

Es ist an der Zeit, den Spiralblock nicht nur als Insignie des allmächtigen Kritikers, sondern auch als Zeichen für die grundsätzliche textuelle Verfasstheit der Kritik zu verabschieden. Das heißt nicht, dass es keinen Platz mehr für die geschliffenen Verrisse oder Apotheosen des Zeitungsfeuilletons geben soll. Es heißt aber, dass das Kritisieren und Diskutieren von Theater als gesellschaftlich relevante Kunst überall dort stattfinden muss, wo Gesellschaft diskutierend zusammenkommt. Wie das Theater braucht auch die Theaterkritik also viele Orte – und Formen.

 

[1] Gerhard Stadelmaier: Regisseurstheater. Auf den Bühnen des Zeitgeists, Springe 2016. Alle Zitatnachweise in der Folge direkt in Klammern.

[2] Anonymus: „An das Parterre“, in: Der dramatische Censor Christmonat (1782), H. 3, S. 97-121, hier: S. 100.

[3] Anonymus: „An das Parterre. (Fortsetzung)“, in: Der dramatische Censor Januarius (1783), H. 4, S. 145-158, hier: S. 157.

 

 

Photo by Steve Johnson on Unsplash

Cool for you? – Die “coole” Lesbe in der Literatur [Queering Literaturbetrieb]

Queering Literaturbetrieb
In den letzten Jahren ist ein Trend queerer Literatur auszumachen, in Übersetzung feiern Autor*innen wie Ocean Vuong, Maggie Nelson oder Edouard Louis große Erfolge. Dennoch haben queere Autor*innen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, aber auch im Literaturbetrieb, immer noch zu wenig Präsenz und Mitspracherecht. Diskriminierung, Sexismus, LGBTIQ+-Feindlichkeiten und Ignoranz gehören leider weiterhin zum Alltag. Die neue Kolumne Queering Literaturbetrieb widmet sich in kurzen Essays den Dissonanzen zwischen Literaturproduktion und Verlagswesen. Sie fragt nach dringlichen Themen und Diskursen innerhalb der Gruppe der queeren Schreibenden. Eva Tepest, Katja Anton Cronauer, Kevin Junk und Alexander Graeff haben sich als Autor*innen zusammengeschlossen, um mit dieser neuen Kolumne den aktuellen Wasserstand der queeren, deutschsprachigen Literatur auszuloten. Sie wollen mit ihren Essays individuelle Erfahrungen aus den verschiedenen Berufs- und Lebensrealitäten zusammentragen und zugleich ein größeres Bild von aktuellen Chancen, Ambivalenzen und Missständen aufzeigen.

 

eine Kolumne von Eva Tepest

 

Ich fragte vor ein paar Wochen in eine queere Runde, ob Lesben jemals cool waren. Der Anlass für diese Frage war der Text Scaling Hotness to life von Maxi Wallenhorst, die mir gegenüber auf dem Balkon saß.  In dem Text hatte sie eloquent dargelegt, dass die aktuelle Hotness einer bestimmten Art von trans Literatur, komplexe trans Realitäten reduziert, auf eine Kurzformel für “countless other things that are vaguely boundary-crossing, vaguely intense”.

Vielleicht in den frühen 90ern, beantwortete ich meine eigene Frage, vielleicht waren die punkigen Motorrad-Lesben in Großbritannien, vielleicht die US-amerikanischen Butches und Dykes to watch out for kulturelle Ikonen ihrer Zeit. Doch trotz dieser Beispiele, blieb eine Frage: Warum gibt es im deutschsprachigen Literatur-Mainstream, im Kulturbetrieb, really, keine coolen Lesben?

Ich erinnere mich an die lesbische Literatur der 00er- und 10er-Jahre: Mirjam Müntefering, Flug ins Apricot; Mein lesbisches Auge 7: Das lesbische Jahrbuch der Erotik. Zusammen mit The L Word, einer Raubkopie des Pornos One Night Stand und Hella von Sinnen war das so ziemlich alles, dessen ich an lesbischer Popkultur habhaft werden konnte.

Dabei las ich schon seit meinen Tweens alles, was mir an queerer Literatur in die Hände fiel: Maurice von Edward M. Forster, Klaus Manns Mephisto, Anne Carson, Die Autobiographie von Rot. Ich las also von spätviktorianischen Middle-Class-Engländern, von homosexuellen Karrieristen im Dritten Reich, von in Herkules verliebten, geflügelten Jünglingen, aber nicht von coolen Lesben. Warum ist das so, warum schien es an dieser Stelle eine Lücke zu geben?

Ich möchte zu meiner Verteidigung meine Perspektive auf “Coolness” skizzieren. Dazu muss ich über Eileen Myles schreiben. Der/die Autor*in, Lyriker*in, Aktivist*in ist für mich die Quintessenz des coolen Kids: Auf dem Cover des Buchs Cool for you fläzt Myles breitbeinig auf einem Stuhl, Zigarette in der Hand, Blick frontal in die Kamera. “Wahrscheinlich basieren 75% meiner Performance von Männlichkeit auf dem Bild von Eileen Myles auf dem Cover dieses Buches”, schreibt ein User auf der Review-Plattform goodreads. In den letzten fünf Jahrzehnten hat Myles über zwanzig Bücher veröffentlicht, darunter ein Buch über ihren/seinen verstorbenen Hund und die besten Beschreibungen von lesbischem Sex, die ich kenne (z. B. in Chelsea Girls und Inferno).  Im Interview flirten alle Moderatorinnen mit Myles. Erklärtermaßen lesbisch und nicht-binär, ist Myles Sexiness unabhängig vom männlichen Blick. Cool ist, vor allem, hot.

Myles’ Blick legt die Logistik unserer Gegenwart offen. Ein Fünftel von Myles’ Instagramfeed ist food content: Meist Becher mit schwarzem Kaffee oder Eier (gekocht, sunny side up, mit und ohne Toast). Dazu Doughnuts und schwarzer Tee mit Milch, manchmal Äpfel. Myles legt die materiellen Voraussetzungen des Schreibens offen, den Lebensunterhalt, die Textur der Routinen. Es ist cool, eine überzeugende Vision des Alltags für diejenigen zu bieten, für die es angesichts von Rassimus und Sexismus, von Ausbeutung und Klimakatastrophe, keine Normalität gab, zu der man zurückkehren könnte.

Aufgewachsen in einem working-class Haushalt bei Harvard fehlten Myles nicht nur das Geld, sondern auch Wissen und Habitus, um zu checken, wie der Kulturbetrieb läuft. In der New Yorker Lyrikszene der 70er Jahre war jeder männlich und mindestens middle-, wenn nicht gar upper-class. Über fünf Jahrzehnte schickte Myles Gedichte an den New Yorker, ohne Erfolg. Im Wahlkampf um die amerikanische Präsidentschaft 1992 erklärte Myles gegen George Bush (Sen.) antreten zu wollen und begründete diesen Schritt damit, weit mehr Menschen zu repräsentieren als der amtierende US-Präsident. Im Rahmen der radikal linken und poetischen Präsidentschaftskampagne “Write in Myles for President” erklärte Myles noch nie mehr als 25.000 Dollar im Jahr verdient zu haben und noch nie krankenversichert gewesen zu sein. Im Anschreiben der dazugehörigen Briefwahlkampagne steht Myles’ Gedicht Wallpaper Bankrupty Sale, gefolgt von der Entschuldigung, dass das Ganze “zugegebenermaßen ziemlich melancholisch ist”. Coolness ist ernsthaft ironisch. Coolness ist, die eigenen politics bierernst zu meinen und sie spielerisch zu schultern. Diese ganze Kolumne könnte eine Ausrede sein, um von Eileen Myles zu schwärmen.

Ich muss gestehen: Ich selbst finde “Lesben” uncool. Das fängt schon bei dem Wort “lesbisch” an. In Gesprächen verwende ich häufiger “queer”, “Dyke” oder “gay”. Zum Teil liegt das daran, dass ein Teil der radikalen FrauenLesben-Bewegung hierzulande ebenso wie der radical feminists in den USA bis heute durch seine Trans- und Queerfeindlichkeit besticht.

Doch es gibt, zumindest in mir, auch lesbenfeindliche Vorurteile. Den Teil, der beim Wort “lesbisch” an Wanderschuhe (nicht diese schwarzen, unlängst coolen, sondern solche) und den Begriff lesbian bed death denkt, den Mythos, dass lesbische Paare weniger Sex als andere hätten; oder mein 17-jähriges Ich, die sich die Haare ganz kurz schnitt und sich auf Drängen ihres Umfeldes mit hohen Schuhen, großen Ohrringen und roten Lippenstiften eindeckte, um weiblich genug zu wirken. Die phobische Zangenbewegung sitzt tief: Denn Lesben sind gesellschaftlichen Vorurteilen zufolge zu männlich (und damit eine Gefahr für die Geschlechterbinarität) oder, da zwei (oder mehr) Frauen auf einmal, zu weiblich (und haben damit keinen Spaß, keinen Humor und ganz bestimmt keinen aufregenden Sex). Das alles behauptet auch: Lesben sind uncool. Ich werde im weiteren Verlauf dieser Kolumne üben, “lesbisch” zu schreiben.

Ich brauche selbstbewusste lesbische Vorbilder. Warum finde ich my lesbian cool in erster Linie in englischsprachigen Kontexten?

Ich behaupte, dass es schwer ist, coole lesbische Literatur zu schreiben. Ein queerer Verleger erzählte mir neulich, dass lesbische Autor*innen sich häufiger “doch nicht trauten”, ein bereits bestelltes Buch abzuliefern. Well.

Es ist mühsam, sich eine Leichtigkeit zu erschreiben, wenn du mehrfach diskriminiert bist, als queere Frau, als Lesbe of colour, als trans Dyke, als nicht-binäre lesbische Femme. Ein selbstbestimmter Umgang mit Sexualität ist heikel, wenn lesbische Sexualität häufig eine Vorlage für männliche Fantasien ist: Es gibt, mit Maggie Nelson gesprochen, keine Blaupause für emanzipierte Sexualität, und alle kleinen Mädchen bekommen vorgelebt, dass Sex unkonsensuelle Unterwerfung ist. Wie sollen wir diesem Kontext leichtfüßiges loving licking lying, eine lesbische Lebensrealität  schreibend abringen?

Ich klage dennoch an: Ich kann nicht akzeptieren, dass es so wenige lesbische Titel im deutschsprachigen Verlagsprogramm gibt – von Nischenverlagen einmal abgesehen.

Ein paar Belege: Unter den 200 Titeln auf den Longlists des Deutschen Buchpreises aus den vergangenen zehn Jahren finden sich lediglich vier Titel mit lesbischen Referenzen (wenn auch nicht gerade Hauptfiguren), Sasha Marianna Salzmanns Außer sich, Antje Ravic Strubels Sturz der Tage in die Nacht, Olga Grjasnovwa, Der Russe ist einer, der Birken liebt und in diesem Jahr Olivia Wenzels 1000 Serpentinen Angst. In den aktuellen Herbstprogrammen der großen deutschen Verlage Suhrkamp, Ullstein, S. Fischer, Aufbau, Hanser, Matthes & Seitz und Rowohlt findet sich als einziges Prosawerk mit lesbischen Bezügen Ronya Othmanns Die Sommer. [1]

Und das gilt nicht nur für deutschsprachige Literatur, auch mit Übersetzungen sieht es hierzulande kaum besser aus. Und das gilt leider oft auch für die Qualität der Übertragung. Erst vor Kurzem wurde das erste Werk von Eileen Myles ins Deutsche übertragen. In der Übersetzung von Dieter Fuchs steht für “Dyke” der Begriff “Kampflesbe”. Und während Sally Rooneys Normcore-Romane Normale Menschen und Gespräche unter Freunden in Windeseile übersetzt wurden, steht eine deutsche Fassung von Bernardine Evaristos fantastischem Girl, Woman, Other noch aus, ebenso wie von Women (Chloe Caldwell) und vielen anderen.

Es gibt sie, die coolen, erfolgreichen lesbische Autor*innen, die auf deutsch schreiben, es gibt Ronya Othmann und Helene Hegemann, aber es müssten doch so viel mehr sein, die es in den literarischen Mainstream schaffen. Ich brauche mehr. “Als ich in den 70er Jahren nach New York kam, wusste ich nicht, dass ich lesbisch bin…. Ich war homophob oder ängstlich – ich wollte einfach keine Lesbe sein”, schreibt Eileen Myles im Essay The Lesbian Poet. “Es gab auch keine Frau in diesem Kreis von Dichtern, die mich empfangen und mir mitteilen konnte, dass ich gehört wurde. Ich fertigte das Modell von dem an, was ich dort sein musste. Ich habe lesbische Inhalte in die Lyrik der New York School aufgenommen, weil ich wollte, dass das Gedicht da ist, um mich zu empfangen.” Lasst uns unser eigenes Modell sein.

 

[1] Dazu erscheinen bei Hanser unter dem Titel Susan Sontag Wie wir jetzt leben auch Susan Sontags Kurzgeschichten, aber die sind frei von expliziten lesbischen Bezügen, was angesichts von Sontags Haltung, dass homosexuelle Beziehungen “nicht valide” sind, nicht verwundert.

 

Photo by Phước Lộc on Unsplash

[Atelier NRW] Ans Ende schreiben: Die Autofiktion und ihr Verhältnis zum Tod

Im vergangenen Oktober trafen sich sechs Autorinnen und Autoren aus Nordrhein-Westfalen im Gräflichen Park Bad Driburg zu dem dreitägigen Symposium Atelier NRW. Aus den Vorträgen und geführten Gesprächen sind Essays entstanden, die einmal im Monat auf 54books veröffentlicht werden.

Einleitung von Dorian Steinhoff
Über das Leben der Ideen im Verborgenen von Sabrina Janesch
Nabelschau von Yannic Han Biao Federer

Von Gunther Geltinger

I.

Die geistigen Strömungen einer Epoche geben der Literatur, die aus dieser hervorgeht, ihre Namen. Die Aufklärung schafft mit dem Sturm und Drang den Topos des Genies als Urbild des höheren Menschen. Die neue Empfindsamkeit des literarischen Helden führt in der Romantik zur Hinwendung an den Traum und an das Magische der Natur. Dem erteilt der Realismus eine Absage und erklärt die Wirklichkeit zur unbedingten literarischen Referenz, von den Schreibenden wird Objektivität und Wissenschaftlichkeit verlangt. Der Schock des ersten Weltkriegs sprengt die bürgerliche Ästhetik, die Expressionisten wenden sich den seelischen und gesellschaftlichen Deformationen zu. In Frankreich zerschlägt der Poststrukturalismus die Entität des erzählenden Subjekts, Roland Barthes proklamiert in seinem Essay den Tod des Autors und schafft damit eine Rezeptionsfigur, die den literarischen Text von seinem Urheber als Bezugspunkt der Interpretation befreien und die Lektüre selbst in diese Schlüsselposition heben soll: Der Tod des Autors ist der Preis für die »Geburt des Lesers«, der alle kulturellen Spuren, aus denen sich ein Text zusammenfügt, vereinigt.

In der Verbannung der Person des Autors aus dem literarischen Werk sieht Roland Barthes’ Zeitgenosse Michel Foucault eine Verwandtschaft des Schreibens mit dem Tod: Im griechischen Epos stirbt der Held jung, damit sein durch den Tod erhöhtes Leben in die Unsterblichkeit eingehe. Auch den Geschichten aus Tausendundeine Nacht diene das Nichtsterben als Motivation und Vorwand des Erzählens: »[M]an erzählte bis zum Morgengrauen, um dem Tod auszuweichen, um die Frist hinauszuschieben, die dem Erzähler den Mund schließen sollte.« In der heutigen Kultur erfährt das Erzählen, das den Tod aus dem Leben fernhalten soll, einen Bedeutungswandel. Es sei nun »an das Opfer gebunden, selbst an das Opfer des Lebens; an das freiwillige Auslöschen, das in den Büchern nicht dargestellt werden soll, da es im Leben des Schriftstellers selbst sich vollzieht. Das Werk, das die Aufgabe hatte, unsterblich zu machen, hat das Recht erhalten, zu töten, seinen Autor umzubringen.«

Die Theorien der Subjektkritiker müssen vor dem Hintergrund der französischen Erzähltradition gelesen werden, die sich in den 1950erjahren mit dem Aufkommen des Nouveau Roman und dessen grundlegender Skepsis gegenüber personell gebundenen Wirklichkeitsbildern von der Biographie des Autors und ihrem Einfluss auf das literarische Werk abwendete. Ausgerechnet Roland Barthes veröffentlichte zehn Jahre nach Erscheinen seines Essays eine – sogar bebilderte – Autobiographie mit dem Titel Roland Barthes par Roland Barthes (deutsch: Roland Barthes, Über mich selbst), in der sich der Erzähler aus Fragmenten und Momentaufnahmen seines Lebens zu einem fiktiven Subjekt zusammenfügt – wie sich vielleicht grundsätzlich eine literarische Epoche dadurch ans Ende schreibt, dass sie zu ihren Ausgangspositionen zurückgehrt und diese unter den Maßgaben des Zeitgeists neu erfindet: In Frankreich in den Achtzigerjahren, im deutschsprachigen Raum anderthalb Jahrzehnte später entwickelt sich aus dem autobiographischen Schreiben eine literarische Gattung mit neuem Namen: die Autofiktion.

Misst man eine literarische Strömung an ihrem kommerziellen und kulturellen Erfolg in der Zeit, in der sie wirkt, könnte die Autofiktion einmal als der Begriff gelten, der die Literatur des beginnenden 21. Jahrhunderts prägt. Sie ist der Neologismus einer Schreibweise, die bereits Augustinus in seinen Confessiones praktizierte, in deren Zentrum allerdings weniger die persönliche als die religiöse Erfahrung steht. So war auch Jean Jacques Rousseaus »Unternehmen, welches beispiellos dasteht und bei dem ich keinen Nachahmer finden werde«, nicht mehr ganz neu, als er 1765 in Bekenntnisse verkündete, der Welt »einen Mann in seiner ganzen Naturwahrheit [zu] zeigen«.

Von ihren linguistischen Konstituenten ausgehend, ist die Autobiographie das Ansinnen eines menschlichen Subjekts (autos), sein gelebtes Leben (bios) in einer Erzählung zu verschriftlichen (graphein). Philippe Lejeune definiert sie 1975 in Der autobiographische Pakt als »rückblickende[n] Bericht in Prosa, den eine wirkliche Person über ihr eigenes Leben erstellt«. Der »Pakt« mit dem Leser besteht in dessen Erwartung, dass Autor und Erzähler bzw. Hauptfigur identisch sind. In der zeitgenössischen Autofiktion, wie der Literaturwissenschaftler Peter Gasser sie beschreibt, gelten hingegen alle  Formen von Identität – einschließlich die des Autors – als fiktional: »Was Lebenssinn ist, ist nicht mehr in der Selbsterzählung eingeschrieben und zu entdecken, sondern erst durch das Erzählen zu erfinden, zu konstruieren und im dreifachen Sinne des lateinischen Verbs fingere zu formen, sich vorzustellen und zu erdichten.« An die Stelle der Hauptfigur, die für die »Wahrheit« des Erzählten bürgt, tritt der Schreibprozess selbst, in dem sich Autor und Figur gegenseitig bespiegeln.

In der Metaisierung wird die Diskrepanz zwischen gelebtem und geschriebenem Leben zu einer sprachlichen Inszenierung der eigenen Absenz. Der oder die Schreibende zieht sich aus seiner/ihrer Biographie an einen Ort zurück, der nur im Text selbst sichtbar wird: Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux, eine der bekanntesten Vertreterinnen des zeitgenössischen autobiographischen Schreibens, erforscht in ihrer Erzählung Erinnerung eines Mädchens den »Abgrund […] zwischen der ungeheuren Wirklichkeit des Geschehens in dem Moment, in dem es geschieht, und der merkwürdigen Unwirklichkeit, die dieses Geschehen Jahre später annimmt.« Ausgangspunkt dieser Selbsterkundung ist hier eine tief empfundene Unfähigkeit der Erzählerin, über das sexuelle Trauma zu schreiben, das ihr als Mädchen widerfahren ist. Der Gedanke, dieses Mädchen könnte aus dem Bewusstsein der Welt verschwinden, wird zum Motor eines Schreibprozesses, der sich an der Vorstellung des eigenen Todes entzündet:

»Die Zeit vor mir wird kürzer. Irgendwann wird es ein letztes Buch geben, so wie es einen letzten Geliebten gibt und einen letzten Frühling, aber vorher deutet nichts darauf hin. Der Gedanke, ich könnte sterben, ohne über das Mädchen geschrieben zu haben, das ich sehr früh »das Mädchen von 58« genannt habe, lässt mir keine Ruhe. Eines Tages wird es niemanden mehr geben, der sich erinnert. Das, was dieses Mädchen erlebt hat, niemand sonst, wird unerklärt bleiben, umsonst gelebt.«

Ernaux dezentralisiert in diesem Text das erzählende Ich durch wechselnde Perspektiven, historische Reflexionen und Einschübe wie Chansontexte und Erinnerungen an Lektüren. »[D]as Kennzeichen des Schriftstellers«, schreibt Michel Foucault in seinem Aufsatz Was ist ein Autor? »ist nur noch die Einmaligkeit seiner Abwesenheit; er muss die Rolle des Toten im Schreib-Spiel übernehmen.« Das Ende des autobiographischen Erzählens ist Ernaux’ Text gleichsam intrinsisch eingeschrieben; stirbt die Erzählerin, wird das Erinnern auf die Leserinnen und Leser übertragen, es wird Aufgabe einer Gesellschaft oder einer ganzen Kultur. Erinnerung eines Mädchens wird so zu einer Art Soziologie sexueller Gewalt und Kulturgeschichte der Scham. Der antizipierte Tod der Erzählerin bildet die Membran, an der das Autobiographische in die Allgemeingültigkeit des literarischen Texts übergeht.

Versucht man, eine Ökonomie der Autofiktion zu beschreiben, ein System aus einem Soll und einem Haben an Leben, nährt sie sich aus dem Defizit, aus einem grundsätzlichen Fehlen des Lebendigen, das durch die Kraft der Imagination zu literarischer Fülle wird. Autofiktion entsteht ex negativo, aus der Unmöglichkeit, ein Leben zu erzählen oder es überhaupt erst zu führen, sie entsteht aus dem Versagen des Erinnerns, aus einem Mangel an Lebenssinn oder an Liebe, aus der Sprachlosigkeit. Das schreibende Ich wird produktiv, indem es das physische aufzehrt, das eine gelingt durch das Scheitern des anderen, die Fiktion wächst an, das Leben schwindet, eine Dichotomie von Schöpfen und Erschöpfung, im steten Widerspruch mit der Zeit, wie Augustinus ihn beschreibt: »Wenn also die gegenwärtige Zeit nur dadurch Zeit wird, daß sie in Vergangenheit übergeht, wie können wir dann sagen, sie sei, da doch der Grund ihres Seins der ist, daß sie nicht sein wird?«

Im Moment ihrer Entstehung verwandelt sich die Autofiktion in ein postumes Werk; sie kondensiert aus der biographischen Vergangenheit eine erzählerische Gegenwart, die während der Niederschrift von der Lebenszeit eingeholt wird.

»Ich habe mich bisher nicht umgebracht also sucht nicht nach/ früheren Fällen/ Was bis jetzt geschah war erst der Anfang/«. In 4.48 Psychose, dem letzten Theaterstück der britischen Dramatikerin Sarah Kane, gibt es keine Personenbezeichnungen und keine Hinweise auf Lebensläufe, nur die Zustandsbeschreibungen eines namenlosen Ichs. Der Text handelt von einer psychischen Erkrankung, die im realen Leben der Autorin zum Suizid führte: »Bitte schneidet mich nicht auf um herauszufinden woran ich/ gestorben bin/ Ich werde euch sagen woran ich starb/ Einhundertfünfzig Lofepramin, fünfundvierzig Zopiclon/ fünfundzwanzig Temazepam und zwanzig Melleril/«.

Zum Zeitpunkt der Uraufführung des Stücks im Jahr 2000 war Sarah Kane bereits tot, und es ist diese Koinzidenz, die den Suizid der Autorin zur Folie für die Lesart des Texts machte – und 4.48 Psychose zu ihrem bekanntesten und meistgespielten Stück. Der Krieg des Bewusstseins, der darin in einer hochemotionalen Sprache nachgezeichnet wird, ist umso eindringlicher, als dass er keinem leidenden Subjekt zugeordnet werden kann. Der Austragungsort ist der Leser bzw. Zuhörer selbst, der den rhythmischen Monolog mit seinen dichten Bildern, den Zahlenfolgen und protokollarischen Notizen in das Leben der Autorin projiziert. Doch wer spricht in diesem Text? Wirklich Sarah Kane? Oder der an Depressionen leidende Theatergast, die psychotische Gesellschaft? Um 4.48 Uhr nachts, wenn die Wirkung der Medikamente nachlässt und »die Klarheit vorbeischaut«, ist das Ich »für eine Stunde und zwölf Minuten […] ganz bei Vernunft« – und schreibt. »Um 4 Uhr 48« heißt es, »werde ich schlafen«. Auf die Frage, ob der Tod der damals achtundzwanzigjährigen Autorin Teil der Poetologie dieses Stückes sein sollte, wird es keine Antwort mehr geben. Welchen Stellenwert hätte es in Sarah Kanes Biographie, wenn es nicht ihr letztes gewesen wäre? So hat das Werk die Autorin ans Ende geschrieben, und nicht umgekehrt.

Wie Tod und Schreiben sich gegenseitig formen, zeigt auch der Roman Le livre brisé des Autors Serge Doubrovsky, der in Frankreich als der Begründer der „l’autofiction“ gilt. Der Ich-Erzähler Serge versucht sich eine prägende Episode aus seiner Kindheit ins Gedächtnis zu rufen und stellt fest, dass er auf elementare Bestandteile seines Lebens nicht zurückgreifen kann. Stattdessen beschäftigt er sich – wie schon in den vorherigen Romanen Doubrovskys – mit der Rekonstruktion seiner Liebesbeziehungen. Hier greift Doubrovkys Frau Ilse in den Schreibprozess ein: Sie fordert von ihrem Mann einen Roman, in der ihr selbst, nicht einer anderen Frau, die zentrale Rolle zukommt. Ab hier wird der Roman zur kritischen Auseinandersetzung zwischen Serge und Ilse, die nun ihre eigenen Erinnerungen als Co-Autorin des Texts gegen die ihres Mannes stellt: eine schonungslose Analyse ihrer Beziehung, die auch Ilses Depressionen und ihr Versinken im Alkoholismus zur Sprache bringt. Serges und Ilses Leben ereignet sich von nun an parallel zum Schreiben, und umgekehrt: »Elle s’était lancé ce défi allègre et douloureux: que nous entrions ensemble, vivants, dans l’écriture.«[1]

Der letzte Teil des Romans eröffnet mit Ilses Tod. Sie hat sich – im realen Leben des Serge Doubrovksy – in Paris das Leben genommen, während er selbst in New York weilte. Serge versucht das Unfassbare dieser Tat zu verarbeiten und kommt, nicht ganz frei von Larmoyanz, zur Einsicht, dass es seiner Frau Ilse gelungen sei, durch ihren Tod sowohl die Einheit des Romans als auch die seines Autors Doubrovsky zu zerbrechen: »Je ne perçois pas du tout ma vie comme un tout, mais comme des fragments èpars, des niveaux d’existence brisé.« [2] Serge Doubrovsky beteuert im Roman und öffentlich seine Unschuld am Tod seiner Frau, wiederum fallen Fakten und Fiktion zusammen – medienwirksam. Der als Provokation verfasste Text polarisiert, überschreitet Schamgrenzen und wird mit dem Prix Mèdicis ausgezeichnet. Es bleibt streitbar, ob der Erfolg des Romans auf seine formale Radikalität oder auf den Skandal zurückzuführen ist, den er aus- beziehungsweise einlöste – als ein Pfand des Textes an das Leben. »Die Literatur handelt, das Buch kann töten«, fasst Ivan Farron in seinem 2003 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen Artikel Fallen der Vorstellungskraft, einer kritischen Auseinandersetzung mit der Gattung der Autofiktion, die Wirkung des Romans zusammen. Er wirft die Frage auf, ob Le livre brisé, statt eine Form zu finden, in der das in sie Eingegangene über sich selbst hinausweist, nicht vielmehr exemplarisch die »Opfer fordernde und kannibalische Seite« der Autobiographie illustriere.

Frank Reiser, Romanist an der Universität Freiburg, formuliert es in seiner Analyse des Romans anders: Er sieht die Herausforderungen eingelöst, die die Postmoderne an das autobiographische Schreiben stellt. In Doubrovkys Roman zeige sich der »schmerzhafte Verlust totalisierender Mimesis eines Lebens« gerade dadurch, dass der von Ilses Tod erzeugte Bruch im zweiten Teil des Romans das Scheitern des autofiktionalen Projekts markiert und die angestrebte »lebendige Erzählung« zu einer Art »Thanatografie« verkehrt. Die Selbstdarstellung findet hier nicht mehr im geschützten Bereich der Autobiographie statt, sondern im vielstimmigen Dialog mit einem vom Tod erschütterten Außen: »Die Moderne hätte sich wohl auch des literarischen Scheiterns schuldig gemacht, nicht aber eines Todesfalls.«

Für Peter Gasser belegt Serge Doubrovskys Gesamtwerk, dass die Autofiktion sich aus einem grundlegend produktiven Prinzip speist, dem Ansinnen des Schreibenden, in der Selbsterzählung ein anderer zu werden, als er ist. In ihrem vitalen Verweis auf eine vakante, noch zu erschaffende Existenz ist die Autofiktion per Gattungsbegriff ein Gegenentwurf zum Nichtsein. Und vielleicht liegt darin auch der derzeitige Erfolg einer Schreibweise begründet, die seit jeher praktiziert, von den Lebensbedingungen des 21. Jahrhunderts aber neu definiert wird. In einer Zeit, in der Identität – ob kulturelle, psychologische oder geschlechtliche – zunehmend als konstruiert gilt, lassen sich Lebensläufe nicht mehr in dem Maße als sinnstiftende Biographien darstellen wie noch vor hundert Jahren. Die Autobiographie des 21. Jahrhunderts steht im Kontrast zum Bildungs- und Entwicklungsroman, der die Geschichte eines Individuums linear und teleologisch erzählt, ausgerichtet auf ein möglicherweise metaphysisches Ziel. Diese Erzählung erfährt im ausklingenden 20. Jahrhundert einen Paradigmenwechsel. Die Kultur des Kapitalismus, so beschreibt es der amerikanische Soziologe Richard Sennett, erfordere den flexiblen Menschen, der sich allzeit neuen Aufgaben stellt und sich ständig wechselnden wirtschaftlichen Bedürfnissen bedingungslos anpasst. Seine Biographie habe nicht mehr die Qualität einer Erzählung, »bei der ein Ereignis zum nächsten führt und dieses bedingt.«

Ilma Rakusa verweist in ihrer Stefan-Zweig-Poetikvorlesung Autobiographisches Schreiben als Bildungsroman auf Henrik Karle Nielsen, der im Erfolg der literarisierten subjektiven Lebensgeschichte in der spätmodernen Gesellschaft den »Ausdruck eines allgemeinen, immer stärker akzentuierten Bedürfnisses nach selbstgeschaffenem Sinn und Kontinuität im Leben des Einzelnen« sieht. Je haltloser das Individuum in unserer Zeit werde, desto drängender auch sein Bedürfnis nach »kompensierender Gestaltung von Überblick und Verbindungslinien durch die Erzählung.«

Die Autofiktion schafft für dieses Bedürfnis ein Erfüllungsmodell, indem sie Biographie für ein schöpferisches literarisches Spiel mit der Endlichkeit des eigenen Lebens freigibt. Der unbedingte Wille, es durch Schrift zu gestalten, stellt die Nähe zum Tod her. In der nur gedachten Lebensfülle wird die Vergeblichkeit dieses Unterfangens sichtbar. Unsterblichkeit bleibt das Privileg der Götter. Aber wer schreibt, stirbt noch nicht.

II.

Noch immer bringt mich die Frage, was an meinen Büchern »ich« sei, in Verlegenheit. Nach drei Romanen mit autobiographischen Motiven (franz. motif: Beweggrund, Anlass), sollte ich eine professionelle Antwort parat haben, doch ich gerate ins Stottern. Nicht weil ich mich in der Öffentlichkeit oder vor einer fremden Person zu meinen Defiziten und Unzulänglichkeiten bekennen muss, was ohnehin zur täglichen Routine des Schreibens gehört. Auch fürchte ich nicht den Blick meines Gegenübers, in dem ich das Urteil über einen zu lesen glaube, der sich hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt, wo es doch in unserer Welt an allen Ecken und Enden brennt; die Welt brennt in mir, möchte ich dann erwidern, doch das würde abermals zu der Frage und diesem Blick führen – und so weiter. Die Frage selbst ist die Antwort, sie ist in ihrer rhetorischen Ausrichtung die autofiktionale Form, und es ist die Enttäuschung im Gesicht meines Gegenübers, die mich dann stocken lässt, die Beschämung über einen Dialog, der hier abzubrechen droht. Ein Moment der Fremdheit entsteht, der die Kluft zwischen mir und den anderen sichtbar macht. Mein Text, das wäre vielleicht eine Antwort, die zumindest einen Teil der Wahrheit trifft, ist ein Versuch der Annäherung.

Als Antwort auf die zweite häufig gestellte Frage, ob mein Schreiben eine Art Selbsttherapie sei, möchte ich hier Adolf Muschg aus seinen Frankfurter Poetikvorlesungen Literatur als Therapie? zitieren: »Das Schreiben hat mein Leben nicht entlastet. Es hat nur den Riss verdeutlicht, der durch meine Geschichte geht. […] Was an meiner Schreibarbeit entwicklungsfähig und auch für den Leser, wie es scheint, brauchbar geworden ist, lebt nun gerade vom mehr oder weniger dunklen Gefühl des Lebensmangels; des unzureichenden Kontaktes der Figuren zu sich selbst und zueinander.« Eine Therapie verleiht dem, was einen am Leben hindert, eine Form; im Sichtbarmachen des Verborgenen, im Prozess der Sprachfindung für das nicht Artikulierbare kann sie im besten Fall zum Leben befähigen. Mein Schreiben verhilft mir zu einer Sprache für das, was in meinem Leben unbewältigt bleibt, weil es sich den gangbaren Formen, der so genannten Wirklichkeit, entzieht: Liebe und Glück, Trauer und Trauma, der Tod. Form schafft nicht nur die Fähigkeit zur Reflexion, sie bildet auch einen Raum, der den anderen zur Partizipation einlädt. Durch die Imagination, die diesen Raum öffnet, kann das, was mir an mir selbst ohne diese Teilhabe unheilbar erscheint (und nichts ist unheilbarer als das Sterben), zu einer heilsamen Erfahrung werden, im besten Fall für mich und meine Leser*innen.

Ich bin an meinem Schreiben bisher weder genesen noch zugrunde gegangen. Was nicht ausschließt, dass mich bereits der nächste Satz in die eine oder in die andere Richtung lenkt. In meinen drei Romanen Mensch Engel, Moor und Benzin stehen die Protagonisten am Ende jeweils an dieser Weggabelung. Gut möglich, dass Leonard Engel hinter dem Doppelpunkt des letzten Satzes, mit dem er ankündigt, weiterhin um sein Leben zu schreiben, die nächste Depression nicht überlebt. Kann sein, dass der Körper, der im letzten Kapitel von Moor über den Meeresgrund treibt, der Leichnam von Dion ist, der vor dem Wiedersehen mit seiner Mutter Marga am Strand von Sylt ins Wasser gegangen ist. Und wenn man mich fragt, ob Vinz, der Schriftsteller aus dem Roman Benzin, am Ende seiner Afrikareise wirklich in den Sambesi steigt und auf die Fallkante der Victoriafälle zutreibt, sage ich nicht nein. Die Wahrheit ist: Ich weiß es nicht. Würde mich der Tod als Plot Point interessieren, schriebe ich vielleicht erfolgreiche Krimis. Es gäbe eine Fülle von Themen, die mir aus den gesellschaftlichen und politischen Diskursen zufallen, doch auch für den Journalismus taugt mein Schreiben nicht, es stolpert haltsuchend entlang meiner Lebenslinie, und die, soviel ist gewiss, wird an meinem Tod enden – wann und wie, wird vielleicht später für mein »Werk« von Bedeutung sein, auf mein Schreiben heute aber hat es keinen Einfluss. Das speist sich aus den Formen, durch die ich mich in meinem täglichen Leben bewege; aus meiner Tagesform und der unserer Welt – die seit März diesen Jahres aus den Fugen gerät, schneller als je zuvor in meinem Leben und dramatischer, als ich es mir in einem Roman hätte erdenken können.

Mehr als die Sorge, an einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus zu sterben (ich gehöre zur so genannten Risikogruppe), treibt mich in diesen Tagen die Frage um, wie sich die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen, die zurzeit die etablierte Ordnung der Welt ins Wanken bringen, auf mein Schreiben auswirken werden – auf jene Systeme, die mein Selbst- und Weltverständnis prägen. Mein autofiktionales Erzählen wird nun umso mehr von der Kraft meiner Imagination abhängen, bisherige Erfahrungen mit den möglichen von morgen zu einer Gegenwart zu verschmelzen, die in ihrer literarischen Form über die Grenzen meiner eigenen Lebenswelt hinausweist. Gelingt es, bleibt meine Literatur mit den Worten Adolf Muschgs »entwicklungsfähig und für den Leser brauchbar«, fällt sie hinter die rasanten Veränderungen unserer Zeit zurück, wird sie von den globalen Dynamiken womöglich bald verschlungen werden.

Es sind nicht nur die Zweifel an seiner Lebens- und Liebesfähigkeit, die Vinz, den Protagonisten aus Benzin, in der letzten Szene an das Ufer des Sambesi treiben. Während sich im Land ein politischer Umsturz anbahnt, scheinen seine erzählerischen Mittel im Angesicht einer Wirklichkeit, die er nicht entziffern kann und die ihn sprachlos auf sich selbst zurückwirft, an ihre Grenzen zu stoßen. Die Möglichkeit, dass der Fluss ihn tötet, wird zur Bedingung für die Wahrhaftigkeit seines zukünftigen Schreibens, in ihr formuliert sich sein Wunsch, die autofiktionale Form, die ihn umschließt wie ein Kokon, zu durchbrechen. Nein, möchte ich antworten, Vinz stirbt nicht, aber notwendigerweise der Teil, der ihn am Leben hindert.

Ich schreibe diesen Teil des Essays knapp ein halbes Jahr nach unserer Zusammenkunft im NRW-Atelier in Bad Driburg im Oktober 2019. Einige der teilnehmenden Autorinnen und Autoren beschäftigten sich mit Fragestellungen zum autobiographischen und autofiktionalen Erzählen. Würden wir heute die eine oder andere These anders formulieren? Können wir die Romane, an denen wir damals gearbeitet oder zu arbeiten geplant haben, noch mit dem gleichen Selbstverständnis – Verständnis unserer Selbst – weiterschreiben? Wie gehen wir mit der Unsicherheit um, ob unsere meist auf mehrere Jahre angelegten Schreibprojekte im Zuge der nicht vorhersehbaren derzeitigen Entwicklungen möglicherweise ihre »Gültigkeit« verlieren? Wird es komplementär zum Bestreben der Literatur, eine Nähe zwischen einander entfernten oder sich fremden Menschen herzustellen, durch einen veränderten, von Abstandsgeboten geprägten Status Quo des sozialen Miteinanders eine neue »Schreibweise der Distanz« geben? Oder werden die aktuellen Anstrengungen von Politik und Gesellschaft, ein Massensterben gefährdeter Personen zu verhindern, der Literatur von morgen nur einen Nebensatz wert sein? Zur Erinnerung: Die Aidskrise forderte in den Jahren 1985-2005 allein in Deutschland ca. 26.000 Menschenleben, vor allem in der Randgruppe der Homosexuellen, was vielleicht mit ein Grund ist, warum die Toten dieser Zeit in der zeitgenössischen Literatur kaum vorkommen. In Frankreich zählte zu den Opfern auch Michel Foucault.

Crisis, die lateinische Wurzel des Wortes Krise, bedeutet Entscheidung. Vielleicht wird sich durch die Folgen der Pandemie – retrospektiv – zeigen, dass der Erfolg der zeitgenössischen autofiktionalen Form an die Paradigmen einer Zeit gebunden war, in der das Dasein mehr oder weniger gesichert schien und wir unsere Fragen nach Identität unter der Prämisse stellten, dass die Welt, über die wir heute schreiben, morgen noch die gleiche ist. Dass wir leben werden. Während die Autofiktion in der Bugwelle der spätkapitalistischen Epoche entstanden sein mag, die jetzt einen tiefen Einschnitt erfährt, wird sich die Literatur der Coronavirus-Phase (wenn es sie überhaupt geben wird) – wie jede Literatur der großen Umbrüche – im Kielwasser der globalen Veränderungen bilden. Die Literatur der Nachkriegszeit hat bedeutend dazu beigetragen, dass Biographien aufgearbeitet, die Traumata des zweiten Weltkriegs kulturell und gesellschaftlich bewältigt werden konnten. Die Verdienste der Autorengenerationen vor mir sind die Grundlage dafür, dass ich heute so schreiben kann, wie ich schreibe. Sie sind der Beweis, dass Heilung – im künstlerischen Sinne – möglich ist. Gegen mein drohendes Verstummen hier noch einmal Adolf Muschg: »Die Therapie ist nicht Kunst, aber sie dient der Kunst als Bürgschaft für die Verbindlichkeit, für die Gangbarkeit der lebensverändernden Phantasie. Beide arbeiten im Gleichgewichtssinn einer sich selbst bedrohenden Menschheit. Aus beiden ist die Einsicht zu schöpfen, dass Überleben erst dann keine Sorge mehr sein wird, wenn wir leben gelernt haben.«

Die Autofiktion kann dem Leben nicht vorgreifen, das ist ihr Dilemma, aber auch ihre Chance. Sie ist der Gegenwart verpflichtet, weil sie Biographie nicht nur darstellt, sondern Biographie ist. Doch wenn der Tod des Autors sie einmal eingeholt hat – und das ist ihre Hoffnung -, war die Literatur ihm vielleicht um das entscheidende Wort voraus.

Literatur:

Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. Vollständige Ausgabe, eingeleitet und übertragen von Wilhelm Thimme. Zürich, 1982.

Roland Barthes: Der Tod des Autors, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hrsg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko. Dietzingen, 2000.

Serge Doubrovksy: Le livre brisé. Paris, 2012.

Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens. Berlin, 2018.

Ivan Farron: Die Fallen der Vorstellungskraft, in: Neue Zürcher Zeitung vom 31.5.2003, https://www.nzz.ch/article8VLW2-1.259501, aufgerufen am 15.3.2019.

Michel Foucault: Was ist ein Autor?, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hrsg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko. Dietzingen, 2000.

Peter Gasser: Autobiographie und Autofiktion. Einige begriffskritische Bemerkungen, in: » … all diese fingierten, notierten, in meinem Kopf ungefähr wieder zusammengesetzten Ichs«. Autobiographie und Autofiktion, hrsg. von Elio Pellin und Ulrich Weber. Göttingen, 2012.

Sarah Kane: 4.48 Psychose, in: Sämtliche Stücke. Reinbek bei Hamburg, 2019.

Adolf Muschg: Literatur als Therapie? Ein Exkurs über das Heilsame und das Unheilbare. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt am Main, 1981

Ilma Rakusa: Autobiographisches Schreiben als Bildungsroman. Stefan-Zweig-Poetikvorlesung. Wien, 2014.

Frank Reiser: Autobiografie nach der Postmoderne: Serge Doubrovsky, Le livré brisé. http://www.gradnet.de/papers/pomo02.papers/serge.pdf, aufgerufen am 20.03.2020

Jean Jacques Rousseau: Bekenntnisse. Frankfurt am Main, 1985.

[1] »Sie hatte sich diese energische und schmerzhafte Herausforderung gestellt: wir sollten zusammen lebend in die Schrift übergehen.« (Übersetzung: Frank Reiser)

[2] »Mein Leben stellt sich mir nicht als Einheit, sondern als verstreute Fragmente, gebrochene Daseinsebenen dar.« (Übersetzung: Frank Reiser)

Wenn das Lachen vergeht – Abbas Khider schreibt den modernen Irak

von Maryam Aras

 

In der britischen TV-Serie Baghdad Central kämpft der ehemalige Polizei-Kommissar Muhsin al Khafaji (gespielt von Waleed Zuaiter) sich mit seinen Töchtern durch die Hölle der von US-Amerikanern und Briten besetzten irakischen Metropole. Weil er unter Saddam Hussein gedient hatte, ist er im post-baathistischen Irak in Ungnade gefallen. Nun wirbt ihn ein britischer Regierungsbeamter an, der – aus politisch aufrichtigen Motiven scheint es – eine irakisch geführte Polizei wiederaufbauen will. Doch Khafaji verfolgt seine eigene Agenda: Seine ältere Tochter Sausan (Leem Lubany) ist verschwunden und die jüngere Mrouj (July Namir) ist schwer krank und kommt ohne Hilfe von außen nicht an die lebensnotwendige Dialyse-Behandlung. Kommissar Khafaji macht sich jeden Tag aus seinem halbzerstörten Viertel, in dem mittlerweile die Jungen der Nachbarschaft bewaffnet mit ein paar Maschinengewehren und islamistischen Sprüchen das Sagen haben, auf in die „Green Zone“, in das Hochsicherheitsgebiet der Besatzer. Doch auch die scheinen verstrickt in Sausans Verschwinden. Sobald beide Töchter zurück und gesund sind, will Khafaji nur eins – raus aus Irak.

Die bisher sechsteilige Serie, produziert für Channel Four, ist sehr gut gemachte Krimi-Noir Unterhaltung, die sich nicht scheut, das neokoloniale Gebaren der westlichen Alliierten vom einfachen Soldaten bis zum Entscheidungsträger in Anzug und Krawatte darzustellen. Das „dual-language Drama“ wird dabei von einem überzeugenden trans-arabischen Cast getragen, dessen Darsteller*innen sicher dankbar waren, in einer englischsprachigen Produktion einmal nicht eine*n Terrorist*in, dessen Schwester oder Geliebte*n spielen zu müssen. Ein arabischsprachiges Publikum wird während der untertitelten Dialoge die unterschiedlichen Akzente der amerikanisch-kuwaitischen, britisch-ägyptischen, -irakischen oder palästinensisch-israelischen Schauspieler*innen erkennen.

Neben viel Lob für die Repräsentation arabischer Darsteller*innen on-screen gab es aber auch kritische Stimmen, die bemängelten, die Gelegenheit, irakische Stimmen ihre eigenen Geschichten erzählen zu lassen, sei vertan worden. Unbegründet sind diese Vorwürfe nicht. Als Script-Vorlage diente dem englischen Drehbuchautor Stephen Butchard der gleichnamige Roman des amerikanischen Arabisten und Literaturwissenschaftlers Elliott Colla. Auch hinter der Kamera war kein*e Iraker*in Teil des engeren Produktionsteams (lediglich eine der Associate Producerinnen, Arij al-Soltan, ist Britin irakischer Herkunft). Diese Diskussionen zu führen ist wichtig, gerade weil diese Produktion trotz der abermals weißen Agency des Autor*innenteams (wer darf erzählen?) allem, was das deutsche Fernsehen je an Vergleichbarem hervorgebracht hat (eine Handvoll Filme um den deutschen Bundeswehreinsatz in Afghanistan herumerzählt: Auslandseinsatz (2012), Willkommen im Krieg (2012) und Zwischen Welten (2013)) um viele Längen voraus ist.

Auch in der deutschen Gegenwartsliteratur fällt eine Bestandsaufnahme irakischer Stimmen zahlenmäßig bescheiden aus – Karosh Taha erzählt vielbeachtet aus post-kurdischer Perspektive. Der in Köln lebende Bakhtyar Ali schreibt auf Sorani und lebte lange eine literarisches Nischenexistenz – das Schicksal der meisten übersetzten Autor*innen bei deutschsprachigen Verlagen. Seit seinem Roman von 2017, Der letzte Granatapfel, gilt er auch hier als die wichtigste Stimme der zeitgenössischen irakisch-kurdischen Literatur. Sherko Fatah, der ebenfalls aus post-irakisch-kurdischer Sicht schreibt, seine Romane jedoch auch in Kurdistan spielen lässt, erfuhr mit seinem letzten Roman leider keinen großen öffentlichen Widerhall. Und dann ist da noch Abbas Khider. Mit ihm hat die deutschsprachige Literaturszene einen Autor, der Geschichten über seinen Irak erzählt, und damit auf dem deutschen Buchmarkt erfolgreich ist (seine Romane Ohrfeige, 2016, und Der falsche Inder, 2008, müssen in diesem Text außen vor bleiben).

In vielen seiner Interviews wiederholt Khider die Rolle, die die deutsche Sprache für ihn als irakischer Exilautor spielt: Sie verschaffe ihm die nötige Distanz, um über den erlebten Schrecken unter Saddam Husseins Regime schreiben zu können. Dabei hilft ihm oft sein Humor. Den Verbrechern ihre Lächerlichkeit zu schenken, mache vieles erträglicher, sagt er.

Mesopotamische Geschichten

Khiders Humor ist so einer seiner markantesten Erzählelemente in den Romanen Orangen für den Präsidenten (2011) und Brief aus der Auberginenrepublik (2013). Diesen beiden Werken lassen sich als „mesopotamische Geschichten“ zusammenfassen, wie es am Ende von Brief aus der Auberginenrepublik auf dem letzten Schnipsel des namensgebenden Briefes kurz vor dessen Verbrennen heißt: „Die Glaubwürdigkeit unserer Geschichte besteht vermutlich darin, dass sie weder glaubwürdig noch unglaubwürdig ist. Sie ist eben nur eine mesopotamische Geschichte…“

In Orangen für den Präsidenten erzählt Khider die Geschichte des jungen Taubenzüchters Mahdi, der, 1989 am Tag seiner Abiturprüfungen ins Gefängnis geworfen, abwechselnd von seinem Leben in Babylon und Nasiriya, und seinem späteren Alltag im Gefängnis berichtet. Auf drei Seiten, die der Haupterzählung vorangestellt sind, erzählt das lyrische Ich von seinem „Trauerlachen“ – einer scheinbar ungesteuerten jedoch sehr effektiven Abwehrstrategie gegen die ihn folternden Gefängniswärter. Der prologartige Abschnitt beschließt die erzählerische Schleife des Romans, den Khider in einem Flüchtlingslager in Kuwait enden lässt. Neben dem Lachen als eigenem Motiv kreiert Khider immer wieder abgründig-witzige Situationen – wie die der titelgebenden Episode, in der die Gefängnisinsassen an Saddam Husseins Geburtstag auf eine Amnestie hoffen und sich das sehnsüchtig erwartete „Geschenk“ als eine Kiste voller Orangen entpuppt.

Khiders Sprache ist in beiden Romanen geprägt von humoristischen, manchmal flapsigen Elementen. Diese durchbrechen einen sonst eher romantisch-narrativen Stil, der sich in seiner Misch-Art zwar angenehm liest, aber nicht unbedingt bleibenden Eindruck hinterlässt. Interessanterweise deutet sich Abbas Khiders stilistische Entwicklung bereits in dem eindrücklichsten Kapitel des darauffolgenden Brief in die Auberginenrepublik an. Der geschickt konzipierte Episodenroman wird durch die Irrfahrt eines Briefes, den der politische Flüchtling Salim aus Bengasi in Libyen an seine Geliebte Samia in Bagdad schreibt, zusammengehalten. Im vierten Kapitel erzählt der Lastwagenfahrer Latif Mohamed, der den Brief ein Stück des Weges transportieren wird, wie er zu seinem Rufnamen Abu Samira kam. Die etwas ungewöhnliche Konstruktion „Vater von Samira“ bürgerte sich ein nachdem der geliebte Sohn Nori halbtot und verbrannt aus dem Iran-Irak-Krieg zurückkehrte und er die Ansprache als Abu Nori nach dessen Tod nicht mehr ertrug. Es veränderte sich auch die Art, wie das Ehepaar mit einander redet

Nach Noris Tod lief ich als traurige Gestalt durch die Gegend. Oftmals, wenn ich wie gewohnt meine Frau Om Nori rufen wollte, stolperte meine Zunge über den Namen meines Kindes. Noris Namen konnte ich nicht mehr aussprechen. Es schnitt scharf in mein Inneres, und das schmerzte mich. Seitdem rief ich meine Frau bei ihrem Vornamen Halima und sie mich Latif. Das ergab sich unvermeidlich, ohne Absprache verwendeten wir unsere Vornamen und wurden auf einmal wieder fremde Menschen, die sich erst langsam kennenlernen mussten. 

Letztlich ist der polyphone Roman selbst ein Brief an die alte Heimat das Autors, den er mit seinen deutschsprachigen Leser*innen teilt. In seiner Widmung schreibt er: „Fast ein Jahrzehnt, von den letzten Jahren des 20. bis in die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts, hast Du kaum Briefe von mir erhalten, und ich ebenso wenige von Dir. Für Dich und für die anderen wartende, traurigen und dennoch hoffnungsvollen Seelen ist dieses Buch.“

Leben unter Sanktionen

Die Auberginenrepublik, das ist der Irak in der Phase des totalen Wirtschaftsembargos 1991-2003, als die normale Bevölkerung Iraks kaum mehr etwas zu essen hatte, außer eben den Auberginen, aus denen die Mütter in Abbas Khiders mesopotamischen Geschichten immer neue Gerichte kreieren. So auch in seinem neusten Roman Palast der Miserablen. Fast ließen sich die hier besprochenen Erzählungen als „Mesopotamische Trilogie“ zusammenfassen. Dem steht nur die stilistische Andersartigkeit des im Frühjahr erschienen Neulings entgegen. Das Lachen ist Khider vergangen, so scheint es. Das mag düster klingen, es muss für seine Leser*innen nicht schlecht sein. In seinem bisher umfangreichsten Roman erzählt er aus der Perspektive des Jungen Shams Hussein, wie es war, in einem Armenviertel zur Zeit der Sanktionen heranzuwachsen. Eingeleitet und immer wieder unterbrochen wird die chronologische Narration Shams‘ Jugend durch kurze Zustandsbeschreibungen aus dem Gefängnis.

Die chronologische Erzählung beginnt noch in der südirakischen Heimat der Familie Hussein, in dem Dorf Ahlan Dschahannam, „Herzliche Hölle“. Dieser Name, der aus den zwei Namen besteht, die jeweils die osmanischen und englischen Herrscher dem Ort gaben, entwickelt Khider als einen grotesken Running Gag, der die historischen Spuren der Kolonialherren versinnbildlicht. Shams‘ trotz bescheidener Lebensumstände und geographisch nahem Iran-Irak-Krieg harmonische Kindheit endet jäh, als die Repression des Baath-Regimes den schiitischen Aufstand nach dem zweiten Golfkrieg 1991 brutal niederschlägt. Mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester Qamer, die die heimliche zweite Hauptfigur des Romans ist, zieht er nach Bagdad, oder besser gesagt – in einen von Bagdads Vorstadt-Slums.

Und jenes „Blechviertel“ beschreibt Khider bildstark und vielschichtig. Es ist Moloch und Armut, Zuhause und Lebensgrundlage zugleich. Es ringt seinen Bewohner*innen unendlich viel ab, aber es gibt auch zurück. Das Geschwisterpaar Shams und Qamer (die Namen bedeuten Sonne und Mond) finden sich zurecht und müssen neben der Schule zum Unterhalt der Familie beitragen. Der starken Qamer fällt dies leichter als dem passiven und zurückhaltenden Erzähler. Auch in der Beziehung der Eltern verschiebt Khider die Geschlechterrollen: die zunächst irrational scheinende Frömmigkeit der Mutter wird, nachdem der Vater nicht mehr körperlich arbeiten kann, zur Haupteinnahmequelle der Familie. Die Mutter (die der Vater bei ihrem Vornamen Zahra, und nicht Om Shams nennt) wird zu einer religiösen Mittlerin, die es sie in der schiitischen Volksreligiosität häufig gibt. Sie organisiert Reisen zu Schreinen und gibt Ratschläge in Liebesdingen.

Die Erzählung des Blechviertels hält vor allem die unmenschliche Armut der Embargo-Jahre auf beeindruckende Weise fest. Abbas Khiders dritte mesopotamische Geschichte beschreibt weit mehr als „nur“ eine Dekade unter Saddam Hussein’s Regime. Er beschreibt die konkreten Auswirkungen eines Machtgefälles zwischen dem Westen und Westasien, das sich bis heute fortsetzt. Er beschreibt die Lebensumstände der Leidtragenden von neokolonialen Macht- und Wirtschaftsinteressen, die bis heute die Außenpolitik der Vereinigten Staaten und Europas bestimmen. Vielleicht wird in einigen Jahren eine deutsch-iranische Autor*in eine Erzählung vorlegen, die die konkreten Auswirkungen der auch von Deutschland und Europa eingehaltenen US-Sanktionen auf die iranische Bevölkerung schildern wird. Vielleicht bleiben wir auch mit Abbas Khiders mesopotamischer Erzählung zurück und somit gut in der Lage, unsere Fantasie im sogenannten Globalen Süden schweifen zu lassen. Denn auch wenn Khider natürlich für ein deutschsprachiges Publikum schreibt – er tut es ohne einen „das Andere“ erklärenden Blick von außen. Khiders mesopotamische Realitäten sind so selbstverständlich und authentisch unauthentisch, wie Literatur es eben sein kann.

Eine starke Figur und eine Metapher für diese Realitäten hat Khider in Qamer geschaffen. Die kluge und schöne große Schwester arbeitet sich hoch und kommt durch eine günstige Eheschließung aus dem Blechviertel heraus. Sie wird zur Haupternährerin der Familie. Wie so oft in dem Roman scheint es aufwärts zu gehen für die Husseins. Doch ebenso oft lässt der Fall nicht lange auf sich warten. Qamer verkörpert auch die irakische Elite, die aus Eigennutz die Augen vor dem Offensichtlichen verschließt. Ihr Absturz ist unvermeidlich.

Realität der Miserablen

Eine Insel in seinem Alltag ist für Shams ein geheimer Literaturzirkel, in den er von einem Verwandten eingeführt wird. Die Wohnung des Gastgebers ist der „Palast der Miserablen“, in dem sich eine Runde aus älteren Intellektuellen und einem Schwesterpaar aus gutem Haus trifft. Shams ist das einzige Mitglied aus dem Blechviertel. Und obwohl er die literarischen und politischen Diskussionen sehr genießt, und lernt seinen intellektuellen Horizont weit über den des Blechviertels auszudehnen, wird er doch nie als gleichwertiges Mitglied des Zirkels wahrgenommen. In ihrer Kritik für Kulturzeit sieht Insa Wilke hier einen möglichen metaphorischen Fingerzeig Khiders auf den deutschen Literaturbetrieb, der ihn als Schriftsteller aus dem Irak zwar wie ein Maskottchen empfängt, ihm (bis her) aber die Anerkennung als gleichberechtigter Autor, den Zugang zu den großen Literaturpreisen nämlich, verwehrt.

Eine direktere Ansprache an sein deutsches Publikum verpackt der Autor in eine Diskussion im Palast der Miserablen, in der ein erstes Mitglied verkündet, dass er ins Exil gehen werde. Ein anderer bittet ihn, die Zustände im Irak aufzuschreiben, damit die Welt erfahre, was wirklich in ihrem Land vor sich ginge. Darauf antwortet der künftige Exilant: „Glaubst du ernsthaft, dass sich irgendwer da draußen für unsere Probleme interessiert? Wir sind doch nur eine schnelle Zeitungsschlagzeile oder eine Kurzmeldung in den Nachrichten wert. […] Wieso sollte unsere Geschichte irgendwen jucken, der gerade gemütlich im warmen Kaffeehaus in Wien oder Zürich sitzt und seine fette Torte mit einem Kaffee runterspült? Der schlägt die Zeitung zu und hat uns vergessen.“ 

Khiders Roman ist ein Plädoyer dafür, den Irak und seine Geschichten nicht zu vergessen. Auch das Ende seiner Gefängniserzählung, dessen Texte im Verlauf des Buches mit dem sich verschlimmerten Gesundheitszustand von Shams immer kürzer werden, verdeutlicht die politischen Verstrickungen, dessen Opfer normale Menschen wie Shams sind. Er ist den Herrschenden beider Seiten ausgeliefert. Sprachlich ist „Palast der Miserablen“ Khiders ausgereiftester Roman, seine stilistische Melange ist einer – überwiegenden – Ernsthaftigkeit gewichen. Seine Sprache hat an Gewicht gewonnen.

Abbas Khiders mesopotamische Geschichten sind ein Glücksfall für die deutsche Gegenwartsliteratur. In Palast der Miserablen erzählt er eindringlicher als je zuvor, was Armut und Diktatur für normale Menschen bedeutet. Er erzählt sowohl von der Wirkmacht der Literatur, als auch deren Grenzen. Es wäre zu wünschen, dass auch Filmschaffende sich seines Werks annehmen. Seine Romane halten genug spannenden Stoff für Adaptionen bereit. Irakische Realitäten.

Bleibt anzumerken, dass die beispielhafte Laufbahn von Abbas Khider kein Einzelfall in der deutschsprachigen Literaturszene bleiben darf. Auch einschließlich postmigrantischer Perspektiven, wie der von Olivia Wenzel, Ronya Othmann, Deniz Utlu oder Nava Ebrahimi, gibt es keine gleichberechtigte Präsenz, keinen fairen Zugang für Autor*innen aus Asien, Afrika, Lateinamerika und deren Diaspora auf dem deutschen Buchmarkt. Auf diese Weise wird eine künstliche Schieflage stabilisiert, die die einigen wenigen Schwarzen und Autor*innen of Color dazu verpflichtet, zu Sprecher*innen ihrer Herkunftskulturen zu werden. Wir Leser*innen mögen es uns nicht wünschen, aber wer weiß, vielleicht möchte Abbas Khider eines Tages etwas ganz anderes schreiben.

Der leere Raum

von Anne Fritsch

 

„Der leere Raum“ ist der Titel eines Buchs von Peter Brook aus dem Jahr 1968. Der britische  Regisseur beschreibt darin, was die Mindestanforderung an eine Theatervorstellung ist. „Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen“, heißt es da. „Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist.“ In diesen Tagen ist dieses Minimaltheater oft recht nahe an der Realität. Die Mindestabstände auf der Bühne und im Zuschauerraum machen den Theaterbesuch in Zeiten der Pandemie zu einer recht exklusiven Veranstaltung.

Irgendwann im Juli, als das Spielen unter strengen Auflagen wieder erlaubt wurde, wagten sich ein paar wenige Theater zurück. Die erste Vorstellung, die ich nach der Zwangspause sah, war ein Projekt von Susanne Kennedy an den Münchner Kammerspielen, „Oracle“. Und das kam der Brookschen Theaterminimalbeschreibung tatsächlich sehr nah. Jede*r Zuschauer*in betrat alleine einen theatralen Parcours, der durch verschiedene Räume zu einem KI-Orakel führte. Ein wenig spooky war es doch, sich einzeln auf diese Theaterreise zu begeben, in dieses Zwischending aus Theater und Museum, in dem die Verunsicherung zum Konzept erhoben wurde. Und einem durch die plötzliche Nähe der Schauspieler*innen bewusst wurde, wie selten man als coronagewöhnter Mensch die letzten Monate mit Fremden in einem Raum war. Wie ungewohnt der zwischenmenschliche Kontakt während des Lockdowns geworden war.

Meist aber oder eigentlich fast immer sind an einer Theatervorstellung doch mehr Menschen beteiligt. Darüber hinaus findet Theater zudem in geschlossenen Räumen statt, was in Corona-Zeiten natürlich ungünstig ist. Dass das Durchschnittspublikum altersmäßig eher der Risikogruppe angehört, ist auch kein Geheimnis. Kurz: Theater und Pandemie, das ist ein schwieriges Thema. Wenig überraschend mussten daher im März von einem Tag auf den anderen alle Theater schließen. Eine große Leere tat sich auf, jeder Abend war plötzlich ein freier Abend. So überhaupt noch Kritiken zu schreiben waren, bezogen sie sich auf Online-Projekte, die oft aus der Verzweiflung geboren wurden, oder auf gestreamte Vorstellungen. Auf einmal schrieb man über Produktionen, die älter waren als man selbst. Eine kleine Weile machte das Theater-Zapping durch Raum und Zeit auch irgendwie Spaß: heute in einer Live-Stream-Performance der Münchner Kammerspiele, morgen im Berlin der 1970er Jahre in der Schaubühne, übermorgen im Wiener Burgtheater. Teilweise konnte man sich sogar ein Double-Feature Hamburg-Köln oder Stuttgart-Rudolstadt  gönnen. Nach ein paar Wochen Streaming-Euphorie aber kam der große Kater: So entspannt es war, auf dem Sofa im Schlafanzug „Hamlet“ aus Avignon zu schauen, so sehr fehlte doch alles, was Theater eigentlich ist: das Eintrudeln des Publikums im Foyer, der erste Blick auf die Bühne, bevor es los geht, die Gespräche über das Gesehene, die Reaktionen im Publikum, der Live-Moment – das gleichzeitige Produzieren und Rezipieren. Und ja: das Zusammensein mit anderen Menschen.

Das Theater, das nach der Zwangspause wiederkam, hatte mit dem Davor nicht viel zu tun. Beim Betreten des Hauses wird man desinfiziert, es gibt separierte Ein- und Ausgänge, das Foyer ist ungewöhnlich leise und leer. An die neue Beinfreiheit durch die ausgebauten Sitzreihen aber könnte man sich glatt gewöhnen, mit einer neuen Selbstverständlichkeit stellt man seine Tasche auf den Nachbarsitz – man weiß ja: da wird keiner kommen. Nie mehr sitzt direkt vor einem die Dame mit der Hochsteckfrisur oder der größte Mann im Saal, nie mehr riecht man die Ausdünstungen des Nebenmanns oder der Nebenfrau. Theater, das bedeutet in diesen Tagen vor allem: sehr viel Platz für jeden einzelnen. Das Hamburger Altonaer Theater reagiert mit Humor auf die zwangsweise leeren Sitze, reserviert sie für imaginäre illustre Gäste wie Umberto Eco, Oscar Wilde oder Herta Müller. Wo keine Sitze ausgebaut wurden wie im Thalia Theater in Hamburg, wird die Leere dagegen schmerzlicher bewusst. Was für das Publikum gar nicht so unbequem ist, ist für die Theater mehr als nur eine Herausforderung.

Denn auch auf und hinter der Bühne gelten strenge Vorgaben, die kaum eine Prä-Corona-Inszenierung erfüllt, was bedeutet: Vom Repertoire bleibt in den meisten Fällen wenig bis gar nichts übrig. Eine Oper mit Chor und voller Orchesterbesetzung ist völlig undenkbar geworden, aber auch eine ganz normale Schauspielproduktion bietet genügend Fallstricke. Berührungen sind tabu, außer eine Schicht viren-undurchlässiges Plastik in Form von Handschuhen oder gar ein ganzes Planschbecken wie in Simon Solbergs „Indien“-Inszenierung am Münchner Volkstheater liegt zwischen den sich Berührenden. (Man kann den Regisseur*innen nicht vorwerfen, mit den Regeln nicht kreativ zu spielen.) In Bayern muss auf der Bühne ein Abstand von 2 m eingehalten werden. Wenn „expressiv“ gesprochen, gesungen oder gar geschrieen wird, sogar 3 m. Wohlgemerkt im Radius um jeden einzelnen. Das reduziert die Anzahl der potentiellen Mitspieler natürlich enorm.

Das Theater muss sich in diesen Tagen und Monaten seine Opulenz abgewöhnen. Seit Corona bestimmen seitenlange Hygienekonzepte die Theaterkunst. Intendant*innen werden zu Hygienefachleuten, beschäftigen sich mindestens so intensiv mit Sicherheitsabständen, Zuschauerströmen und Desinfektionsmittelspendern wie mit der Auswahl von Stücken und deren Besetzung. Vieles daran ist umständlich und bedeutet mehr Aufwand, wie beispielsweise längere Schminkzeiten, weil nicht mehr parallel gearbeitet werden darf, oder gestaffelte Kantinenzeiten während der Probenzeit für die einzelnen Produktionen. Was es besonders schwierig macht: Die Lage ist unübersichtlich, was in einem Bundesland erlaubt ist, ist anderswo verboten. Auch ändert sie sich immer wieder. Andreas Beck, Intendant des Münchner Residenztheaters, forderte darum im September in einem vielzitierten Interview mit der Abendzeitung eine verbindliche „Regelsammlung“ für alle, in der die Bestimmungen klar formuliert werden und einheitlich gelten. „Unsere Belüftungssysteme sind besser als die in den Bahnen und Bussen“, sagte er. „Warum hat die Kunst die härtesten Auflagen?“

Eine durchaus berechtigte Frage. Denn zumindest in Bayern ist man mit der Kultur wesentlich strenger als beispielsweise mit der Gastronomie. Für zwei Situationen, die augenscheinlich vergleichbar sind: Viele Menschen sitzen in einem Raum. Im ersten Fall (Gastronomie) essen, trinken und reden sie, verteilen also augenscheinlich mehr Aerosole im Raum als im zweiten Fall (Theater), wo sie still sitzen. Dennoch gilt in Gaststätten lediglich der Mindestabstand, für Theater aber eine pauschale Zuschauerbegrenzung von maximal 200. Egal, wie groß der Raum ist. Egal, ob kleines Privattheater oder großes Staatstheater. Wer zur Kulturveranstaltung Essen serviert, darf mehr Menschen reinlassen als der, der die Kultur pur bietet. Anders formuliert: Gibt es am Nockherberg zur Blaskapelle Schweinshaxe, dürfen 1000 Leute lauschen. Gibt es im Theater ein Konzert, höchstens 200.

Aus unerfindlichen Gründen wird das Theater als Risikoveranstaltung stigmatisiert. Daran hat Jochen Schölch, Intendant des Münchner Metropoltheaters, keinen Zweifel: „Es gibt momentan keinen sichereren Ort als das Theater, die Hygienekonzepte sind hier so streng wie nirgends.“ Wie aber reagiert das Publikum? Traut sich überhaupt noch wer ins Theater? Statt 165 Plätze kann Schölch jetzt maximal 98 anbieten. Die sind fast immer belegt, was Schölch froh macht. (Er kennt auch Theater, bei denen selbst die wenigen verfügbaren Plätze leer bleiben – weil die Leute nicht das Vertrauen haben, zu kommen.) Weil das Spielen unter diesen Bedingungen von einem Normalbetrieb aber weit entfernt ist, hat das Metropoltheater mit seiner Wiedereröffnung ein neues Bezahlsystem eingeführt: „Zahl doch, was Du willst“. Heißt genau das: Auf den Plätzen liegen Kuverts bereit, in die alle nach der Vorstellung einen beliebigen Betrag stecken können. So viel, wie ihnen „der Abend wert war“. Ganz normale Karten zu verkaufen, würde ein falsches Signal senden, denkt Schölch: So, als wäre jetzt alles wieder gut, wo die Theater wieder öffnen durften. Das ist es aber nicht. Um kostendeckend zu arbeiten, müsste er die Preise enorm erhöhen. Was er nicht will. Das neue Bezahlsystem ist anonym. Natürlich gibt es Leute, die einen leeren Umschlag einwerfen, das ganze als günstigen Abend verbuchen. Aber es gibt auch die, die mehr zahlen. Im Durchschnitt kommt das Theater auf die üblichen Kartenpreise – und hat vielleicht den einen oder die andere zum Nachdenken angeregt.

Auch das Münchner Volkstheater ist voll – oder vielmehr ausverkauft, seit es Ende Juli nach einer vorgezogenen Sommerpause verfrüht in die neue Spielzeit gestartet ist. Seit neuestem dürfen maximal 160 Leute in den Saal. Statt 600. Und das auch nur, wenn wenig Einzelbesucher und viele Vierergruppen kommen. Und doch: „Wir verlieren jeden Tag Zuschauer“, sagte Intendant Christian Stückl Ende September verzweifelt in einer Podiumsdiskussion zum Thema „Kultur in der Krise“. Er beobachtet etwas Unerwartetes: Hatte er (und wohl viele andere) damit gerechnet, dass die Älteren, die Risikogruppen, dem Theater fernbleiben, ist es umgekehrt. Genau die sind es, die kommen. Wer den Bezug zum Theater eher verloren zu haben scheint, sind die Jungen. Das wird natürlich dadurch verschärft, dass die Schulen auf alle außerschulischen Veranstaltungen – wie eben Theaterbesuche – verzichten müssen. Da das aber für viele die ersten (und möglicherweise einzigen) Begegnungen mit dem Theater sind, werden die Theater es in den kommenden Jahren noch schwerer als bisher haben, ihr Publikum zu verjüngen, den Nachwuchs anzulocken.

Welche Langzeitfolgen diese Krise für die Institution Theater hat, das treibt momentan viele Theatermacher um: Dass es Budgetkürzungen geben wird, ist vielerorts bereits gesetzt. Weniger vorhersehbar ist das Verhalten des Publikums. „Wenn jemand einmal in der Woche oder einmal im Monat ins Theater gegangen ist und diese Gewohnheit nun durch Corona unterbrochen wurde“, überlegt Schölch. „Fängt er dann wieder damit an? Oder hat er sich inzwischen daran gewöhnt, lieber auf der Couch Netflix zu schauen?“ Schölch fürchtet auch, dass bestimmte Strukturen, die jetzt zerstört werden, nicht wieder aufgebaut werden. Das Metropoltheater arbeitet nur mit freien Schauspieler*innen zusammen. Die verdienen nichts, wenn sie nicht spielen. Wer nicht zusätzlich Synchron spricht oder Film dreht, für den bricht gerade alles weg. Auch die Dramatiker*innen, die pro Zuschauer bezahlt werden, bekommen in dieser Spielzeit nur einen Bruchteil ihrer sonstigen Tantiemen. Über kurz oder lang werden sich viele freie Künstler*innen feste Jobs in anderen Bereichen suchen – und ob sie nach der Krise zurückkehren in die unsichere freie Existenz, das ist fraglich. Auch für die Schauspielschulen wird sich einiges ändern, vermutet Schölch, der den Studiengang Schauspiel an der Theaterakademie August Everding leitet: Dieses Jahr fallen die zentralen Vorsprechen aus, die Theater suchen in der Krise weniger neue Ensemblemitglieder. Wenn nächstes Jahr die Budgetkürzungen kommen, wird das noch schlimmer werden. Auch das Münchner Volkstheater arbeitet momentan zwangsläufig mit seinem festen Kernensemble. All die Schauspieler*innen, die sonst als Gäste ans Haus kommen, können erstmal nicht beschäftigt werden.

Das alles wird sich langfristig auf den Kultur- und Theaterbetrieb auswirken – wie genau, das vermag heute wohl noch keiner vorauszusehen. Ziemlich sicher aber werden sich ohnehin bestehende Probleme der Branche weiter verschärfen. Zum Beispiel den bestehenden Fachkräftemangel: Dass die Theater hochqualifizierte Leute für ihre Gewerke ausbildeten (Licht, Ton, Maske…), diese anschließend aber in besser bezahlte Branchen wie Werbung, Film, Veranstaltungstechnik etc. abwanderten, stellte den Betrieb bereits vor Covid-19 vor große Herausforderungen. Wenn die Theater nun auch die, die gerne bleiben würden, nicht halten können, dürfte sich die Situation weiter zuspitzen.

Wie also sieht die Zukunft des Theaters aus? Wie kann sich diese analoge und auf die Anwesenheit vieler Menschen angewiesenen Kunst behaupten? Wie kann sie „systemrelevant“ bleiben – oder gar werden? Die Theaterautorin Maya Arad Yasur hat sich dazu Gedanken gemacht, hat einen Text geschrieben mit dem Titel „Theatre after Corona Virus“. Sie betont darin die Wichtigkeit des Zusammenkommens und die Überwindung des „Social Distancing“ für uns als Gesellschaft. Die Aufgabe des Theaters müsse es sein, das zu zeigen: dass diese Dinge uns menschlich machen, die Solidarität und die Geselligkeit. „Wir sollten das zu unserem Leitfaden machen“, schreibt sie. „Eine Aufführung, die gestreamt werden kann, ist nicht genug Theater. Unser Motto muss werden: „Du musst dabei gewesen sein“.“

Das wieder möglich zu machen, ist jetzt die dringlichste Aufgabe der Politik. Eine Theatervorstellung ist eine der geregeltsten Veranstaltungen, die man sich vorstellen kann: das Publikum hat Platzkarten, sitzt bewegungslos auf seinen Plätzen, spricht eher selten (was den Aerosolaustoß vermindert) und das einst so beliebte Theaterhusten verkneift sich in diesen Tagen ohnehin jeder. Es ist also bei aller gebotenen Vorsicht nicht nachvollziehbar, warum für Theater unabhängig von der Größe des Raumes eine Zuschauerobergrenze gilt. Vielleicht – und wahrscheinlich – ist es falsch, der Politik einen bösen Willen zu unterstellen. Nicht zu bestreiten aber ist, dass über die Kultur zu wenig nachgedacht wird, dass ihre Interessen hinter so vielen vermeintlich wichtigeren Bereichen zurückstecken müssen – und dass so durch Unbedachtheit über Jahrzehnte gewachsene Strukturen in ihrer Existenz gefährdet sind. Theater ist eine analoge Kunst, die Corona-Zeit aber eine Hoch-Zeit des Digitalen. Wenn sich jetzt zu viele daran gewöhnen, dass alles online stattfindet, was früher einmal die tatsächliche körperliche Anwesenheit von Menschen verlangte, dann ist das Theater am Ende. Jetzt ist die Zeit, mit aller nötigen Vorsicht möglich zu machen, was möglich ist.

 

Photo by Paul Green

Abkehr vom Mann – Pauline Harmanges “Ich hasse Männer”

von Christina Dongowski

 

Ich würde Moi les hommes, je les déteste (zu deutsch: Ich hasse Männer) von Pauline Harmange wahrscheinlich nicht kennen, hätte nicht ein Typ namens Ralph Zurmély das Verbot des Büchleins in Frankreich gefordert und den Verlag mit einer Strafe von 45.000 Euro bedroht. Auch wenn es den Anschein haben könnte, Ralph Zurmély ist nicht der klassische sexistische Kommentar-Typ aus dem Netz, mit dem sich jede Frau herumschlagen muss, die etwas äußert, das auch nur entfernt nach Feminismus klingt. Nein, Ralph Zurmély ist Referent im französischen Ministerium für die Gleichstellung von Mann und Frau.

Mit einem Schreiben vom E-Mail-Account seines Ministeriums forderte er die Verantwortlichen beim Verlag Monstrograph zum Erscheinungstermin des Büchleins ultimativ auf, die Veröffentlichung zu unterlassen. Es handele sich hier um einen Aufruf zur Gewalt gegen ein Geschlecht und zu dessen Diskriminierung. Das sei in Frankreich strafbar. Er drohte dem Kleinverlag mit einer Strafzahlung von 45.000 Euro. Als der Verlag die Drohung öffentlich machte, bekräftigte Zurmély in Stellungnahmen gegenüber verschiedenen französischen Medien, man werde gegen das Buch vorgehen.

Natürlich hatte Zurmély das Buch nicht gelesen. Bei dieser Art Text sei das schließlich nicht nötig. Organisationen zum Schutz der Presse- und Kunstfreiheit schalteten sich ein. Unter dem zunehmenden Druck der Öffentlichkeit distanzierte sich dann das Ministerium von Élisabeth Moreno von seinem Mitarbeiter: Die ganze Aktion sei seine private Initiative. Das Ministerium habe damit absolut nichts zu tun und werde sich auch nicht in der Sache engagieren. Das war Ende August, Anfang September dieses Jahres. Wie belastend die Ereignisse für Monstrograph und die Autorin Pauline Harmange gewesen sind, lässt sich auch in den Einträgen ihres Blogs nachlesen.

Eine von Privilegien geschützte mediokre Gestalt

Aber die Auseinandersetzung mit einem Funktionär der Staatsverwaltung, der sich dazu berufen fühlt, die Ehre der französischen Männer gegen eine 25-jährige Bloggerin und politische Aktivistin zu verteidigen, hat auch ihr Gutes: Die erste Auflage, 400 Exemplare, von Moi les hommes, je les déteste war innerhalb weniger Tage ausverkauft, ein Nachdruck nur wenige Stunden später. Der renommierte Verlag Éditions du Seuil übernahm die Rechte an Harmanges Buch. Seit Anfang Oktober ist es nun in allen französischen Buchhandlungen, im Versandbuchhandel und als E-Book erhältlich. Am 17. November wird die deutsche Übersetzung bei Rowohlt erscheinen, im Januar nächsten Jahres eine englische Übersetzung. Dazu kommen Übertragungen in weitere Sprachen.

Für das zentrale Argument, das Harmange in ihrem knapp hundert Seiten langen Essay ausführt, könnte Ralph Zurmély Beweisstück Nummer Eins sein: Der vom Patriarchat produzierte Standard-Mann ist eine von Privilegien geschützte mediokre Gestalt. Er saugt die sozialen, kreativen und intellektuellen Energie von Frauen (und anderen Nicht-Männern) ab, im Privatleben, im Beruf und in der Öffentlichkeit. Denkfaul, aggressiv, misogyn belastet er das Leben von Frauen. Und in vielen Fällen belästigt er sie auch, übt routinemäßig Gewalt gegen sie aus und tötet sie. Der Mann ist eine Gestalt, der Frauen so wenig Platz wie irgend möglich in ihrem Leben einräumen sollten. Männer sind abzulehnen. Sie haben kein Recht auf die Zeit, das Interesse, die Gegenwart oder gar die Zuwendung von Frauen. #AllMenAreTrash. Misandrie, der Hass gegen Männer, ist für Frauen eine Form der Selbstsorge und sie wirkt ermächtigend. Wenn Frauen sich in Bezug auf Männer erst einmal selbst ihren Frust, ihre Wut, ihre Verachtung und ihren Abscheu eingestehen und sich von ihnen abwenden, entstehen die Freiräume, mental und sozial, in denen Frauen sich selbst entdecken und entwickeln – gemeinsam und in Auseinandersetzung mit anderen Frauen. Soweit zunächst Pauline Harmange.

Auch wenn in den letzten Jahren im öffentlichen Diskurs wieder öfter feministische Stimmen zu Wort kommen, die mehr fordern als Fairness im Rattenrennen um die erfolgreichste Karriere, sind Pauline Harmanges Thesen und Forderungen in Moi les hommes je les déteste von einer Radikalität und Direktheit, die sich gegenwärtig so außerhalb von Aktivistinnen-Gruppen und feministischen Social Media-Bubbles kaum finden lassen.  Auch nicht oder schon gar nicht in Frankreich, auf dessen Staatsfeminismus mit Ganztags-Kinderbetreuung ab den frühesten Lebensjahren und positivem Bild von arbeitenden Müttern viele westdeutsche Frauen immer noch neidisch blicken. Harmange weiß um die Radikalität ihres Feminismus, und sie weiß, was sie an Reaktionen von Männern zu erwarten hat, auch von solchen, die sich selbst als links bezeichnen. Ihr Essay beginnt mit genau dieser Szene:

 

Eines Tages schrieb ich auf meinem Blog, dass mich die Faulheit der Männer, ihr Widerwillen sich mit der Sache der Frauen zu beschäftigen müde macht. Ruckzuck kommentierte einer von den Wohlmeinenden anonym: „Du solltest dich vielleicht fragen, warum die Männer nicht davon sprechen wollen. Ein paar Hinweise: die aggressive, um nicht zu sagen hasserfüllte Haltung von Feministinnen gegenüber jedem Mann, der nicht sagt: „Ich schäme mich ein Mann zu sein! Tod den Männern!“ Der Tag, an dem ihr endlich die Beziehungen zwischen Mann und Frau so seht, wie sie wirklich sind, […] , dann werden wir euch zuhören. Bis dahin sieht man euch als frustrierte Weiber mit Bart und ihr tut eurer Sache keinen Gefallen.“

 

Ein Klassiker der avancierten Feminismus-Kritik also, beliebt mindestens seit Schiller 1789 feststellte: „Da werden Weiber zu Hyänen!“

Bekenntnis zur Misandrie

Statt diesen Vorwurf zu entkräften, wie es vor allem liberale, bürgerliche Feministinnen seit den Anfängen des Feminismus zu tun versuchen, zeigt Harmange, welche Funktion er für die Aufrechterhaltung des Patriarchats hat: Die Forderung nach einem gleichberechtigten, freien und sicheren Leben als Frau wird als Misandrie, als Männerhass diskreditiert; der Mann wird wieder zum Ziel und Gegenstand weiblicher Arbeit an sich selbst etabliert.

Harmange zieht daraus die quasi logische Konsequenz: Sie bekennt sich zur Misandrie, sie plädiert für die Abschaffung des Mannes als relevantem Faktor feministischem Engagements und für ein gutes Leben als Frau. Moi les hommes, je les déteste ist der Text, der diese Abkehr begründet. Dazu setzt sich Harmange vor allem mit den Strukturen auseinander, die Frauen davon abhalten, sich der patriarchalen gewaltvollen Realität der eigenen Beziehungs- und Lebensverhältnisse zu stellen. Gleichzeitig feiert sie die emotionale und intellektuelle Befreiung, die es für sie selbst und ihr weibliches Umfeld bedeutet hat zu erkennen, dass nicht sie selbst irgendwie falsch sind, „hysterisch“, unweiblich, sondern die Situation, in der sie leben. Dass das Ganze im wörtlichen Sinne nicht nur System hat, sondern auch eines ist:

 

Ich glaube, dass mich nur kontinuierliche feministische Praxis dahin gebracht hat, die Selbstsicherheit und das Selbstvertrauen zu entwickeln, um zu dieser Haltung (der offenen Misandrie; CD) zu kommen. Man gewinnt an Unerschrockenheit, weil die Zahlen zur Gewalt gegen Frauen in einem soziologischen Rahmen betrachtet und analysiert werden. Man begreift, dass das, was man selbst in den eigenen Beziehungen empfindet, und das so oft als persönliches, individuelles Problem abgewertet wird, eine politische Dimension hat, einen systematischen Charakter. Dass das nicht nur wir sind, die uns da in unserem Kopf was zusammenphantasieren, weil Frauen bekanntlich ja so gerne Dramen provozieren.

 

Später im Text fällt dann auch der Slogan, der die Frauenbewegung von Beginn an prägte „Das Private ist Politisch!“ – eine Aussage, die auch Harmanges Vorgehensweise beschreibt, die eigenen, individuellen Erfahrungen immer wieder auf deren sozialen und geschlechterdynamischen Kontext zu beziehen und deren Funktion darin zu analysieren. Sie schreibt nicht nur darüber,  ihre langjährige Unfähigkeit, Wut und Zorn nicht artikulieren zu können, sondern sie überhaupt erst einmal als solche empfinden zu lernen. Sie reflektiert ihre Sozialisation in die Rolle der empathischen, emotionalen und sozialen Care-Arbeiterin, ohne die im heteronormativen Patriarchat weder Beziehungen, noch Familien, noch der Berufsalltag funktionieren können.

Über die Unterwerfung der Frauen unter das Diktat der Heterosexualität: die äußerliche und innerliche Selbstzurichtung zur für Männer sexuell attraktiven Frau und Sozialstatus-Markern mit Yoga, Fitness Studio, Kosmetik und plastischer Chirurgie, Psychotherapie und Kommunikationskursen, Diäten und Wellness-Wochenende. Über die permanente psychische Überlastung, die damit einhergeht im Patriarchat eine Beziehung mit einem Mann zu führen, weil man selbst an alles denken muss, vom Geburtstag der Mutter bis zum Wäsche aufhängen und dem Müll rausbringen. Über den Mechanismus, die aus diesen Asymmetrien entstehenden Konflikte, Streitigkeiten und Auseinandersetzungen als eigenes Versagen, als eigene Schuld zu interpretieren, während der Mann cool bleibt.

Er spricht von einer Position der Vernunft aus, weil ihn das alles ja nichts angeht,– und damit auch bestimmt, was in einer Beziehung als wichtig gilt und was niedliche oder nervige Petitessen der Partnerin sind. Mental Load, heterosexuelle Partnerschaft als signifikanter Negativfaktor für die psychische und körperliche Gesundheit von Frauen und ihrem Selbstvertrauen – Harmange untermauert mit typischen Szenen aus dem Leben einer Frau in einer heterosexuellen Partnerschaft ihre These, dass Heterosexualität und Patriarchat zusammengehören. Und dass die Heterosexualität eine Falle ist, nicht nur für die Frauen. (In einer längeren Passage schreibt Harmange darüber, wie die heterosexuellen Machtverhältnisse es Jungen und Männern unmöglich machen, über eigene Verletzlichkeiten, Ängste und weiblich codierte Bedürfnisse zu reden – und damit auch die Gewalt unter Männern, vor allem sexualisierte Gewalt und Übergriffe unaussprechbar macht.) Unter Heterosexualität versteht Harmange vor allem den Zwang zur Mann-Frau-Paar-Bildung, die Sexualisierung von Reproduktions- und Care-Arbeit sowie von emotionalen Beziehungen bereits in früher Kindheit.

Ein Raum für Frust, Wut und eigene Ängste

Leser*innen, die alt genug sind, um sich an die Frauenbewegung der 60er und 70er Jahre zu erinnern oder einige Texte dieser Jahrzehnte gelesen haben, wird das bekannt vorkommen: Moi les hommes je les déteste ist die Rückkehr des radikalen Consciousness Raising- und Empowerment-Textes in die aktuelle feministische Debatte. Kate Millet, Shulamith Firestone, Andrea Dworkin, Audre Lorde, Adrienne Rich, Gloria Steinem, Monique Wittig – auf fast jeder Seite des Buches meint man Echos ihrer Stimmen zu hören, ihrer Argumente und ihrer Hoffnung, jenseits der Männer eine freiere, gleichberechtigte und liebevolle Welt zu schaffen. Dahin führt auch für Harmange die Fokussierung des eigenen Blicks auf andere Frauen und vor allem die Fokussierung des eigenen Handelns auf den solidarischen Umgang mit anderen Frauen im eigenen Umfeld und den Aufbau stabiler weiblicher Netzwerke.

Dass eine junge Frau aus Lille 2020 einen Essay schreiben kann oder vielleicht sogar schreiben muss, der in großen Teilen bereits vor fast fünfzig Jahren schon einmal geschrieben worden ist, das kann man traurig und deprimierend finden. So wenig hat sich also in der Sozialisation und im Leben von Frauen geändert. Man kann sich darüber ärgern, dass die Traditionsbildung unter Frauen so schlecht funktioniert, dass alle fünfzig Jahre fast dasselbe wieder gesagt werden muss. Man kann sich wundern, dass in Moi les hommes je les déteste fast keine der großen Mütter, weder des französischen, noch des amerikanischen Feminismus explizit genannt wird oder die Autorin sich auf sie bezieht.

Für die Leser*innen, die Pauline Harmange vermutlich eher im Kopf hatte, als sie ihren Essay für Monstrograph schrieb, sind diese Einwände einer Leserin über 50 wahrscheinlich egal – und das ist gut so. Sie schreibt, wie auf ihrem Blog un invincible été, für junge Frauen, die am Anfang ihrer Karriere als Frauen und Mütter im Patriarchat stehen, also am Anfang ihrer Laufbahn als Sex-, Gefühls-, Versorgungs- und Koch-Dienstleisterinnen, und die sich fragen, warum sie jetzt schon so ein schlechtes Gefühl dabei haben, obwohl doch in Frankreich alles so gut eingerichtet ist, um Kind, Mann und Karriere unter einen Hut zu bringen.

Für die jungen Frauen, deren Energie, Selbstvertrauen und Optimismus, sich ein gutes Leben zu gestalten, bereits in der Schule die ersten Rückschläge erlitten hat und die glauben, das läge an ihnen. Sie strengten sich nicht genug an. Für die ist es am Anfang ihrer feministischen Selbst-Bewusstwerdung egal, ob Harmange die richtigen Theoretikerinnen, die richtigen Begriffe und Konzepte verwendet. Für die ist es wichtig, dass Pauline Harmange ihnen in ihrem Text einen Raum schafft, in dem sie ihren eigenen Frust, ihre Wut, ihre Ängste wiederfinden können – und der ihnen zeigt, dass eine Welt jenseits der Männer nicht nur möglich ist, sondern in Augenblicken weiblicher Solidarität und Freundschaft auch schon da. Und dass Frauen durch praktische Solidarität untereinander diese Welt realer werden lassen – und nicht, in dem man Männer versucht davon zu überzeugen, ihren Arsch in Richtung Gleichberechtigung zu bewegen. Das müssen Männer schon untereinander ausmachen. Das nächste Mal, wenn die Kumpels einen sexistischen Witz machen, ihnen Kontra zu geben, wäre schon mal ein Anfang.

 

Die Übersetzung der Zitate stammt von Christina Dongowski.

Photo by Sinitta Leunen on Unsplash

Nicht kaschierte Distanz – Zum Tod von Ruth Klüger

von Christiane Frohmann

 

 

Als sich am 7. Oktober 2020 auf Twitter die Nachricht vom Tode Ruth Klügers zu verbreiten begann, blickte ich auf der Plattform um mich und sah in viele aufrichtig betroffene Gesichter. Diese Gesichter musste ich nicht buchstäblich sehen, um sie wahrzunehmen, sie formten sich mittels Buchstaben, Worten, Tweets. Unter den Menschen, die da spürbar trauerten, waren auffallend viele, die wichtige Referenzpunkte in meinem persönlichen digitalen Kulturbetrieb bilden, weil sie mir Bücher empfehlen, die mir gefallen, weil sie ehrenamtliche Lektorinnen meiner Essays sind, weil sie auf Konferenzen Dinge sagen, die mich zum Denken anregen, weil ich mit ihnen gern in Verbindung bin, beruflich und privat. Mit Ruth Klüger ist offensichtlich jemand gestorben, der nicht nur für mich, sondern für Menschen im Netz, die mir wichtig sind, besondere Bedeutung hat.

In der Tagesschau am selben Abend wurde über den Tod einer anderen Person berichtet, die vor allem als Komiker bekannt geworden ist, Ruth Klügers Name wurde nicht erwähnt. Nun könnte man verschiedene mögliche Erklärungen dafür finden, warum der Tod des Komikers nachrichtenwürdig erschien, der von Ruth Klüger aber nicht, wie etwa: Die Nachricht von ihrem Tod war der Redaktion noch nicht bekannt. Wenn ich aber diese Nachricht durch den bloßen Umstand, auf Twitter zu sein, ungesucht bekommen habe, sollte eine Redaktion ebenfalls über diese Information verfügen. Eine andere mögliche Erklärung ist: Man hat sich dagegen entschieden, zu berichten, weil Klüger keine deutsche, sondern eine deutschsprachige austroamerikanische Autorin war. Auch diese Erklärung ist kaum befriedigend. Schließlich werden österreichische Autoren wie Handke und Bernhard, aber auch der tschechische Autor Kafka in Deutschland wie ein selbstverständlicher Teil der Nationalkultur behandelt, obwohl sie es faktisch nicht sind. Diese Autoren, so meine These, sind so sehr kanonisiert, dass man die Fremdanteile an ihnen gern ausblendet, um sie als Eigenes führen und fühlen zu können. Was aber die Sachlage angeht, war Ruth Klüger in Deutschland nicht weniger kanonisiert: Trägerin bedeutender Literaturpreise und des Bundesverdienstkreuzes erster Klasse und ihr Buch weiter leben Unterrichtsstoff an vielen deutschen Schulen. Aus mehreren Gründen taugte sie aber nicht für die beschriebene emotionale, aneignende Kanonisierung, der augenfälligste findet sich in ihrer Biografie. Ruth Klüger war eine Überlebende des Holocaust, noch dazu eine, die verweigerte, emotionalisierende Opfergeschichten zu erzählen. Von ihr konnte und kann man lernen, Gewalt nicht durch Romantisierung zu verlängern. Ihre Art des Schreibens und Sprechens war sachlich, analytisch, präzise. In Artikeln ist sie häufig als »schnoddrig« und auch »burschikos« bezeichnet worden, was, auch da, wo es liebevoll gemeint scheint, Ausdruck von Misogynie ist. Autorinnen wird kulturell tradiert und meist unbewusst unterstellt, emotional zu schreiben; tun sie es offenkundig nicht, entlaufen also der Projektion, lösen sie Unbehagen aus.

Ruth Klügers Autobiografie der Jugendzeit weiter leben [1] von 1992 ist eines der wichtigsten Bücher über die Shoa und das Erzählenmüssen des Nichtbegreifbaren. Es ist ein Buch, das trotz seiner strukturellen Paradoxie so gut funktioniert, dass man es selbst im Angesicht des furchtbaren Gegenstands gern liest, was eine herausragende ästhetische Leistung der Autorin ist. Eben, weil es, ohne dass sich der Eindruck bewussten Belehrtwerdens einstellt, Mitgefühl mit den Opfern des Holocaust auslösen und eine Vorstellung davon vermitteln kann, wieso man für die Vermeidung diskriminierender Gewalt verantwortlich ist, sollte es für immer im Lehrplan jeder deutschen Schule auf der Welt erscheinen. (Dieser Vorschlag würde am heutigen Tag in deutschen Kultusministerien vermutlich plausibler wirken, wenn der Tod der Autorin, als er am 7. Oktober bekannt wurde, in der Tagesschau der Rede wert gewesen wäre.)

Als Literaturwissenschaftlerin hat Ruth Klüger früher als andere Themen behandelt, die aktuell viel diskutiert werden, etwa Frauen lesen anders (1996), Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur (2006) und Was Frauen schreiben (2010). Nicht nur inhaltlich, auch was jargonfreies Schreiben und akademische Karriere angeht, sehen viele Frauen in ihr ein Vorbild. Hier muss aber bei aller verständlichen Identifikationsbegeisterung eine bestimmte Form respektvoller Distanz gewahrt bleiben. Es ist die gleiche Distanz, die man wahren sollte, wenn man sich als weiße cis Frau feministisch auf Audre Lorde bezieht. Um keine kulturelle Aneignung zu betreiben, muss man immer miterzählen, dass Lorde eine Schwarze und lesbische Aktivistin gewesen ist – darauf hat mich Asal Dardan einmal in einem Gespräch aufmerksam gemacht. Daher ist es wesentlich, auch Ruth Klüger nicht, indem man sich durch viele geteilte Interessen und Blickwinkel dazu hinreißen lässt, als »eine von uns« zu vereinnahmen und so das Inkommensurable des Holocaust auszublenden. Ruth Klüger hat sich mit keinem Text und auch nicht mit ihrem persönlichen Auftreten als schwesterliche Identifikationsfigur angeboten.

Man ist eher geneigt, sie mit Vokabular aus der Ästhetik des Erhabenen zu beschreiben. Auf gewohnte Weise konnte man Ruth Klüger nicht nahekommen, weil Kräfte wirkten, die weder sie noch man selbst kontrollieren konnte. Akzeptierte man aber diese Nähe mit existenziellem Abstand, stellte sich unmittelbar ein tiefes Gefühl von Achtung, Ehrfurcht und Respekt für sie und ihr Denken ein. Der erhabenen Wirkung lag dabei keinerlei geniekulthafte Selbsterhebung zugrunde. Außerordentlich war, dass Ruth Klüger Trennendes – grundsätzliche Unvereinbarkeit ebenso wie temporäre Meinungsverschiedenheiten – nicht mit Höflichkeit kaschierte. Wo es kein Wir gab, wurde es spürbar, und wenn sie etwas falsch oder unangemessen fand, sagte sie es. Eine Frau, die sich nicht die ganze Zeit entschuldigt, ist auch heute noch ungewöhnlich. In Kombination mit ihrer distanzierten Ausstrahlung hat dies auf viele Menschen wohl so irritierend gewirkt, dass man ihr das Etikett »schwierig« verpasste.

Ich habe Ruth Klüger 2011 in eben dieser Erwartung kennengelernt, auf eine schwierige Person zu treffen. Das Gegenteil war der Fall. Wir haben per Mail kommunizierend ein E-Book zusammen publiziert, es war mein erstes Projekt als Verlegerin. Die Arbeit lief sehr professionell ab. Zwischendurch hatte ich einmal eine Idee, die ihr nicht gefiel, sie sagte es, ich verstand ihre Gründe, nahm von der Idee Abstand, der Rest war ein Selbstläufer.

Der Text, den wir damals als E-Book veröffentlichten, hieß Anders lesen. Bekenntnisse einer süchtigen E-Book-Leserin und darin stehen Sätze, die meine These stützen, dass »digital native« ein unsinniges Konzept und das Digitale vielmehr eine Haltung ist, die nichts mit biologischem Alter zu tun hat.

»Gelesen und geschrieben wurde aber schon vorher, jahrtausendelang, viel große Literatur und übrigens auch einige heilige Schriften. Dazu brauchte es keine Buchdeckel, sogar Papier war unnötig. Warum soll denn nun die große Tradition der Schriftlichkeit ausgerechnet von der Methode ihrer Konservierung abhängen, die sich erst am Anfang der Neuzeit durchgesetzt hat?«

Von der Agentur, die Ruth Klüger damals vertrat, wurde ich zu einem gemeinsamen Essen mit ihr eingeladen. Ich war so aufgeregt, dass ich im Verlauf des Abends meine Yves-Saint-Laurent-Tasche ins Klo fallen ließ. Trotzdem brachte ich irgendwie den Mut auf, Ruth Klüger an diesem Abend eine sehr niedliche, extrem kitschige Brosche mitzubringen und zu schenken, eine Maus mit einer Lesebrille. Es war so ein Moment, der nur entsetzlich oder großartig werden konnte. Ich hatte Glück, sie war hocherfreut.

Anlässlich der Veröffentlichung des E-Books gab es am nächsten Tag ein Bühnengespräch an der Freien Universität Berlin, bei dem Ruth Klüger einen Satz sagte, der der Buchbranche, würde sie Autorinnen zuhören, viele Buch-vs.-E-Book-Diskussionen hätte ersparen können.

»Es ist sinnlos, diese Revolution zu beklagen, sie findet einfach statt.« [2]

Während auf der Bühne eine um die 80-Jährige und eine um die 40-Jährige ihrer Begeisterung für das digitale Lesen Ausdruck verliehen, runzelte im Publikum eine um die 20-Jährige die Stirn und schwärmte wehmütig von Anstreichungen ihres Großvaters in ihr vererbten Printbüchern. Ruth Klüger und ich warfen uns tiefe Blicke zu, aufrichtig erstaunte, weil man immer wieder vergisst, dass auch junge Menschen konservativ sein können.

Beim anschließenden Essen im Restaurant fragte sie mich die üblichen Sachen, die Frauen im akademischen Rahmen einander fragen. »Kinder?« »Ja.« »Promoviert?« »Irgendwann aufgehört.« Kopfschütteln, nicht über mich, sondern über das System. Ich bat sie, mir die Geschichte mit dem übergekippten Wein zu erzählen. Ein Kollege hatte ihr, wohl weil sie zuvor auf Avancen von ihm nicht eingegangen war, hinter ihrem Rücken Antisemitismus unterstellt, was sie so empörte, dass sie ihm bei einem Universitäts-Event ein Glas Weißwein übergoss. Meine Vermutung, welcher »faule, aber gescheite Kafka-Forscher“ sich hinter S. in unterwegs verloren (2008) [3] – dort wird die Begebenheit wiedergegeben – verbarg, erwies sich als richtig. (Der reale S. war der erste Professor gewesen, von dem ich bei meinem Studienjahr in den USA hörte, dass er bei Sprechstunden die Bürotüre offen stehen lassen musste, 20 Jahre vor #metoo.) Ruth Klügers Rat, einen so dickaufgetragenen Auftritt nur einmal im Leben hinzulegen, habe ich beherzigt, er steht uns allen noch bevor. Zum Abschied sagte sie zu mir, dass ich mich erst wieder mit einem neuen Verlagsangebot bei ihr melden dürfte, wenn ich meine Dissertation abgegeben haben würde. Dies wird nun nicht mehr möglich sein. Eine befreundete Verlegerin erzählte mir, dass sie Ruth Klüger ebenfalls mal ein Projekt angetragen und diese daraufhin zurückgeschrieben hätte: »Nein danke, ich habe schon eine sehr gute E-Book-Verlegerin.«

Ruth Klüger hat erst im Alter von 60 Jahren, als sie Gastprofessorin in Göttingen war, begonnen, in deutscher Sprache zu schreiben und damit auch ihren Namen mit Deutschland zu verbinden. Am 27. Januar 2016, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, wurde den Mitgliedern des Deutschen Bundestags die Ehre zuteil, dass Ruth Klüger eine Rede vor ihnen hielt. Sie entwarf darin ein hoffnungsvolles, einen froh stimmendes Bild von Deutschland, das in den vergangenen Jahren mit dem Wiedererstarken von Nationalismus und rechter Gewalt wieder an Plausibilität verloren hat.

»Dieses Land, das vor achtzig Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war, hat heute den Beifall der Welt gewonnen, dank seiner geöffneten Grenzen und der Großherzigkeit, mit der Sie die Flut von syrischen und anderen Flüchtlingen aufgenommen haben und noch aufnehmen. Ich bin eine von den vielen Außenstehenden, die von Verwunderung zu Bewunderung übergegangen sind.« [4]

Wir sollten uns das Vertrauen von Ruth Klüger verdienen.

Die Autorin, die Literaturwissenschaftlerin, die Person Ruth Klüger hat jede Bewunderung verdient. Menschen, die sagen, dass Diskriminierungsbetroffene keine Wissenschaftler*innen sein könnten, Autobiografisches Literatur zu Boden ziehen würde und Literatur mit Haltung Ideologie wäre – sie alle werden durch sie widerlegt. Ruth Klüger ist am 6. Oktober 2020 in Irvine, Kalifornien gestorben. Ihr Name darf in Deutschland nicht vergessen werden.

 

[1] https://www.dtv.de/buch/ruth-klueger-weiter-leben-11950
[2] https://www.tagesspiegel.de/wissen/digital-versus-gedruckt-fu-studenten-verteidigen-das-gute-alte-buch/5831650.html
[3] https://www.dtv.de/buch/ruth-klueger-unterwegs-verloren-13913
[4] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2016/kw04-gedenkstunde-rede-klueger-40343

Zwischen Bestseller und Special Interest – Carmen Machado im Spannungsfeld queerer Literatur

von Cordula Kehr

 

Im Mai sendete This American Life eine Podcastfolge mit dem Titel Stuck. Die Episode besteht wie immer aus mehreren Geschichten – diesmal von Menschen, die das Gefühl haben, sich in einer ausweglosen Situation zu befinden. Eine dieser Geschichten ist ein Kapitel aus Carmen Maria Machados Memoir In the Dream House (2019). Darin erzählt Machado von dem Gefühl, in einer gewaltvollen Beziehung gefangen zu sein – als interaktives Chose-Your-Own-Adventure, bei dem jede Entscheidung, also jeder Sprung auf die nächste Seite, nur im Kreis herumführt.

Was mich sofort faszinierte: Der Text fordert maximale Involviertheit beim Lesen, denn die Handlung entsteht mit den eigenen Entscheidungen. So wird eine sehr persönliche Geschichte – Machados eigene Erfahrung von häuslicher Gewalt in einer lesbischen Beziehung – zu einer begehbaren Anordnung. Unabhängig davon, ob ich ihre Erfahrung teile, bin ich aufgefordert, mich im klaustrophobischen Setting einer dysfunktionalen Beziehung zu bewegen. Ich bekomme das Gefühl, selbst etwas zu durchleben.

Auf dem Büchertisch bei Karstadt

Einen Text über Homosexualität zu schreiben, heißt ein Risiko einzugehen, schreibt Monique Wittig 1982 in ihrem Essay The Point of View: Universal or Particular?. Sie beobachtet darin ein problematisches Rezeptionsphänomen: Texte von homosexuellen Autor*innen, in denen Homosexualität eine Rolle spielt, werden häufig nur von Homosexuellen gelesen, weil die Perspektive der Autor*innen nicht als allgemeingültig verstanden und anerkannt wird.

“Writing a text which has homosexuality among its themes is a gamble. It is taking the risk that at every turn the formal element which is the theme will overdetermine the meaning, monopolize the whole meaning, against the intention of the author who wants above all to create a literary work. […] When this happens, the text […] is subjected to disregard, in the sense of ceasing to be regarded in relation to equivalent texts. […] It is interesting only to homosexuals.”[1]

Seit den 1980er Jahren ist das Angebot an queeren Figuren in der Literatur (und vor allem auch im Film) stark gewachsen. Queere Autor*innen haben bessere Zugänge zu großen Verlagen und auch die Themen, die sie verhandeln (können), sind vielfältiger geworden. Als Didier Eribons Rückkehr nach Reims 2016 auf Deutsch erschien, wurde es im Feuilleton vor allem als politische Analyse des europäischen (und US-amerikanischen) Rechtsrucks besprochen.[2] Édouard Louis‘ Im Herzen der Gewalt wird als „persönliche wie gesellschaftlich durchdringende Analyse über das Erwachsenwerden, Begehren, Migration und Rassismus“ beworben und Ocean Vuongs Auf Erden sind wir kurz grandios als Erzählung über das „migrantische, arme Amerika“. Diese Bücher sind Bestseller. Sie haben es auf den Büchertisch bei Karstadt geschafft. Sie sind auch Texte schwuler Autoren, in deren Zentrum autobiografische Erfahrungen stehen. Anders als Wittig attestiert, führt Homosexualität als Thema inzwischen seltener dazu, dass das Buch eines homosexuellen Autors seinen universalen Anspruch verliert.[3]

Aber gilt das auch im gleichen Maße für das Buch einer queeren Autorin, die sich selbst als „racially ambiguous fat woman“ beschreibt und die mit In the Dream House einen Text geschrieben hat, der explizit häusliche Gewalt in einer lesbischen Beziehung thematisiert? Bisher hat In the Dream House es weder auf den englischsprachigen Büchertisch bei Karstadt geschafft, noch auf den bei Eisenherz (Buchhandlung mit einem der größten Sortimente an schwuler und auch queerer Literatur in Berlin). Susanne Krones, Programmleiterin beim Penguin Verlag, erklärte unlängst im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur, dass Verlagsmitarbeiterinnen sich bei Titeln von Autorinnen zu so genannten Frauenthemen häufig fragten, ob sie diese verlegen sollten, weil ihnen die Themen so spezifisch erschienen. Simoné Goldschmidt-Lechner bemerkte in diesem Magazin, dass es für marginalisierte Autor*innen (insbesondere für Frauen of Colour) im Literaturbetrieb ein Kontingent zu geben scheine. Obwohl die Diversität im Literaturbetrieb insgesamt zunehme, finde die Vielfalt innerhalb marginalisierter Communities noch nicht genügend Raum.

In the Dream House bewegt sich in diesem Spannungsfeld queerer Literatur. Einerseits spielt Machado mit queeren Genres und setzt queere und lesbische Erfahrung ins Zentrum ihres Textes. Andererseits stellt ihr Memoir die Hierarchisierung von universaler und spezifischer Perspektive in Frage und zielt – ähnlich wie Édouard Louis in Im Herzen der Gewalt – darauf, aus ihrer spezifischen Perspektive gesellschaftliche Mechanismen von Gewalt aufzudecken.

Dream House als queere Stilübungen

Ein gutes Beispiel für lineares Erzählen ist David Lynchs The Straight Story. Ein Mann fährt auf seinem Rasenmäher immer geradeaus, seinem Tod entgegen. Im Gegensatz dazu lässt sich Machados Erzählweise in In the Dream House queer nennen. In 104 Kapiteln erzählt sie Facetten ihrer Beziehung zu der Frau im Dream House, Facetten der emotionalen Manipulation und psychischen Gewalt, die sie in dieser Beziehung erlebt hat. Dabei folgt jedes Kapitel einem eigenen Genre oder einer Stilfigur, schafft eine eigene Atmosphäre oder greift einen Topos romantischer Beziehungen und (lesbischer) Popkultur auf: „Dream House as Bildungsroman“, „Dream House as Sci-Fi Thriller“, „Dream House as Romance Novel“, „Dream House as Haunted Mansion“, „Dream House as Meet the Parents“, „Dream House as Lesbian Cult Classic“, „Dream House as Mrs. Dalloway“, um nur einige davon zu nennen. Anders als Raymond Queneau, der in seinen Exercices de style insgesamt 99 Mal die selbe Begebenheit variiert, sind bei Machado die einzelnen Kapitel immer weitere Bruchstücke einer Geschichte. Diese stilistische Vielfalt lässt sich queer nennen, weil sie sich nicht auf eine Form festlegen lässt, sondern lustvoll Genres wechselt und aus einem nahezu unbegrenzten Repertoire queerer Anspielungen und Codes schöpft.

Die Virtuosität dieses Spiels bewirkt ein intellektuelles Lesevergnügen, das neben den erzählten Gewalterfahrungen steht und diese kontrastiert. Das gilt auch für die Kommentarebene, die Machado nach einigen Kapiteln einzieht. In Fußnoten beginnt sie, auf Motive aus Märchen, Mythen und Fabeln zu verweisen. So werden unscheinbare Alltagsmomente doppelbödig, da sie auf Tabus dieser Genres anspielen: nicht sprechen dürfen, einen bestimmten Raum nicht betreten dürfen, nicht zurückblicken dürfen etc. Gleichzeitig wird durch das Zitat der Volksliteratur eine Kultur ins Licht gerückt, die permanent und wie selbstverständlich Gewalt gegen Frauen erzählt. Von Blaubart bis Carmen – Machado kontextualisiert ihre persönliche Erfahrung von psychischem Missbrauch in dieser Kulturgeschichte.  

„And haven’t men been gaslighting women, abusing their lovers, harassing their girlfriends, murdering their wives for as long as human history has existed? And isn’t their violence always a footnote, an acceptable causality? David Foster Wallace threw a coffee table at Mary Karr and pushed her out of a moving car, but no one ever really talks about it. […] In Mexico, William Burroughs shot Joan Vollmer in the head; her death, he said later, made him into a writer.”

Dabei dreht Machado das Verhältnis von Fußnote und Haupttext um. Ihre Perspektive, ihre Erfahrung als queere Frau of Colour, steht im Zentrum. Die Volksliteratur, die die Selbstverständlichkeit von Gewalt gegen Frauen tradiert, wird zur kontextualisierenden Erläuterung.

„the last thing queer women need is bad fucking PR“

Die Gewalt gegen Frauen, die Machado in der Kulturgeschichte findet, geht fast ausschließlich von Männern aus. Das entspricht der Statistik. Gewalt in lesbischen Beziehungen ist darüber hinaus aber auch schlecht dokumentiert. Keine große Überraschung. Das Archiv ist ein exklusiver Club und queere Geschichtsschreibung insgesamt lückenhaft. Doch Machado zeigt an einigen gut recherchierten Beispielen, dass Medien und Gerichte lange Zeit Gewalt in lesbischen Beziehungen nicht erfassen konnten oder wollten. „Was she a scorned lover or a madwoman? But to be a scorned lover, she’d have to be – they’d have to be – ?”

In Literatur und Film gibt es genug böse queere oder queer codierte Figuren. So viele, dass Machado mit „Dream House as Queer Villainy“ dem Topos des queeren Verbrechers ein eigenes Kapitel widmet. Lesbische Figuren neigen als „villain“ dazu, eine wahnhafte, bisweilen sogar mörderische Obsession zu Frauen zu entwickeln, die sie zurückweisen. Und es gilt: Je stärker die lesbischen Frauen von einer normativen Weiblichkeit abweichen, desto gefährlicher sind sie. Oder anders gesagt: Je böser, desto butch.

Für queere Autor*innen liegt der Wunsch nahe, dieser stereotypen Überzeichnung etwas entgegenzusetzen. Queere Menschen, betont Machado, brauchen gute PR, um für Gleichberechtigung zu kämpfen und die Rechte zu verteidigen, die bereits erstritten wurden. Denn die Repräsentation queerer Figuren in Literatur und Film, die Erfolge und Fehltritte bekannter queerer Persönlichkeiten wirken sich darauf aus, wie queere Menschen von ihren Mitmenschen gesehen werden, ob sie als gleichberechtigt anerkannt werden oder nicht. „But that’s the minority anxiety, right? That if you‘re not careful, someone will see you – or people who share your identity – doing something human and use it against you.”

Wenn Machado in ihrem Memoir davon erzählt, dass ihre lustvolle und sexpositive Beziehung zu der Frau im Dream House auch gewaltvoll ist und immer gewaltvoller wird, riskiert sie, dass ihre Geschichte weder als individuelle Erfahrung, noch als Teil einer allgemein menschlichen Erfahrungswelt, sondern als prototypisch für lesbische Beziehungen (miss)verstanden wird. Queere Sexualität ist aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft immer deviant und deswegen schnell verdächtig. Solange das Bild von queerer Sexualität, das im Mainstream dominiert, eindimensional ist, können Nuancen individueller Erfahrungen nur schwer sichtbar gemacht werden. Weil es den Topos der „obsessiven Lesbe“ gibt, fühlt sich das Erzählen über die Frau im Dream House teilweise wie „bad fucking PR“ an. Indem Machado diesen Zusammenhang reflektiert und offenlegt, zeichnet sie ein differenziertes Bild queerer Sexualität und queerer Beziehungen, das auch die lesbische Community nicht schont, die häusliche Gewalt gerne als patriarchal externalisiert.[4]

Die Verleihung des Nobelpreises für Literatur wird häufig damit begründet, dass der Autor (seltener auch die Autorin) in seinem Werk eine universal menschliche Erfahrung beschreibt: „die Spezifizität menschlicher Erfahrung“ (Handke, 2019), „sein Werk von universaler Güte“ (Gao Xingjian, 2000), „eine herausfordernde Vision menschlichen Ausgesetztseins“ (Camilo José Cela, 1989), „das Drama des menschlichen Seins“ (Wole Soyinka, 1986), „Schilderung menschlicher Grundbedingungen“ (Claude Simon, 1985) usw. Doris Lessing hingegen ist die „Epikerin weiblicher Erfahrung“.

Machado gelingt es mit In the Dream House das Spannungsfeld zwischen spezifischer Erfahrung und universalem Anspruch zu navigieren: Sie „übersetzt“ das Queere oder Lesbische ihrer Erfahrung nicht, verzichtet nicht auf Nuancen, macht es nicht „verdaulich“, aber nachvollziehbar. Ihr Buch bietet eine differenzierte gesellschaftliche Analyse von häuslicher Gewalt – aus ihrer Perspektive. Ich würde mir wünschen, In the Dream House bald auf dem Büchertisch bei Karstadt zu entdecken.

 

 

[1] Monique Wittig: The Point of View: Universal or Particular? In: The Straight Mind and Other Essays. Boston: Beacon Press 1992, S. 62f. Der Essay ist bereits 1982 auf Französisch als „Avant-note“ zu La Passion von Djuna Barnes erschienen. Die Übersetzung stammt von Wittig selbst.

[2] „Hören Sie, ich weiß nicht, was ihr alle wollt. Ich habe ein Buch über meine Mutter geschrieben und jetzt soll ich Brexit, Trump und die Welt erklären“, äußerte sich Eribon diesbezüglich im Interview mit der Süddeutschen Zeitung.

[3] Es mag helfen, dass Eribon und Louis diesen Anspruch durch Referenzen auf soziologische Fachtexte direkt selbst formulieren.

[4] Machado schreibt: „But some lesbians tried to restrict the definition of abuse to men’s actions. Butches might abuse their femmes, but only because of their adopted masculinity. Abusers were using ‘male privilege’.”

 

 

Photo by Andrew Ridley on Unsplash

 

Kunstautonomie als rechtes Ideal – Von Neo Rauch bis Uwe Tellkamp

von Peter Hintz

 

Wie mit einem ekelerregenden, persönlichen Angriff auf die eigene publizistische Arbeit umgehen? Der neue, gerade bei Wagenbach erschienene Essay Feindbild werden des Kulturwissenschaftlers Wolfgang Ullrich ist nicht nur Resümee seines Konflikts mit dem weltberühmten Leipziger Maler Neo Rauch, sondern zeigt, wie Ullrich im Modus der kunsttheoretischen Analyse wieder Distanz zu Rauch herstellen will. Rauch hatte letztes Jahr ein großformatiges Schmähporträt von Ullrich gemalt, das den ebenfalls in Leipzig lebenden Kritiker als sogenannten “Anbräuner” karikierte, der aus seinen Fäkalien Nazi-Vorwürfe auf eine Leinwand malt. Daraufhin wurde Ullrich zum Ziel rechter Blogs gemacht, die ihn nun mit einem digitalen Shitstorm überzogen, und zum Hohn versteigerte Rauch schließlich sein Gemälde auf einer großen Charityauktion.

Anhand öffentlicher Äußerungen (unter anderem von Rauch) hatte Ullrich zuvor in einem ZEIT-Beitrag gezeigt, wie einige Gegenwartskünstler einerseits rechte politische Positionen beziehen, andererseits aber die Werkautonomie für sich reklamieren – als Schutzschild gegen politische Verantwortung. So hatte Rauch, wie der Maler Axel Krause oder der Schriftsteller Uwe Tellkamp, in Interviews die BRD mit der DDR gleichgesetzt. Nach diesem Geschichtsbild könne man auch jetzt nicht alles – sprich heute in der Regel: Sexistisches, Rassistisches – sagen, ohne als Faschist deklariert und ausgegrenzt zu werden. Folgt man Ullrich, bilden die Werke von Rauch und Krause Landschaften ab, die zwar als antimoderne Imaginationen gedeutet werden können, aber gerade in ihrem Mangel an unverrätseltem Gegenwartsbezug sozial und politisch unabhängig verstanden sein wollen. Ullrich stellte in seinem Essay die These auf, dass vor allem die Idee künstlerischer Autonomie heute zu antiemanzipatorischen Zwecken ausgelegt werde, was ihre ursprüngliche, von linken Künstlern aber aufgegebene Intention – die Befreiung von repressiven Normen – verkehre. Die Kunstautonomie scheine heute also vor allem ein Interesse der Rechten zu sein.

Mit seinem Schmähporträt lieferte Rauch zumindest teilweise einen Gegenbeleg zu Ullrichs These: Dieses Bild macht offen Politik, verunglimpft einen ungeliebten Kritiker und eine vermeintlich insgesamt linksliberale intellektuelle Szene, indem es ihr auf drastische Weise eigenes Talent und Urteilsfähigkeit abspricht. Damit einher geht aber auch die Forderung an diese Kritiker, nicht mehr nach außerästhetischen Maßstäben zu urteilen, was durchaus Ullrichs These entspricht, dass die herrische Forderung nach Autonomie zu einer rechten Strategie geworden ist. Natürlich ist entgegen der rechtspopulistischen Unterstellung das Urteilen nach ‘klassischen’ ästhetischen Maßstäben in der Kritik nie verschwunden. Kolja Reichert etwa wies in einem kritischen FAZ-Kommentar zum Werk von Axel Krause unter anderem darauf hin, dass Krause malerisch “vulgär” und “ungeschickt” sei. Zuvor hatte Ullrich einmal die immer wiederkehrenden, pseudo-bedeutungsvollen Collagen Rauchs kritisiert, eine ähnliche Stilkritik, die Reichert auch Krause gemacht hat. Und Ullrich war in seinem ZEIT-Artikel vorsichtig bemüht gewesen, Rauchs Bildwelten nicht pauschal dem Rechtsradikalismus zuzuschlagen.

Schon durch seine unmittelbare Reaktion auf die Veröffentlichung des Bildes im Juni 2019 wird deutlich, wie sehr Ullrich sich persönliche Distanz zu Rauch wünschte: Wie aus einem damaligen Interview mit dem Deutschlandfunk und nun auch aus seinem Buch hervorgeht, interpretierte er die Figur des “Anbräuners” zunächst gar nicht als Abbildung von sich selbst, sondern als Symbol für einen unter Konformitätsdruck stehenden Gegenwartskünstler. Erst mit der Zeit wurde Ullrich klar, dass tatsächlich er selbst dort verächtlich gemacht werden sollte.

Auf einer neuen distanzierenden, analytischen Ebene verknüpft Ullrich in Feindbild werden seine These vom sich nach rechts verschobenen Autonomiegedanken mit der kultursoziologischen Annahme, dass sich daran auch die deutsche Ost-West-Spaltung ablesen lasse. So seien die heutigen Verteidiger der Werkautonomie in der DDR sozialisierte Künstler, die nach der Wende keinen Anschluss an den westdeutschen Kunstbetrieb gefunden hätten. So sei insbesondere Ullrich, der nicht aus der DDR stammt und erst vor einigen Jahren nach Leipzig gezogen ist, für Rauch zum Symbol westdeutschen Ressentiments gegen ostdeutsche Künstler geworden. Möglicherweise schenkt Ullrich hier der beliebten argumentativen Verknüpfungen von berechtigten Gefühlen des ostdeutschen Abgehängtseins als Ausgangspunkt einer reaktionären politischen Positionierungen zu viel Glauben. Und auch wenn zweifellos der Autonomiegedanke von rechts politisch aufgeladen wurde, ist doch fraglich, inwiefern das ein spezifisch ostdeutsches Phänomen ist. Im Bereich der Literatur ist der Rekurs auf die Werkunabhängigkeit eine Argumentationsfigur, die bei prominenten Autoren aus dem ganzen deutschsprachigen Raum – von Peter Handke bis Uwe Tellkamp – immer beliebter wird, um eine Schutzzone vor politischer und ethischer Wertung aufzubauen. Der rechte Diskurs, an den auch Rauch in seinen Interviews anknüpft, speist sich mindestens zu gleichen Teilen aus ost- und westdeutschen Akteuren, die gern den Osten als Projektionsfläche für gemeinsame, antimoderne Fantasien nutzen.

In der künstlerischen Umsetzung dieser Ostdeutschland-Fantasien spielen aus der DDR stammende Schriftsteller und Maler aber sicherlich bisher die größere Rolle. Uwe Tellkamps vor einigen Monaten erschienene Schlüsselerzählung Das Atelier fiktionalisiert die gegenwärtige reaktionäre Künstlerszene um Rauch. Deren Ateliers erscheinen darin wie eine Mischung aus Bibliothek und Küchentisch, an dem mit Hilfe von Geschichte und Ästhetizismus die sächsische – oder genauer: Dresdner – Identität konstruiert wird. Romantik, Expressionismus, Realismus usw. werden in exkursartigen Monologen von den Figuren vor allem dahingehend vorgestellt, welcher Künstler wann mal was im Elbtal gemalt hat und wie das zur regionalen Eigenart beitrage. Diese steht dabei nicht nur in Differenz, sondern in Dissidenz zur Außenwelt, was die Erzählung bei allem kunstreligiösen Pathos deutlich politisch auflädt. So wird zum Schluss selbst das romantische Vesuvmotiv als “Dresdner Vulkan” gedeutet, weil es diesmal “im Jahr Fünfzehn” in Dresden weltbewegend “gerumst” habe, ein offenkundiger Verweis auf das Entstehen der rassistischen PEGIDA-Bewegung. Interessanterweise vergleicht Ullrich die Ablehnung, die Tellkamp seit seiner zunehmend offen rechtsradikalen Positionierung im Literaturbetrieb erfahren hat, mit der ungebrochenen Popularität Rauchs auf dem internationalen Kunstmarkt. Finanziell hat Neo Rauch ungemein von Liberalisierung und Globalisierung seit der Wende profitiert. Es ist auch dieser schnöde Geldwert von Kunst, der zum Ursprung von Behauptungen künstlerischer Unabhängigkeit gehört.

 

Photo by David Pisnoy on Unsplash