Jahr: 2020

Geschlechtervielfalt lesen – Geschlechtervielfalt schreiben [Queering Literaturbetrieb]

 

Neue Kolumne: Queering Literaturbetrieb
In den letzten Jahren ist ein Trend queerer Literatur auszumachen, in Übersetzung feiern Autor*innen wie Ocean Vuong, Maggie Nelson oder Edouard Louis große Erfolge. Dennoch haben queere Autor*innen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, aber auch im Literaturbetrieb, immer noch zu wenig Präsenz und Mitspracherecht. Diskriminierung, Sexismus, LGBTIQ+-Feindlichkeiten und Ignoranz gehören leider weiterhin zum Alltag. Die neue Kolumne Queering Literaturbetrieb widmet sich in kurzen Essays den Dissonanzen zwischen Literaturproduktion und Verlagswesen. Sie fragt nach dringlichen Themen und Diskursen innerhalb der Gruppe der queeren Schreibenden. Eva Tepest, Katja Anton Cronauer, Kevin Junk und Alexander Graeff haben sich als Autor*innen zusammengeschlossen, um mit dieser neuen Kolumne den aktuellen Wasserstand der queeren, deutschsprachigen Literatur auszuloten. Sie wollen mit ihren Essays individuelle Erfahrungen aus den verschiedenen Berufs- und Lebensrealitäten zusammentragen und zugleich ein größeres Bild von aktuellen Chancen, Ambivalenzen und Missständen aufzeigen.

 

Eine Kolumne von Katja Anton Cronauer

 

“Ich würde für andere Menschen gerne irgendwann das Vorbild sein, das ich als Jugendlicher nie hatte,” schreibt Linus Giese in seinem autobiografischen Buch Ich bin Linus: Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war (Rowohlt Taschenbuch, 2020), das im August dieses Jahres erschienen ist und es auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft hat. Vor allem in dem Kapitel Queere Vorbilder schreibt Giese über die Wichtigkeit von Vorbildern und dass er sich „mehr Filme und Serien mit trans Menschen” wünscht, was sicher auch für Bücher gilt. Er beschreibt, wie befreiend und erleichternd es sein kann, Geschichten von Menschen zu sehen und zu lesen, die sind wie eins selbst. Vorbilder ebnen den Weg, um zu sich stehen zu können und um anderen Menschen zu vermitteln, dass es okay ist, trans oder queer zu sein. In diesem Sinne enthält auch das Buch Queer Heroes (Prestel Junior, 2020) von Arabelle Sicardi 53 inspirierende Kurzporträts queerer Künstler:innen, Schriftsteller:innen, Wissenschaftler:innen, Unternehmer:innen, Sportler:innen und Aktivist:innen, darunter sechs trans Personen.

Sind trans Themen also in der Literatur angekommen? Haben wir ausreichend Repräsentation dieser Bevölkerungsgruppe? Leider nicht. Trans Themen sind eklatant unterrepräsentiert. Mit der Qualität steht es auch nicht zum Besten. Was Intergeschlechtlichkeit und nicht-binäre Geschlechtsidentitäten angeht, sieht es sogar noch schlechter aus (Queer Heroes ist, was die Darstellung von inter und nicht-binären Menschen betrifft, exemplarisch: Es enthält nur ein Porträt einer intergeschlechtlichen und keine Porträts von nicht-binären Personen.). Woran liegt das? Doch zunächst einmal:

Wieviele Bücher zum Thema gibt es?

Dieses Jahr werden laut buchhandel.de insgesamt 153265 [1] Titel (Bücher und e-Books – alle Zahlen vom 13.09.2020) veröffentlicht. Eine Stichwortsuche nach den Begriffen transgender, transgeschlechtlich, transsexuell, transident sowie den zugehörigen Substantiven (mit den Suchbegriffen transgender,*, transsexu*, transident* und transgeschl*) liefert lediglich 183 Titel. Das entspricht 0,12% aller in diesem Jahr veröffentlichten Titel. Schätzungen für den Anteil von trans Menschen in der Bevölkerung liegen bei 0,25 bis 0,6%. Damit ist das Thema Trans eindeutig unterrepräsentiert.

Beim Thema Intergeschlechtlichkeit (Stichwortsuche intergeschl* und intersex*) sieht es noch schlechter aus, dazu gibt es sogar nur 31 Titel, was 0,02% entspricht. Laut der Vereinten Nationen und einer Studie von Anne Fausto-Sterling (siehe S. 51 in Sexing the Body) liegt der Anteil an inter Menschen jedoch bei 1,7%. Die Unterrepräsentation in der Literatur ist hier somit noch ausgeprägter als beim Thema Trans.

Wieviele Menschen in Deutschland sich als nicht-binär verorten ist nicht bekannt. Im Rahmen der ZEIT-Vermächtnisstudie 2016 gaben von 3.104 Befragten 3,3% an, „entweder ein anderes Geschlecht zu haben als bei ihrer Geburt zugewiesen oder sich schlicht nicht als weiblich oder männlich zu definieren“. [2] Ohne die Prozentzahlen für inter und trans Personen, bleiben hier noch zwischen 1,00 und 1,35%. Suche ich auf buchhandel.de mit dem Stichwort nicht-binär, erhalte ich zwei Treffer, von denen sich ein Buch jedoch dem Thema Inter widmet und bei dem anderen unklar ist, ob es tatsächlich um nicht-binäre Geschlechtsidentität geht. Die von Eliah Lüthi herausgegebene Anthologie beHindert& verRückt: Worte_Gebärden_Bilder finden (edition assemblage, 2020), die Beitrage von nicht-binären Personen enthält, erscheint dagegen nicht. Doch selbst wenn mensch in Betracht zieht, dass bei einigen, vermutlich wenigen, Büchern im Sortiment von buchhandel.de die korrekten Stichwörter fehlen, sind trans, inter und nicht-binäre (tin) Menschen in der Literatur insgesamt eindeutig unterrepräsentiert.

Es wäre jedoch keine sinnvolle Lösung, den Anteil an Büchern, die tin Charaktere enthalten oder von tin Autor:innen geschrieben sind, bei bestehenden Standards lediglich zu erhöhen und einfach mehr Bücher zu veröffentlichen, die sich diesen Themen widmen. Gerade in einem Bereich, über den in großen Teilen der Leser:innenschaft noch immer viel Unwissen herrscht, ist es mit der simplen Erhöhung von Repräsentation nicht getan. Denn selbst unter den Büchern, die es hier schon gibt, finden sich zahlreiche, die ihrem Thema nicht gerecht werden. Als Betreiber von trans*fabel – einem Webshop mit Büchern und Kunst zum Thema jenseits des 2-Geschlechtersystems, habe ich den Anspruch, die Bücher vor Aufnahme in den Shop möglichst zu lesen. Auch um für eine gewisse Qualität zu sorgen. Eine oft frustrierende Aufgabe.

Qualitativ fragliche Buchinhalte

Viele der veröffentlichten Bücher stellen tin Personen als Sensation dar, misgendern oder exotisieren sie, wie Frankissstein von Jeannette Winterson (Kein & Aber, 2019), in dem wiederholt auf die vergrößerte Klitoris eines trans Mannes hingewiesen wird und dieser von anderen Charakteren auch immer wieder als Mädchen bezeichnet wird. Die Körperlichkeit von trans Menschen wird dadurch auf ihre vermeintliche Andersartigkeit reduziert, die Aufmerksamkeit erzeugen soll, transphobes Verhalten wiederum wird normalisiert anstatt ein Gegenbeispiel zu realer Diskriminierung zu liefern. Häufig werden tin Charaktere auch lediglich benutzt, um für Verwirrung zu sorgen, wie in Mordfällen, wenn sich spätestens bei der Obduktion herausstellt, dass die getötete Frau einen Körper hat, dem bei Geburt das Geschlecht männlich zugewiesen wurde, oder wie in Ellison Coopers Thriller Todeskäfig (Ullstein Taschenbuch Verlag, 2018), in dem ein Verdächtiger schließlich als Täter ausgeschlossen wird, als er sich als trans outet, da der Täter an seinem Opfer Sperma hinterlassen hat. Auf diese Weise werden tin Menschen und ihre Körper objektifiziert. Statt sie als Individuen darzustellen, liegt der Fokus darauf, ihre körperlichen Eigenschaften für die Entwicklung der Story einzusetzen.

In anderen Büchern werden negative Empfindungen gegenüber eigener Körper derart in den Mittelpunkt gestellt, dass kein Raum bleibt für die Bejahung z. B. intergeschlechtlicher Körper und Empowerment. Gleichzeitig werden die Folgen von Zwangs-OPs an Kindern, durch die bereits in sehr jungen Jahren der Körper in normierte Vorstellungen gezwungen werden soll, nicht thematisiert oder heruntergespielt. Während inter Menschen oft als monströs dargestellt werden, gelten sie in anderen Fällen zum Teil als die besseren Menschen, manchmal gar mit ungewöhnlichen Fähigkeiten. So auch in dem 2020 erschienenen Buch Arkadien von Emmanuelle Bayamack-Tam, in dem Intergeschlechtlichkeit mal als „krankhafte Mutation“  oder „Irrtum der Natur”, mal als „sagenhafte Metamorphose“ oder „Zukunft der Menschen“ bezeichnet wird und dabei die Adjektive trans und intersexuell synonym verwendet werden. Die Mythisierung und romantische Verklärung von Menschen, die sich nicht in das binäre Geschlechtermodell einordnen, ist aber genauso eine Zurschaustellung von körperlicher Realität wie die Ausnutzung als kurioses Detail einer Erzählung. Neben diesen problematischen Darstellungen von tin Charakteren, finden sich in vielen Büchern auch Heterosexismen, Rassismen und z. B. Diskriminierung nach Alter oder Körperumfang. Und das selbst in Büchern, die ausdrücklich die Absicht äußern, Themen wie Trans und TIN Raum und Repräsentation zu geben und denen mensch ein Bewusstsein für den diskriminierungsfreien Umgang mit Körpern zutrauen könnte. Das Kinderbuch Der Katze ist es ganz egal von Franz Orghandl (Klett Kinderbuch, 2020) erzähle, so der Verlag, vom „Transgender-Kind Jennifer” und sei keine „Problemgeschichte”. Ein Kind darin wird durchweg als der „dicke Gabriel“ bezeichnet, der zudem noch gerade die vierte Klasse wiederholt. Keine andere Person bekommt ein Körper-beschreibendes Adjektiv vorangestellt. Bis auf Jennifers ebenfalls dicken Vater, dessen Körperumfang mehrfach betont wird: Der Papa „blättert mit seinen dicken Fingern” durch ein Heft, landet mit „einem Plumps”, als er sich setzt, und „schlägt mit seiner Speckhand aufs Autodach“. Die anderen, allesamt schlank dargestellten Personen erhalten keine entsprechenden Zuschreibungen. Ein weiteres Beispiel ist der Jugendroman Und morgen sag ich es von Doris Meißner-Johannknecht (Löwenherz, 2018). Laut Verlag thematisiert das Buch „Identität und Geschlecht in einer sensibel und klug erzählten Geschichte und schenkt einen neuen Blick auf die für viele noch immer schwierige Thematik Transgender.” Hier sieht die Hauptfigur Paul vom Balkon aus in einer Hollywoodschaukel aufgrund mangelnder Brille ein „schwarze[s] Riesenteil”, das sich als Mensch entpuppt, dessen „schwarze” Hautfarbe wiederholt thematisiert wird, während die weißen Charaktere nur dann  als weiß bezeichnet werden, als sie auf einer Party die einzigen Weißen sind. Auch hier zeigt sich, dass die reine Darstellung und Thematisierung von trans und tin Menschen noch keine diskriminierungsfreie Repräsentation garantiert, wenn körperliche Merkmale weiterhin stigmatisiert werden. Die meisten dieser Bücher werden von nicht-tin Personen geschrieben.

Ein positives Beispiel für einen Roman, der gelungen ist und in dem nicht, wie sonst häufig, einer medizinischen Sichtweise gefolgt wird, die tin Menschen pathologisiert, ist Sasha Marianna Salzmanns Roman Außer sich (Suhrkamp, 2018). Die Identitätssuche der Hauptfigur Alissa/Ali wird erzählt ohne diese oder andere trans Charaktere in Schubladen zu pressen. Wie selbstverständlich wird von einer Frau am Pissoir geschrieben, die ihren „Schwanz” in der Hand hält. Alissa/Ali gelangt selbstbestimmt und ohne sich Ärzt:innen gegenüber beweisen zu müssen an Testosteron. Auch sonst werden keine Krankheitsbilder hervorgerufen. Denn tin zu sein, ist keine Krankheit und auch kein psychologisches Problem. Informationen hierüber finden sich online, aber auch in Büchern. Genauso wie über die vielen unnötigen OPs an inter Kindern, die negative, lebenslange gesundheitliche Folgen haben, und über die herabwürdigenden Prozesse, die trans Menschen durchlaufen müssen, um die für sie notwendigen Behandlungen zu erhalten.

Wenn Nicht-Marginalisierte über Marginalisierte schreiben

Trotz der Fülle an verfügbaren Informationen scheinen die wenigsten nicht-tin Autor:innen ausreichend zu recherchieren, wenn es um die Darstellung fiktiver tin Charaktere geht. Zudem scheinen sie tin Charaktere häufig nur wegen zugeschriebener Eigenschaften oder als „special effect“ einzusetzen. Löbliche Ausnahmen sind die Bücher Bus 57 von Dashka Slater (Loewe, 2019) über eine:n agender Jugendliche:n und der Thriller Verschnitt von Jennifer Hauff (mainbook, 2020) zum Thema Inter. Bus 57 basiert auf einer wahren Geschichte. Slater hat den Gerichtsprozess, der den wahren Begebenheiten folgte, monatelang verfolgt, mit Beteiligten gesprochen, Hintergründe recherchiert und sich über nicht-binäre Geschlechtsidentitäten informiert. Das Buch Verschnitt handelt von einer OP-Schwester, die sich an einem Kinderchirurgen, der geschlechtsverändernde Operationen an Kleinkindern vornimmt, rächen will. Vorbild dieses Arztes ist Dr. Money, der die von ihm erzwungene Geschlechtsänderung von David Reimer in den 1970ern fälschlicherweise als Erfolg pries und als Argument für Operationen an inter Kindern nutzte. Hauff hat sich u. a. mit Dr. Milton Diamond getroffen, der die fürchterlichen Auswirkungen der Behandlung durch Dr. Money auf Reimers Leben publik gemacht hatte, und sich gegen die Einstufung von Intergeschlechtlichkeit als Krankheit und Zwangs-OPs an inter Kindern einsetzte.

Im Rahmen von trans*fabel, aber auch als Person, die sich als trans und genderqueer verortet, interessiere ich mich natürlich auch für Bücher, die von tin Autor:innen selbst geschrieben werden. Ich erwarte ein Spektrum, das dem meines Bekanntenkreises ähnelt. Doch:

Welche tin Autor:innen werden veröffentlicht?

Mehrheitlich sind es Autobiografien, die von tin (vor allem trans) Autor:innen auf den Buchmarkt gelangen und im Literaturbetrieb publik gemacht werden. „Geboren als Mädchen, leben als Mann“ – so oder so ähnlich lautet häufig der Untertitel oder heißt es im Klappentext. Vom „falschen Körper“ ist, auch in neueren Büchern, viel die Rede. Nun sind das häufig Eigenzuschreibungen, die für trans Menschen jedoch nicht generalisiert werden dürfen. Trans und TIN sind keine Kategorien mit fest zugeschriebenen Eigenschaften und den stets gleichen Selbstwahrnehmungen. Manche trans Menschen fühlen sich im falschen Körper. Für andere ist ihr Körper richtig, ob sie nun körperliche Veränderungen vornehmen oder nicht. Viele sagen, sie sind seit Geburt weiblich/männlich/nicht-binär; ihnen wurde lediglich aufgrund äußerer Körpermerkmale ein falsches Geschlecht zugewiesen. Warum findet das so wenig Eingang in die Literatur? Ist das für die Vermarktung zu komplex und zu abseits der etablierten zwei Geschlechter?

Veröffentlicht werden offensichtlich vor allem trans Autor:innen, die sehr Intimes erzählen, von ihrem Leidensdruck, ihrer Körperdysphorie, also dem Unwohlsein mit dem eigenen Körper, den medizinischen Behandlungen und Diskriminierungserfahrungen. Während dies für viele Realitäten sind, fehlen häufig die positiven Erfahrungen, die Unterstützung und Solidarität, die tin Personen erhalten, und die erlangte Ausgeglichenheit, die damit einhergeht, öffentlich zu sich stehen zu können (ob nun mit oder ohne Hormoneinnahme, OPs, Namensänderung etc.). Autobiografische Bücher, die empowernd sind, keinen zwingenden Leidens- und Transitionsweg aufzeigen gibt es wenige. Ausnahmen sind die Bücher von Ika Elvau, Jayrôme C. Robinet, Thomas Page McBee und Paul B. Preciado.

Nun schreiben tin Autor:innen ja nicht nur Autobiografien. Neben einigen Romanen, die bei großen Verlagen erschienen sind, gibt es Prosa- und Lyrik-Bücher bei kleinen Verlagen wie Edition Assemblage und im Selfpublishing. Hier finde ich Darstellungen und Eigenrepräsentationen, die über Stereotype und binäre Geschlechtsidentitäten hinausgehen. Im Idealfall zeigt sich hier auch ein Bewusstsein weiterer gesellschaftlicher Diskriminierungen, die thematisiert und intersektional mitgedacht werden (Intersektionalität bezeichnet die Überschneidung verschiedener Diskriminierungsprozesse). Leider sind sie die Ausnahme.

Trends und Tokenisierung

Neben der oben erwähnten Verkaufsfaktoren Sensationalisierung und Exotisierung, werden in vielen der Bücher Frauen und Männer stereotypisch dargestellt. Das ist auch in vielen Büchern, die nicht zum Thema TIN sind der Fall. Doch allein die Bedeutungen von trans, inter und nicht-binär sollte darauf hinweisen, dass diese Stereotypen oft, bewusst und unbewusst, unterlaufen werden. Bei Autobiografien von trans Menschen könnte dieses Stereotypisieren zum Teil daran liegen, dass diese sich gegenüber Ärzt:innen, Krankenkassen und der Gesellschaft beweisen müssen und dabei fast schon gezwungen sind, Rollenklischees, u. a. mit Aussagen wie „Ich denke wie ein Mann“, zu erfüllen, damit sie ihre körperliche Transition beginnen können. Das legitimiert jedoch weder diese zu propagieren, noch fast ausschließlich solche Bücher zu veröffentlichen.

Insgesamt wird somit nur ein kleines Segment aller tin Menschen publiziert und dargestellt. So entsteht der Eindruck eines vermeintlichen Kollektivs, in dem alle, mehr oder minder, die gleichen Erfahrungen durchmachen. Fallen tin Menschen dann nicht in diese Kategorie, stoßen sie auf noch mehr Unverständnis und Intoleranz. Häufig wissen Menschen nicht, was nicht-binär in Bezug auf Geschlechtsidentität bedeutet und bestehen darauf, andere Menschen durch Pronomen oder Anrede in eine der Kategorien männlich oder weiblich zu stecken. Sie akzeptieren nicht, wenn ein Mensch sich trotz vermeintlich weiblichem Äußeren und ohne Testosteron nehmen zu wollen, als Mann identifiziert. Oder fragen sich, wieso die Person sich nicht eindeutig männlich kleidet und gibt.

Die publizierten und in Fiktionen dargestellten tin Personen wirken denn auch wie eine Art Token oder anders ausgedrückt wie Alibipersonen, um zu zeigen: Wir sind inklusiv; wir publizieren Bücher über tin Menschen. Oder vielleicht ist es nur ein Aufspringen auf einen Trend, denn Bücher zum Thema Trans verkaufen sich; zu Inter eher nicht. In Zukunft könnte die Anzahl deutschsprachiger Bücher über nicht-binäre Geschlechtsidentitäten sich erhöhen; in der englischsprachigen Literatur gibt es hierzu schon mehr Veröffentlichungen.

Damit haben wir einige Antworten auf eine wichtige Frage zur Veröffentlichung von Literatur zum Thema TIN: „Welche Angehörige welcher marginalisierten Gruppen werden gemäß Vertriebs- und Vermarktungslogiken als Token eines mutmaßlichen Kollektivs herausgestellt, welche nicht?“

Doch was ist nötig, um die Vielfalt von tin Personen in der Literatur widerzuspiegeln?

Recherche, Eigenrepräsentation und Mut

Zum einen sollten wir darauf achten, dass keine diskriminierenden Inhalte publiziert und die Intersektionalität von Diskriminierung mitgedacht wird. Alle Autor:innen sollten sich hier zu mehr Recherche verpflichten und nicht-tin Autor:innen zusätzlich zu mehr Recherche zum Thema TIN. Außerdem ist wichtig, dass mehr tin Autor:innen veröffentlicht werden, damit diese direkt ihre Erfahrungen mitteilen können und was ihnen wichtig ist. Und ich wünsche mir im Literaturbetrieb etwas Mut zu Neuem, um die Vielfalt der tin Community abzubilden, samt genderfluider Glitzerwesen, die ständig ihr Pronomen wechseln oder keins benutzen, und tin Menschen, die so „normal wie du und ich” sind.

 

[1] Hier sind Doppelaufführungen mit dabei. Da dies jedoch auch in den Stichwortsuchen der Fall ist, ändert dies die Prozentzahlen nicht wesentlich.

[2] Tania Witte: Andersrum ist auch nicht besser: Willkommen im Mainstream. In: Zeit Online. 15. Juni 2017. https://www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2017-06/trans-gender-non-binary-sexuelle-identitaet

 

 

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Vom Nutzen der wirklich langen Sicht – Das Handbuch für Zeitreisende von Kathrin Passig und Aleks Scholz

von Marie Isabel Matthews-Schlinzig

 

„Earth is our only time machine.“
Dana Levin

Es gibt viele Arten, in der Zeit zu reisen: Atmen Sie ein und aus und Schwupps – sind Sie ein wenig weiter in die Zukunft gerückt. Das Internet bietet ebenfalls Möglichkeiten, besonders schön: die ‘Erdkugel aus alter Zeit’. Diese zeigt Ihnen u.a. an, wie sie vor, sagen wir, 470 Millionen Jahren aussah, als sich die ersten Korallenriffe formten. Manche Zeitreise vollziehen Sie unfreiwillig: als Mutter etwa während der jüngsten Pandemie, die einen teils in die 50er Jahre zurückzuversetzen schien.

Sehr bequem lässt sich dagegen im Geiste zeitreisen: in der Erinnerung (häufig eher unzuverlässig), Geschichtsbüchern (manchmal fraglich, jedenfalls lückenhaft) oder der Fiktion (kann Spaß machen oder unangenehm sein, Stichwort: Zurück in die Zukunft).

Wer lieber tatsächlich die Koffer packen und eine echte Zeitmaschine (allerdings nur in Richtung Vergangenheit) besteigen will, dem sei das Handbuch für Zeitreisende: Von den Dinosauriern bis zum Fall der Mauer (Rowohlt, 2020) von Kathrin Passig und Aleks Scholz empfohlen. Auf 333 Seiten findet sich hier so einiges, was Sie als Zeitreise-Neuling wissen sollten: Tipps für Reiseziele (Teil I), (Warn-)Hinweise für ambitionierte Weltverbesserer (Teil II) und zuletzt praktische Handreichungen betreffs Hygiene, Krankheiten, Zahlungsmitteln, etc. (Teil III). 

Wie erkundet man Parallelwelten?

Wie das Nachwort (das Sie eigentlich zuerst lesen sollten) erklärt, liegt dem Buch eine ebenso pfiffige wie amüsante Fiktion zugrunde: Dass Zeitreisen *wirklich* durchführbar sind und sich die dafür notwendige Infrastruktur – bis hin zu zeitreisemedizinischen Zentren – bereits entwickelt hat; deren genaue Beschaffenheit bleibt zum Leidwesen der Rezensentin leider im Dunkeln. Abgesehen davon bewegen sich Passig und Scholz jedoch bestens wissenschaftlich gerüstet auf dem Boden der Tatsachen. Ja selbst die Vorstellung, dass uns Zeitreisen möglich sein könnte, scheint nicht so weit hergeholt, wie Sie vielleicht zunächst denken mögen: Sie müssen nur davon ausgehen, dass die „Vielwelten-Theorie der Quantenmechanik […] korrekt“ (S. 329) ist. Will heißen, dass es neben unserer viele Parallelwelten gibt, die Zeitreisende problemlos erkunden können, ohne unsere Welt dadurch in ein Chaos fortwährender, rückwirkend gültiger Veränderungen zu stürzen.

Wohin würden Sie reisen? Ins mittelalterliche Granada zur Zeit der Nasriden vielleicht, das Hieronymus Münzer Ende des 15. Jahrhunderts derart begeistert, dass er es als „Paradies“ bezeichnet (S. 46)? Oder in die DDR, um sich einer der langen Schlangen vor Kaufhallen anzuschließen, ohne zu wissen, was es da heute Besonderes zu kaufen gibt und ob davon noch etwas übrig sein wird, wenn Sie dran sind? Oder vielleicht zu dem Zeitpunkt vor mehr als vier Milliarden Jahren, als die Erde noch ein „glühender Ball aus Magma [ist], umgeben von einem Wirbel aus Steinen aller erdenklichen Größen“ (S. 168) und die Geburt des Mondes vor der Tür steht?

Dies sind nur einige der „113 Ideen“ für Zeitreiseziele, die das Handbuch schildert und zwar so anschaulich, dass Sie sich bereits vor Ort wähnen werden, ohne einen Fuß vor Ihre Haustür gesetzt zu haben. Entgegen dem sicher verkaufsfördernden Untertitel reicht es dabei über die Zeit der Dinosaurier hinaus. Etwas unklar bleibt, nach welchem Prinzip die Vorschläge ausgewählt wurden. Herausgekommen ist jedoch eine bestechende Mischung aus Sammelsurium und Wunderkammer, die zum Entdecken und Verweilen einlädt. Es empfiehlt sich, das Handbuch mit aufgeschlagenem Internet (bzw. Lexikon und Weltatlas) zu lesen. Denn immer wieder werden Sie auf etwas stoßen, worüber Sie gern mehr erfahren möchten – wie etwa Maria Cunitz, die nicht nur eine außerordentlich gute Astronomin des 17. Jahrhunderts war, sondern, laut Pastor Johann Caspar Eberti, darüber hinaus sieben Sprachen beherrschte sowie musisches Talent besaß.

Weltverbesserung? Keine leichte Sache.

In einladendem Plauderton führen uns Passig und Scholz von einer Zeit in die andere und von einem Ort an den nächsten. Das geschieht weder chronologisch noch linear und mit viel Mut zur Lücke ebenso wie zur thematisch-geographischen Breite. Weltgeschichte wird so als vielfältig und komplex erkennbar und unser Wissen über diese als in mehr als einer Hinsicht unvollständig. In großen Schritten lehrt das Handbuch damit auch den Nutzen einer wirklich langen historischen Sicht, vor deren Hintergrund sich manch zeitgenössisches Problem relativiert. Sie anzunehmen ist für Leser:innen gleichzeitig befreiend und bedenkenswert.

Entsprechend werden Gegebenheiten der Vergangenheit immer wieder zum Brennglas der Gegenwart: Etwa, wenn der Text die Fähigkeit unserer Spezies zu Weit- und Einsicht ernüchternd realistisch betrachtet: „Menschen sind nicht besonders gut darin, über Zeiträume von Jahrzehnten oder Jahrhunderten zu planen. Selbst wenn Sie in paar Leute davon überzeugen können, dass bald Hunger, Krieg, Elend, Vertreibung und Unterdrückung drohen, werden die wenigsten lieber freiwillig fünfzig Jahre vorher in die Fremde ziehen. Wer es dennoch ausprobieren möchte, kann seine Überredungskünste schon einmal in der Gegenwart an Leuten testen, die in Überschwemmungsgebieten oder in der Nähe von Vulkanen wohnen“ (S. 48).

Nicht zuletzt deshalb ist es, wie v.a. der zweite Teil des Handbuchs zeigt, durchaus schwierig, die Welt im großen Rahmen zu verändern. Das gilt rückwirkend wie jetzt: Nicht nur der Zufall spielt eine erhebliche Rolle: Erfindungen, wie zum Beispiel die des Penicillins, ebenso wie andere Entwicklungen, beruhen auf einem komplexen Zusammentreffen zahlreicher Umstände. Fehlt auch nur einer von diesen, nützen die besten Vorsätze und der am besten informierte, hilfewilligste Zeitreisende nichts. Außerdem werden „Neuerungen,“ liest man bei Passig und Scholz, häufig „bald wieder verboten, zum Beispiel das Fahrrad […], der Kaffee, die Farbe Indigo, das Spinnrad und das LSD. […] Auch das Papier hat es in Deutschland anfangs schwer, weil es aus unchristlichen Ländern stammt“ (S. 195).

Obendrein ziehen auf den ersten Blick fortschrittliche Neuerungen teils verheerende Konsequenzen nach sich: So steigt etwa in der Geschichte des Gummis im 19. Jahrhundert  die Nachfrage nach Kautschuk so rasant, dass es im Amazonasgebiet „zu großflächiger Zwangsarbeit“ kommt; in „manchen Gegenden kommen neunzig Prozent der Einwohner ums Leben“ (S. 206). Nicht ohne Grund raten die Autorin und der Autor daher dazu, sich auf „kleinere Reparaturen“ zu konzentrieren. Auf diese Weise berührt das Handbuch immer wieder allgemeine und für unsere Gegenwart unmittelbar relevante Probleme. Gleichzeitig erinnert es an die Verantwortung, die jedes Handeln mit sich bringt. Manchen Kommentar zu zeitgenössischen Diskurse mag der eine oder die andere als etwas bemüht oder zu belehrend empfinden. Den positiven Gesamteindruck dieser Bezüge schmälert dies nicht.

Anregungen zum Schluss.

Die praktischen Handreichungen im dritten und letzten Teil des Handbuchs schließlich sind, wie in Reiseführern häufig der Fall, tendenziell etwas trockener geraten – vielleicht weil hier Wissen teils eher systematisiert und weniger am konkreten historischen Beispiel präsentiert wird. Nichtsdestoweniger lässt sich auch hier vieles lernen: Wussten Sie etwa, dass südlich der Alpen „bis zur Einführung von Telegraphie und Eisenbahn […] größere Städte ihre eigene Zeit [haben], die vom Sonnenhöchststand und damit von der geographischen Lage abhängt“ (S. 272). Manche Ausführungen in diesem Abschnitt, v.a. zu Hygiene, wirken angesichts gegenwärtiger Pandemie-Zeiten fast prophetisch; etwa, wenn es heißt: „Am nützlichsten würden Sie sich bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten in der Vergangenheit machen, wenn es Ihnen gelänge, häufiges Händewaschen mit Seife durchzusetzen“ (S. 309).

Am Ende des Handbuchs versammeln Passig und Scholz, neben dem bereits erwähnten Nachwort, schließlich noch eine anregende Liste mit „Reiselektüre für Zeitreisende“. Sie macht Lust auf mehr. Was darin allerdings schmerzlich fehlt und der hier besprochene Text bewusst nicht liefert, ist ein ‚Handbuch für Zeitreisende in die Zukunft‘. Das sollte dringend noch geschrieben werden. Vielleicht werden Sie ja zu den Autor:innen gehören?

 

 

Photo by Zulfa Nazer

Die Verdoomung des Feuilletons – Kulturjournalistisches Schreiben über Computerspiele

von Christian Huberts

 

Der Essay »Play It Again, Pac-Man« gehört zu den besten Texten, die je über digitale Spiele geschrieben wurden. Schwammige Worthülsen wie »Interaktivität« sowie abgedroschene Hot-Takes über Games und Gewalt werden hier sofort verworfen. Stattdessen dominieren luzide Beobachtungen und relevante Brücken zur Alltagskultur: Das Computerspiel als zweckentfremdetes Arbeitsgerät, das lustvoll-verschwenderische Anspielen gegen die eigene Sterblichkeit. Nicht nur hält der Inhalt vom Niveau her locker mit aktuellen Theorien der Game Studies – der wissenschaftlichen Erforschung von Computerspielen – mit, er ist zudem zugänglich und unterhaltsam aufgearbeitet: »If a typewriter could talk, it probably would have very little to say; our automatic washers are probably not hiding secret dream machines deep inside their drums. But these microchips really blow you away.«

Besonders bemerkenswert an dem Essay ist, dass er schon vor mehr als dreißig Jahren geschrieben wurde. Das US-amerikanische Museum of the Moving Image hatte ihn 1989 für einen Ausstellungskatalog in Auftrag gegeben. Der Autor ist Charles Bernstein, kein Gaming-Crack, sondern ein renommierter Dichter. Und der Laie auf dem Gebiet der digitalen Spiele schreibt nicht über moderne Blockbuster, zu denen er problemlos eine Brücke zur Literatur oder zum Film hätte schlagen können, sondern über minimalistische Arcadegames – Space Invaders (1978), Asteroids (1979), Pac-Man (1980). Pixel-Raumschiff gegen Pixel-Aliens, Vektor-Raumschiff gegen Vektor-Asteroiden, verfressene Scheibe im spukenden Labyrinth. Bernstein nimmt diese Gegenstände absolut ernst, symptomatisiert sie ohne Dünkel und kommt so zu nahezu zeitlosen Beobachtungen. An dieses Lob eines alten Textes möchte ich eine bange Frage an die Gegenwart anschließen: Warum liest man solche Texte über Computerspiele eigentlich so selten im deutschsprachigen Feuilleton?

 

Von U nach E

Eigentlich ist die Ausgangslage gut. Games sind zum regelmäßigen Gegenstand ernsthafter, kulturjournalistischer Betrachtungen geworden. Ob regelmäßig genug, darüber lässt sich streiten. Aber besonders digitale Redaktionen würdigen Computerspiele mittlerweile mit gelungenen Schlaglichtern auf hervorstechende Games, führende Designer:innen und spannende Spielkultur-Diskurse. Sendungen wie Kompressor im »Feuilleton im Radio« – dem Deutschlandfunk Kultur – ordnen Games bereits selbstverständlich der (Pop-)Kultur zu, und bei den großen Online-Zeitungen sind sie zumindest in den Medien- und Digital-Ressorts fest verankert. Für individuelle Texte macht diese Zuordnung kaum einen Unterschied, das dadurch erzeugte Framing von Games als etwas, dass nicht zunächst der Kultur zugehörig, sondern eben »irgendwas mit Medien« ist, bleibt aber ein fragwürdiges Rudiment der Trennung von U- und E-Kultur.

Wie diese Trennung bis heute nachwirkt, zeigt sich – nicht allein, aber besonders – im Print-Feuilleton. Auch hier hat sich viel getan. Vor mehr als fünfzehn Jahren konnte man in der Süddeutschen Zeitung noch Überschriften wie »Die Verdoomung der Republik« lesen. Darunter ein seichter Remix kulturpessimistischer Gassenhauer zu Doom 3 (2004). Problematisch an Games diesmal nicht die »Bilder voller Gewalt«, sondern die »Gewalt von Bildern«. Unter den Kronzeugen für diesen semi-originellen Twist ist User »Spacelümmel«, der Schiss vorm Weiterspielen des Horror-Shooters hat. Der selbe Autor schreibt heute zum Beispiel über das nischige Sci-Fi-Game Observation (2019) als empathisches Kammerspiel mit viel Interesse und Wohlwollen. Alles gut also? Eher nein. Im Text wird weniger vom Spiel als seiner Story erzählt und selbstbewusst aber falsch erklärt: »Bis jetzt konnte man sich im Genre [sic] der Computer- und Videospiele, […] nahezu alles vorstellen, aber eben kein Kammerspiel.«

Dieser Mangel an Vorstellungskraft ist offenbar symptomatisch für das Schreiben über Games im Feuilleton. Erst im Juli diesen Jahres wurde auf Twitter über eine ähnliche beiläufige Abwertung diskutiert. In einer Besprechung des Spiels Ghost of Tsushima (2020) in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wurde kurzerhand das reflektierte Sprechen über Games zur Seltenheit erklärt: »Anders als bei Büchern, Film und Serie gibt es kaum Reflexion darüber, was ein Spiel soll oder darf.« Fast untergegangen ist bei dieser Diskussion, dass eine These des Textes – in Ghosts of Tsushima würden sich die Spieler:innen, während sie sich elegant durch Mongolenhorden schnetzeln, in bemerkenswerter Weise machtlos fühlen – ebenfalls nur funktioniert, wenn man weite Teile der Spielkultur ausblendet. Sicher, kein Beitrag kann oder muss jeglichen Kontext abbilden, aber wenn Aussagen nur dann tragfähig sind, solange es das Publikum nicht besser weiß, ist das ein Problem.

 

Pferdelose Kutschen

Computerspiele sind nicht selbstverständlich. Es bedarf einer anspruchsvollen Übersetzungsleistung, um sie Menschen zu vermitteln, die im Zweifelsfall noch nie Kontakt mit ihnen hatten. Im Idealfall geht bei dieser Übersetzung so wenig wie möglich verloren. Keine relevanten Debatten, keine prototypischen Gegenstände. Blende ich alle anderen Filme und Mediendiskurse aus, ist die Musicalverfilmung Cats (2019) vor allem eine gelungene Dokumentation über Katzen. Aber Kontext ist wichtig und gerade bei digitalen Spielen wird er gerne unterschlagen oder missrepräsentiert. Darin drückt sich auch – ob bewusst oder nicht – ein Desinteresse an Computerspielen als Kulturform aus. Wo Charles Bernstein vor dreißig Jahren nach dem Besonderen von Games bohrt, sucht der Feuilleton der Gegenwart allzuoft nach dem Gewohnten.

Zu den populärsten Aufhängern für Texte über digitale Spiele zählt daher auch der direkte Vergleich zu älteren Kulturformen. Games sind die Neue Literatur™. Games sind der Neue Film™. Der Begriff »Pferdelose Kutsche« mag zwar auch ein hinreichendes Bild vermitteln – eine Kutsche, aber eben ohne Pferde –, scheitert aber am genuin Neuen des Automobils – dem Verbrennungsmotor. Ebenso hilft der Fokus auf audiovisuelle und narrative Momente zwar beim Zugang zu modernen Computerspielen, vernachlässigt aber im Zweifelsfall den einzigartigen, prozeduralen Akt des Spielens. Wenn eine Rezension von Death Stranding (2019) in der ZEIT inhaltistisch auf den »Spiel-Film im wörtlichen Sinne« blickt, bleibt daher offen, ob der Spiel-Part überhaupt halten kann, was der Film-Part verspricht. Erneut: Charles Bernstein, Dichter, Gaming-Laie, war 1989 schon weiter.

Der Fachjournalismus zu Games ist derweil in der Breite (und mit Ausnahmen wie GAIN oder WASD) vor allem Servicejournalismus – macht der Toaster das Brot schön knusprig? Aber ein guter Toaster-Kritiker muss, wie der Spieleforscher Ian Bogost betont, neben der Funktion ebenso das verchromte Design des Küchengeräts im Blick haben: »To do game criticism is to take this common-born subject as toaster and as savior, […] as idiocy and as culture«. Denn Computerspiele sind ohnehin kulturelle Hybride. Die Grenzen zwischen ästhetischen Medien bleiben fließend, wie der Philosoph Daniel Martin Feige in seiner Ästhetik des Computerspiels festhält. Ein Spiel wie Telling Lies (2019) macht den linearen Film zu einem Filmarchiv, das detektivisch erschlossen werden muss. In Heaven’s Vault (2019) entschlüsseln die Spieler:innen eine fremde Sprache und lesen in der Welt wie in einem Buch. Wo es Fachmagazinen angesichts solch narrativer Architekturen und verschlungener Datenbankerzählungen nicht selten die Sprache verschlägt, könnte das Feuilleton die Knusprigkeit von Games eigentlich auch ästhetisch einordnen.

 

Der Respawn des Autors

Zu den bemerkenswertesten Erklärungsmodellen für das dann doch eher labbrige Schreiben über digitale Spiele im Feuilleton, gehört der Verweis auf ihr vermeintlich ungeklärtes Verhältnis zur Autorschaft. Nicht selten bestehen Entwicklerteams aus hunderten Personen. Und gibt es analog zur Regisseur:in eine »Creative Lead« oder einen »Game Director«, äußert sich diese Person häufig nicht offen zum kreativen Prozess und zu kontroversen Entscheidungen. Games sind Big-Business und sollen weder ihre Kunden verschrecken noch in den Verdacht geraten, die Gesellschaft zu »verdoomen«. Wie soll man aber über ein Werk schreiben, es im Kulturdiskurs verankern und kanonisieren, wenn es lediglich als Produkt, nicht aber als Werk öffentlich repräsentiert wird? Eine simple Antwort könnte sein, Autor:innen einfach zu ignorieren. Bernstein schreibt vor dreißig Jahren lesenswertes über Pac-Man ohne ein einziges Wort über seinen Schöpfer Toru Iwatani zu verlieren. Respawn unnötig.

Der Autor:innen-Fetisch unserer Kultur lässt sich hacken. Spielentwickler wie David Cage inszenieren sich als Auteur, droppen Buzzwords wie »Emotion« und halten inspirierende TED-Talks über abgedroschene Allgemeinplätze – Games sind interaktiv, was auch immer das nun heißen soll. Bernstein, 1989: »[T]hat claim, if pursued, becomes hollow quite quickly«. Die PR-Strategie trägt Früchte. Auf Spiegel Online konnte man zum Release von Cages Beyond: Two Souls (2013) unter anderem lesen, die »Welt der Videospiele« werde danach eine andere sein. Keine Frage, das Spiel macht vieles richtig, aber so revolutionär ist es auch wieder nur, wenn allein Call of Duty als Vergleichshorizont dient. Den Publishern gefällt’s. Und so wird der »Entwickler-Legende« Hideo Kojima für die Werbetour zu Death Stranding eben »Regie-Genie« Fatih Akin zur Seite gestellt. Leander Haußmann kann derweil in ZEIT Wissen binäre Gut/Böse-Entscheidungen in Red Dead Redemption 2 (2018) als Unique Selling Point von Games in Szene setzen.

Es ist schade, dass Akin und Haußmann bei ihrem Kontakt mit Computerspielen nicht mehr Streitfreude zeigen. Der oft trivialisierten Spielkultur tut es zwar gut, hochkarätige Affirmation von Außen zu bekommen, aber es könnte mehr dabei rumkommen als die reziproke Win-Win-Profilierung von Hochkultur und Hochtechnologie. Als der Filmkritiker Roger Ebert breitbeinig auf seinem Blog verkündete, dass digitale Spiele niemals Kunst sein können, war das hingegen zwar fürchterlich nervig, hat aber immerhin eine angeregte bis leider auch aggressive Diskussion ausgelöst. Denn auch wenn seine Definition von Spielen viel zu eng ist, hat Ebert doch einen wunden Punkt berührt: Mit ihrem marktkonformen Fokus auf Herausforderungen, Regeln und Ziellinien, berauben sich Games regelmäßig der Möglichkeit, etwas Außergewöhnliches zum Ausdruck zu bringen. Spielentwickler Brian Moriarty entschuldigte sich später beim Filmkritiker und stimmte ein: Computerspiele sind meist eher Kitsch. Externe Expertise kann also gegen Betriebsblindheit helfen, aber sie sollte nicht nur die vermeintlich fehlenden Fürsprecher aus der Spielkultur kompensieren.

Tragisch ist an den Extremen – Games haben entweder keine Autor:innen oder Autor:innen-»Superstars« –, dass dazwischen das Ausmaß und die Vielfalt der Spielekultur völlig unter den Tisch fallen. Auf jeden Blockbuster wie Red Dead Redemption 2 kommen Dutzende zugänglichere und mutigere Produktionen von kleineren Entwicklerteams. Auf jeden Dampfplauderer wie David Cage kommen Dutzende Entwickler:innen mit kreativeren Visionen, fundierteren Meinungen und relevanteren Designphilosophien. Wo es dem Kulturjournalismus von Musik bis zum Theater in der Regel gelingt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihrer Kulturfelder sorgfältig zu kuratieren und vermitteln, wird im Gaming offenbar genommen, was gerade am meisten Lärm macht. Kein Moshe Linke, keine Nina Freeman, kein Robert Yang – die Liste ließe sich unendlich fortsetzen. Wie es anders geht (und um auch mal ein positives Beispiel zu nennen) zeigt die FAZ an Disco Elysium (2019): »Brauche Schlaf! Sehe merkwürdige Dinge.«

 

Git Gud

Bleibt als letzte Verteidigungslinie der Verweis auf die schier unüberwindbare Kompliziertheit der Kulturform Games. Zu komplex, um sie dem Publikum zuzumuten, zu komplex, um es überhaupt zu versuchen. Jahrelang macht man sich nicht die Mühe, sie lesen zu lernen, weil ja ohnehin trivial. Aber jetzt, wo sie nicht mehr trivial sind, möchte man auch nicht mehr beim ABC anfangen. Und es stimmt ja wirklich: Digitale Spiele sind oft eine Zumutung. Historisch bedingt – wie auch Charles Bernstein beschreibt – drehen sie sich meist um Leistungsabfragen und sanktionieren ein Scheitern mit toter Zeit. Das nervt, zunehmend auch Gamer:innen. Aber wer mit dem Interface eines Autos durch das geregelte Netzwerk einer Autobahn navigieren kann und obendrein Texte lieber im französischen Original liest und zitiert, sollte mit kaum einem Computerspiel ernsthafte Probleme haben. Um den Schmerz von wiederholtem Versuch und Irrtum kommt man dabei leider selten herum. »Git gud«, wie es in der Spielkultur heißt.

Eine Faustregel und gute Nachricht ist, dass einige der aktuell relevantesten Games gleichzeitig nicht zu den voraussetzungsreichsten gehören. Disco Elysium, Kentucky Route Zero (2013) oder Everything (2017) definieren sich geradezu aus ihrer Verweigerung klassischer Leistungsabfragen und konzentrieren sich auf experimentellen, spielmechanischen Ausdruck. Und dieser Ausdruck lässt sich in eigener Praxis erfahren und in Texte übersetzen. Sei es durch den Vergleich mit der Literatur oder mit dem Film Films, oder durch neue sprachliche Zugänge. Im Jahr 2004 schlug der Journalist Kieron Gillen etwa einen »New Games Journalism« vor, der als Reiseberichterstattung in Spielwelten daherkommt. Solange sich die Übersetzung nicht im Vergleich erschöpft – »ein Film zum Mitspielen« –, sondern Eigenheiten sichtbar macht und einordnet, ist alles gut. Die Sprache des Schreibens über Computerspiele wird gerade neu ausgehandelt und braucht neue Impulse, um die Fachdiskurse der Spielkultur anschlussfähiger zu machen.

Das wäre auch die Aufgabe der Kulturjournalist:innen im Feuilleton. Was sich hingegen leider meist noch beobachten lässt, sind selbsterfüllende Prophezeiungen. Das Publikum goutiert Games nicht, also werden sie ihnen nicht schmackhaft gemacht, also goutiert es Games nicht. Niemand kennt die Autor:innen von Games, also werden sie nicht vorgestellt, also kennt niemand die Autor:innen von Games. Und zu guter Letzt: Die Spielkultur ist vielfältig, komplex und unübersichtlich, also konzentriert man sich auf ihre bekanntesten Elemente, also findet sich niemand in der unübersichtlichen und komplexen Vielfalt der Spielkultur zurecht. Es ist an der Zeit, es wie Charles Bernstein vor dreißig Jahren zu machen: die bequemen Zugänge über Bord zu werfen und luzide und neugierig Computerspielen auf ihre kulturelle Bedeutung hin zu befragen – ob mit Fachwissen oder nicht, spielt keine Rolle. Es ist an der Zeit für die »Verdoomung« des Feuilleton.

 

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Raunen für Clicks

Von Peter Hintz

 

Botho Strauß spricht wieder zu uns. In gewohnt metaphernreicher Sprache heißt sein neuester Aufsatz Der Leviathan unserer Tage. Es gehört nun zu den etablierten Kuriositäten der deutschen Nachrichtenmedien, dass dort alle 3-5 Jahre ein neuer, kulturkritischer Großessay von ihm erscheint. Diese Texte verstehen sich in der Nachfolge seines Aufsatzes Anschwellender Bocksgesang (1993), der während der Jugoslawienkriege dem bürgerlichen Ressentiment gegen Geflüchtete Ausdruck verlieh und zum Gründungsdokument der Wendegeneration der sogenannten Neuen Rechten wurde. Traditionell wählt Strauß für diese Textsorte nicht etwa – wie in kulturkritischer Praxis zu vermuten – eine Literaturzeitschrift mit winzigem Publikum, sondern entweder den Spiegel, oder, wie für seinen neuesten Essay, Die Zeit. Im Leviathan unserer Tage stellt sich Strauß einerseits gegen das “Populistische und Populäre“, mokiert sich andererseits aber über “Gesinnungs-Minoritäten.“ Strauß bedient sich nämlich selbst gern der Rhetorik des Populismus: Minderheit sein wollen, wenn man als Elite wahrgenommen werden will, und sich in der Mehrheit wähnen, wenn der Rest stört.

Wie Der Leviathan unserer Tage zeigt, hat sich seit Der letzte Deutsche, seinem 2015 erschienenen Spiegel-Text (zumindest essayistisch) nicht sehr viel bei Strauß getan. Strauß ist – so viel Metapher sei hier selbst erlaubt – ein intellektueller Wiederkäuer. Ältere Textstellen hat er, um damaligen verschwörungsideologischen Anklang erleichtert, übernommen. Aus “Uns wird geraubt die Souveränität, dagegen zu sein” (2015) wird “Schaden nimmt die Begabung, dagegen zu sein” (2020). Auf der Höhe der letzten sogenannten Flüchtlingskrise beschwor er Stefan Georges “Geheimes Deutschland” und gab sich als den gleichnamigen “letzten Deutschen” aus. Aktuelle Lieblingsthemen rechter Polemik, die nahtlos nun auch bei Strauß auftauchen, sind “Gendertum”, “Multiminoritäten-Patchwork”, “Klimawandel” und die “Netzgemeinschaft,” über deren angebliche Konformität er allerdings bereits 2013 ein ganzes Buch vorlegte. Gegen die Linken positioniert Strauß noch immer George, den er nun direkt als “geistigen Rechten” bezeichnet. Aber bereits im Anschwellenden Bocksgesang hieß es ja, dass rechte Intellektuelle im Gegensatz zu den linken eine “Phantasie des Dichters, von Homer bis Hölderlin” besäßen. Angesichts dieser Neuauflage alter Lieder bleibt zu hoffen, dass er nach der heftigen Debatte um seinen Text von 2015 keinen ähnlichen Provokationserfolg wird verbuchen können. Strauß ist wohl auch ein Opfer seines eigenen Erfolgs: Er ist längst nicht mehr der einzige Feuilletonist, der mit populären Thesen wie von der deutschen “Schuld- und Verschuldenshybris” und dem “Gutgemeinten unter dem Triebzwang von Gesinnung” für große deutsche Zeitungen Leserschaft erzeugen soll.

Im Leviathan unserer Tage ist man erstaunt, wie leicht einem Autor die politische Klassifizierung von Schriftstellern als “geistigen Rechten” fällt, der im selben Text mit kunstreligiösem Pathos das Werk gegen die Ideologiekritik verteidigt: “wenn die Neuen Mönche in herrenlosen Clouds auf verschlüsselte Archive stoßen, in denen sie etwas Interessantes vermuten, werden große Werke wieder ausgegraben und neu ediert für den Klosterbestand.” Wie immer wirkt es unfreiwillig komisch, wenn der Ewigkeitsdenker Strauß sich an Vokabeln aus der Tagespolitik orientiert, um sein Programm zu formulieren: “Kein Neuerer, kein Umstürzler, nicht einmal ein diabolischer Durcheinanderwerfer in Sicht! Dafür jede Menge denkfaule ‘Querdenker.’”

Nicht besonders originell stellt er George in eine Reihe mit “Jünger, Benn, Schmitt, Borchardt, Heidegger, Hofmannsthal.” Diese Liste liest sich so, als hätte Strauß aus dem Inhaltsverzeichnis der Konservativen Revolution von Armin Mohler abgeschrieben, der nach 1945 damit eine Tradition angeblich antifaschistischer Rechter konstruieren wollte. Und obwohl diese Namen auch sonst, nicht zuletzt bei Linken, außerordentlich bekannt sind, stehen sie für Strauß “entgegen dem Klischee, der Geist und das Gute stünden notwendig links.” Da merkt man dann auch, wie gering der Anspruch an seine Leser tatsächlich ist: Für die Entschlüsselung seines inhaltlich und stilistisch klischierten ‘Raunens’ reicht es, in den letzten paar Jahren mal irgendeine (geschichts-)politische Debatte mitbekommen zu haben, die nicht Strauß selbst betraf.

Podcast-Kolumne: “How Was Your Week?”

von Svenja Reiner

 

Erinnerungen sind eine tricky Angelegenheit. Im Rückblick fällt es schwer zu unterscheiden, welche Details wichtig sind und welche nostalgisch-romantische Erinnerung an das frühere Ich. Daher mache ich es kurz: Durch Umstände, die anderswo ausführlicher erzählt werden könnten, immatrikulierte ich mich vor 11 Jahren ohne ausreichende Sprachkenntnis in einen englischsprachigen Studiengang. Aus Furcht darüber, direkt wieder rausgeworfen und in meine Heimatstadt zurückgeschickt zu werden, begann ich, möglichst viele englischsprachige Medien zu konsumieren und landete schließlich bei Podcasts, weil man sie sogar zwischen Audimax und Netto hören kann.

How Was Your Week war mein und  Julie Klausners erster Podcast. Vermutlich stimmt das nicht, aber das ist nicht weiter schlimm. Wichtig ist vor allem, dass ich damals zum ersten Mal in einer Stadt mit Straßenbahn lebte, ‘particular’ und ‘peculiar’ nicht unterscheiden konnte und deswegen unter schlimmen Impostersyndrom litt. Meine Orientierungslosigkeiten manifestierte sich noch in allerlei weiteren Merkwürdigkeiten und erreichte einen komischen Höhepunkt als ich eines Morgens die Schuhe meiner Mitbewohnerin anzog und einen Tag lang mit Chucks All Stars über den Campus lief, die mir eine Nummer zu klein waren. 

Katja Petrowskaja hat die Theorie, dass es charakterliche Wachstumsphasen gibt, in denen Literatur noch die DNA formt, organisch wird und ins Blut übergeht. Ab einem bestimmten Alter wird alles Gelesene zu Wissen und Theorie, aber davor kann sie sogar Herkunft und Familiengeschichte ersetzen. Ich las nicht, ich hörte Julie Klausners dichten Monologen zu, und mir ging alles unter die Haut: Ihre Popkulturverweise, ihre ironische Selbstkritik, die zahllosen Namen queerer Künstler*innen und Musicalstars, ihre große Aufmerksamkeit für Absurditäten des Alltags und die Liebe zu The Monkees und Basset Hounds und ihre Sprache. Ich habe noch nie zuvor jemanden so eloquent und so entschlossen über Kultur reden hören. Endlich sagte mir jemand seine Meinung, aber es klang anders als das kühle Kunsturteil des Literaturseminars, sprunghaft, assoziativ und spielerisch. In ihrer ersten Folge interviewt Klausner ihre eigenen Eltern über The King’s Speech, der 2011 für 11 Oscars nominiert war und vier davon gewann. Wären Klausners Eltern Teil der Jury gewesen, wäre die Entscheidung anders ausgefallen.

Dass Julie Klausner sich auch in dieser ersten Episode nicht vorstellt, fällt mir erst heute auf. Sie verschweigt ihre Ausbildung an der New York University, der Upright Citizens Brigade und der School of Visual Arts, ihr bereits erschienenes und von HBO optioniertes Memoir I Don’t Care About Your Band, ihre vielen Schreib- und Schauspielaufträge (u.a. für Mulaney, Best Week Ever, Saturday Night Live, The Awl, Vulture). Anders als die meisten Hosts von Podcasts holt sie sich keinen Vertrauensvorschuss durch alte Karrierelorbeeren ab. Stattdessen benennt sie die sehr schlichte Prämisse: “I’m going to talk to a guest and ask them how their week went. And hopefully in the process we will learn – this is a very pedantic endeavour – we will learn about each other and get to know each other and what have you.

Neun Jahre später kenne ich Irene M. Pepperberg, David Rakoff, David Sedaris und Natasha Vargas-Cooper. Ich bin dabei, als Klausners Katze Smiley Muffin stirbt, sie sich von ihrem langjährigen Partner trennt, David Rakoff dem Krebs erliegt, ihre Fernsehserie Difficult People von Hulu gekauft wird, sie und Billie Eichner die Hauptrollen spielen, Klausner alle Drehbücher selbst schreibt, und die Show nach drei Staffeln abgesetzt wird. Dazwischen höre ich ihre Kritiken über John Waters, The Real Housewives of New York City, Kermit The Frog, Salt-N-Peppa, House of Cards, Frozen, DJ Khaled, Rosemary’s Baby, Alice Cooper, SMASH und Marina Abramovic an, ihre Überlegungen, wer in die Redhead Hall of Fame des Podcasts aufgenommen werden sollte, ihre Ausführungen zu zeitgenössischem Feminismus, Hollywoodgossip oder Verschwörungstheorien (Johnny Depp is bold! You read it here first!). Ich lerne Wörter wie zeitgeisty, cautionary tale, soulpatch und gentleman friend, während die Show heute genauso klingt wie in der ersten Folge und lediglich die Hintergrundmusik des Monologs angepasst wurde.

Mittlerweile habe ich mein Studium beendet, HWYW läuft unregelmäßiger und ich habe knapp 40 weitere Podcasts mit meinem iTunes-Account abonniert. Um die soll es hier in den nächsten Monaten gehen. HWYW war mein Einstieg und ich weiß nicht, ob er heute jemand anderem taugen kann. Ich habe Julie Klausner 236 Episoden lang zugehört, wie andere Susan Sonntags 48 Notes on Camp gelesen haben: Auf der Suche nach Orientierung und Geschmack, einer großen Schwester oder einer älteren Freundin. Und natürlich hoffe ich, dass bald irgendjemand über sie sagen wird: “This is all I’m going to say about the Oscars: I am glad that Céline Dion no longer needs an introduction.

 

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Ein sehr fälschbarer Künstler – der Fall Modigliani

von Christina Dongowski

 

London, August 1919: Der Weltkrieg geht noch zu Ende. In der Mansard Gallery, tatsächlich ein Mansarden-Geschoß im Kaufhaus Heale, findet aber bereits wieder eine Ausstellung aktueller französischer Kunst statt. Organisiert und finanziert von den Brüdern Osbert und Sacheverell Sitwell, Weltkriegsveteranen, die mit der Ausstellung ihre Karriere als Kunst- und Literaturkritiker, Schriftsteller und exzentrische Figuren des englischen Kulturbetriebs beginnen. Ausgestellt werden fast alle französischen, oder besser Pariser Künstler*innen, die heute zum Kanon der Modernen Kunst und der Avantgarde(n) gehören. In den Londoner Zeitungen und Zeitschriften wird ausführlich über die Ausstellung berichtet. Die Meinungen sind geteilt: Während sich Roger Fry und Arnold Bennett, zwei der führenden Literatur- und Kunstkritiker Londons, enthusiastisch äußern, blicken andere Kritiker nach wie vor ratlos bis überfordert auf diese neue Bildwelt. Wutentbrannte Rezensionen, man habe es hier mit Dekadenz und Müll zu tun, Barbarei und dem Ende des christlichen Abendlandes, wie sie noch Roger Fry für seine Ausstellungen zur post-impressionistischen Malerei in 1910 und 1912 lesen musste, bleiben aber aus. Der Untergang des Abendlands ist auf den Schlachtfeldern in Europa und anderswo vom Feuilleton-Frisson zur Realität geworden. Nur in den Redaktionen der Zeitungen stapeln sich noch die Briefe aufgebrachter Leser*innen, die sich darüber beschweren, dass solchen Nichtskönnern und Zerstörer*innen der großartigen Tradition der abendländischen Kunst und Verderber*innen der englischen Jugend so viel Platz eingeräumt werde.

Ein Maler ärgert die Leserbriefschreiber*innen besonders: Amedeo Modigliani und seine überlängten Akte mit den langen Hälsen. Hundert Jahre später erscheinen die wütenden Reaktionen auf die sich dekorativ-lasziv im relativ klassisch aufgefassten Bildraum räkelnden Akte ziemlich unverständlich. Ein Grund für die Aufmerksamkeit der Philister*innen: Modigliani wird sowohl von Arnold Bennett als auch von Roger Fry besonders hervorgehoben. Sein Name steht in den Zeitungen. Man kann sich aufregen, ohne einen Fuß in die Ausstellung gesetzt zu haben. Den Kunstkritikern fällt er auf, weil er einer der wenigen wirklich neuen Namen in der Ausstellung ist – und erst seit ein, zwei Jahren seine schwanenhalsigen Schönen malt. Im Vergleich zu dem, was Georges Bracque und Pablo Picasso gerade auf ihren Bildern mit den traditionellen europäischen Vorstellungen von Perspektive, Bildraum, Differenz von Motiv und Grund veranstalten, oder zu Matisse, der sich vom Bildraum komplett verabschiedet hat und Leinwand als Stoff behandelt, den er mit Farben und Formen dekoriert, sind Modiglianis junge Frauen harmlos. Ihr Maler will die europäische Akt-Tradition weiterführen, nicht, wie Picasso mit den Demoiselles d’Avignon, zerstören. Bennett und Fry arbeiten in ihren Texten diese Besonderheit Modiglianis heraus. Der Klassizismus dieser Akte, Modiglianis im Grunde  konservative Auffassung von der Aufgabe der Malerei, markieren seine Differenz zu Kubismus und Fauvismus. Das macht ihn wiederum interessant für Kritiker und Händler, die schon auf der Suche nach dem Next Big Thing sind.

Für Amedeo Modigliani ist seine Teilnahme an der Ausstellung in der Mansard Gallery und seine hohe Sichtbarkeit der erste wirklich große Erfolg als Künstler. Zu verdanken hatte er das auch seinem Händler Leopold Zborovski. Der war Kontaktmann der Sitwells in Paris und übernahm für die anderen an der Ausstellung beteiligten französischen Kunsthändler die Organisation und Logistik. So kommen für einen bisher in London weitgehend unbekannten Maler erstaunlich viele Modiglianis in die Ausstellung. Im Pariser Kunsthandel ist Zborovski trotz dieses Vertrauensbeweises noch ein kleines Licht. Sein Ausstellungsraum befindet sich in seiner winzigen Wohnung. Er vertreibt seine Künstler*innen hauptsächlich, in dem er versucht, in den Cafés und Entertainment-Betrieben von Montmartre und Montparnasse mit potenziellen Sammler*innen in Kontakt zu kommen. Ein durchaus übliches Vertriebs- und Marketing-Modell, das auch von vielen Künstler*innen, auch Modigliani selbst, quasi als Direktvertrieb, genutzt wird. Das Galeriewesen, das wir heute als primäre Vertriebsform für zeitgenössische Kunst kennen, steckt 1919 immer noch in den Anfängen. Die großen Kunsthändler der Moderne, Vollard, Bernheim Jeune und der junge Kahnweiler, experimentieren erst seit wenigen Jahren damit, wie man aktuelle Kunst überhaupt attraktiv präsentieren und verkaufen kann. Und die nötigen finanziellen Ressourcen, um in einem angesagten Pariser Viertel attraktive Räume mit gutem Licht anzumieten oder zu kaufen, müssen auch erst einmal vorhanden sein. 

Zborovski lernt Modigliani 1916 kennen, als er, mitten im Krieg, beginnt, seinen eigenen Kunsthandel aufzubauen. Zbo, wie ihn seine Künstler*innen und Freund*innen nennen, versteht sich, wie eigentlich alle Händler, die zu der Zeit überhaupt mit aktueller Kunst handeln, vor allem als Förderer  der Künstler. Mit zeitgenössischer Kunst zu handeln heißt selbst in der Pariser Kunstszene der 1910er Jahre noch, potentielle Käufer*innen überhaupt erst mal davon zu überzeugen, dass man es hier tatsächlich mit Kunst zu tun habe, und nicht mit irgendwelchen Schmierereien. Eine gute Generation nach den Skandalen um die Impressionisten gibt es zwar bereits einige etablierte Sammler, die bereit sind, Gegenwartskunst zu kaufen. Zumal es sich auch außerhalb der Insiderkreise herumgesprochen hat, dass mit ein bisschen Glück aus den günstig erworbenen Bildern eines seltsamen Typen mit anti-bürgerlichem Auftreten bedeutende Kunstwerke werden können, über die sich auch noch die eigenen Enkel finanziell freuen werden. Aber immer noch weigern sich staatliche französische Kunstinstitutionen, Impressionisten und Post-Impressionisten auszustellen, oder gar anzukaufen. Selbst bei großzügigen Schenkungen wie der des Malers und Unternehmers Gustave Caillebotte, die heute den Grundbestand der Sammlung des Musée d’Orsays ausmacht, zierten sich die Behörden und lehnten unter anderem Bilder von Manet, Degas und Cézanne ab. Kunsthändler wie Zborovski haben deswegen ein professionelles Selbstverständnis, das dem vieler Künstler entspricht: Man steht an der vordersten Front und räumt der Modernen den Weg frei. Man ist Avantgarde.

Selbst in relativ prekären finanziellen Verhältnissen lebend, versucht Zborovoski Modigliani durch die Finanzierung einer kleinen Wohnung und dem Bereitstellen eines Ateliers ein einigermaßen stabiles Umfeld zu schaffen, damit der endlich dazu kommt, kontinuierlich an seinen Bildern zu arbeiten. Denn Modigliani lebt zwar seit 1906 in Paris, hat es aber trotz seines enormen technischen Talentes, im Gegensatz zu Picasso oder den Fauves, nicht geschafft, eine einigermaßen konstante künstlerische Praxis zu entwickeln. Stattdessen hat er sich den Ruf des ultimativen Bohemien erarbeitet: Gut aussehend und flamboyant in auffälligen Farbkombinationen gekleidet, gehört er bald zum Inventar der Kneipen, Cafés und Bistros in Montmartre und Montparnasse. Er wechselt bis zum Eingreifen Zborovskys ständig von einer heruntergekommenen Atelierwohnung zur nächsten, lebt obdachlos oder kriecht bei Freund*innen unter. Intensive Arbeitsphasen wechseln mit Phasen ab, in denen er durch die Szenekneipen zieht, säuft, kifft, Dante und D’Annunzio deklamiert und sich am Ende des Abends mit den Gästen, dem Wirt, den Rausschmeißern oder allen zusammen prügelt. Diese Auftritte machten ihn zu so etwas wie einer Touristen-Attraktion: Neuankömmlingen in der Pariser Kunst- und Literaturszene oder Besucher*innen aus der Provinz wird der „Prinz der Bohème“, wie auch heute noch manche Biographie Modigliani betitelt, regelrecht vorgeführt. Man wartet in den entsprechenden Lokalen auf sein Erscheinen oder versucht auf den Straßen und Plätzen von Montparnasse und Montmartre einen Blick auf seine prekär-glamouröse Erscheinung zu erhaschen. Seinen Signature Look aus Cordhose, farbigem Hemd und kontrastfarbigem Halstuch kennen bis 1919 deutlich mehr Leute als die Kunst, die er macht.

Wie stark Modigliani sein Auftreten tatsächlich selbst als „Personal Brand“ strategisch gestaltet hat oder ob hier im Nachhinein sozialer Abstieg und ökonomische Prekarisierung von anderen romantisiert und kultur-ökonomisch verwertbar gemacht wurde und wird, bleibt eine Streitfrage der Modigliani-Forschung. Für den Durchbruch bei Sammler*innen zeitgenössischer Kunst war seine Art Bekanntheit zu Lebzeiten möglicherweise kontraproduktiv. Kunsthändler schätzten ihn als unzuverlässig ein, auch weil er selbst einige Mal die Preise unterbot, die Händler bereits mit potenziellen Käufern ausgemacht hatten, und das Bild oder die Zeichnung deutlich billiger direkt verkaufte. Zumindest gehören solche Geschichten seit Anfang zur Künstlerlegende Modigliani; genauso wie die von den zahlreichen Skizzen und Zeichnungen, die der von seinen Modellen enthusiasmierte Künstler denen auf der Stelle im Café oder Bistro überreichte, ohne dafür Geld zu akzeptieren.

Zborovski glaubt an das Potenzial Modiglianis. Und er scheint es dadurch geschafft zu haben, den Künstler selbst einigermaßen zu stabilisieren. Vielleicht hat ihm der große Krieg, der das Künstlerleben in Paris drastisch veränderte, auch dabei geholfen – und dass Modigliani jetzt in einer festen Partnerschaft mit der jungen Malerin Jeanne Hébuterne lebte und Vater geworden war. Ab 1917 jedenfalls beginnen die Stilmerkmale Modiglianis Bilder zu dominieren, die wir heute als typisch ansehen: reduzierte, aber perspektivisch entschlüsselbare Hintergründe, vereinfachte Körperformen, reduzierte intensive Farbpalette, überlängte Gestalten und Gliedmaßen, Mandelaugen, sehr lange Hälse. Immer mehr Menschen gefällt das. Zborovski trifft nun öfter auf Interessent*innen für einen Modigliani, trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage im Krieg. Es gibt Porträt-Aufträge. Für Modigliani ergeben sich neue Marktmöglichkeiten: Viele Maler sind an der Front, mussten zurück in ihr Herkunftsland oder sind vor den deutschen Bomben auf Paris nach Südfrankreich geflüchtet. Zborovski nutzt das geschickt – und bringt Modigliani damit in eine gute Position für den Re-Start der Kunstszene nach dem Waffenstillstand. Die Teilnahme an der großen wichtigen Ausstellung in London ist der Lohn dieser Anstrengungen.

Es beginnt in Modiglianis Leben vieles gut zu laufen. Bis alles katastrophal schief läuft: Die Spanische Grippe, die ihn im Sommer 1919 erwischt, überlebt er zwar, den Wiederausbruch seiner Tuberkulose in Form einer Hirnhautentzündung Ende des Jahres aber nicht. Als er, nach mehreren Tagen im Koma, von Freunden endlich in ein Krankenhaus geschafft wird, ist es zu spät. Die Pflegerinnen und Ärzte können ihm nur noch mit Morphium das Sterben erleichtern. Er stirbt am 24. Januar 1920, mit 35 Jahren. 48 Stunden später ist auch Jeanne Hèbuterne tot. Sie hat sich, im achten Monat schwanger, aus einem Zimmer im fünften Stock gestürzt. Sie wurde 22 Jahre alt.

Für den Künstler Modigliani ist diese Tragödie der endgültige Durchbruch. Schon das Begräbnis, organisiert von Zborovski und engen Freunden Modiglianis, wird zu einem Großereignis der sich nach dem Krieg wieder neu sortierenden Kunstszene Paris. Angeblich Tausende begleiten den mit Blumen bedeckten Sarg zum Père Lachaise oder stehen am Wegrand Spalier. Picasso geht in der ersten Reihe. Selbst die Polizisten des Reviers, die Modigliani mehrfach wegen Ruhestörung und Schlägereien in Gewahrsam genommen hatten, salutieren, komplett in Parade-Uniform, dem von vier Pferden gezogenen Leichenwagen. Finanziert wird das aufwändige Begräbnis durch Spenden, die großzügige Finanzierungszusage von Modiglianis italienischer Familie – und durch den Verkauf von Modiglianis. Die haben ihren Wert mit dem Tod des Malers nämlich vervielfacht. Noch während des Begräbnisses eröffnet die Galerie Devambez, ein seriöses Haus, eine Ausstellung mit rund 20 Werken Modiglianis, vor allem wohl Zeichnungen, wahrscheinlich aus dem Besitz von Paul Guillaume, seinem allerersten Sammler und Händler. Freund*innen und Bekannte des Malers müssen sich noch auf dem Friedhof mit Leuten auseinandersetzen, die von ihnen wissen wollen, ob sie Modiglianis besitzen und was sie dafür haben wollen. Zborovski schafft es, obwohl selbst krank, die meisten Bilder, die in Modiglianis Wohnung und Atelier lagerten, für sich zu sichern. In den wenigen Tagen, die zwischen Modiglianis Einlieferung in die Klinik und seinem Begräbnis verstreichen, verschwinden aber auch Werke aus dem Atelier und der Wohnung, genauso wie persönliche Gegenstände des Malers und Malutensilien, unter anderem seine Palette.

Und ziemlich genau hier beginnt dann auch das zentrale Problem der Modigliani-Forschung: Niemand kann heute auch nur abschätzen, wie viele Modiglianis es zum Zeitpunkt seines Todes überhaupt gab – und auch zum Zeitpunkt seines Todes konnte das schon niemand mehr. Während viele seiner Mit-Bohemiens, zum Beispiel Picasso, von Anfang an versucht haben, ihre Werke und deren Verbleib irgendwie zu dokumentieren, hat Modigliani an die Selbst-Dokumentation keinen Gedanken verschwendet. Gleichzeitig gibt es genug einigermaßen glaubwürdige Zeug*innen für seine Angewohnheit, Werke, sogar Skulpturen, zu verschenken oder beim teilweise fluchtartigen Verlassen seiner Atelierwohnungen zurückzulassen. Eine ideale Situation für alle, die einen Modigliani auf den Markt bringen möchten – bis heute.

Selbst Zborovski, ohne dessen Engagement Modigliani wahrscheinlich in den hinteren Reihen der Klassischen Moderne verschwunden wäre, ist keine wirkliche zuverlässige Provenienz.: Zumindest einige der Bilder, die Zborovski aus Wohnung und Atelier holte, waren wohl nicht fertig oder entsprachen nicht mehr dem, was sich rasend schnell als Style Modigliani etablierte. Zborovski datierte Werke deswegen nicht nur entsprechend um – also in die Zeit ab 1917. Kunstexperten gehen auch davon aus, dass Freunde Modiglianis, die seine Malweise extrem gut kannten wie Chaim Soutine und Moïse Kisling, das vorhandene Material marktfähig machten und im Style Modigliani überarbeiteten. Immerhin zu einem guten Zweck: Zborovski finanzierte aus dem Erlös auch die Betreuung von Jeanne Modigliani, die beim Tod ihrer Eltern gerade mal 15 Monate alt war und bei einer Amme auf dem Land lebte, während sich die italienischen und französischen Behörden monatelang Zeit ließen, die Übertragung des Sorgerechts an die in Livorno lebende Familie Modiglianis zu genehmigen. Die Familie Hébuterne wollte von dem unehelich geborenen Kind nichts wissen.

Ab dem Januar 1920 bis heute tauchen also kontinuierlich Werke Modiglianis auf, deren Grad an Authentizität unklar ist. Man kann zwar durch naturwissenschaftliche Untersuchungsverfahren Bilder, die auf Malgründen und mit Farben gemalt wurden, die es zu Lebzeiten Modiglianis noch gar nicht gab, sicher aus dem Corpus ausschließen. Das wirkliche Problem der Modigliani-Forschung sind aber die Werke, die auf historisch authentischem Material gemalt wurden – und bei denen man sich trotzdem nicht sicher sein kann, dass sie von ihm selbst gemalt wurden. Dass das Malen eines Modiglianis eine lukrative Beschäftigung sein würde, war bereits an seinem Todestag klar. Und die Maler*innen, die sich darin versuchten, arbeiteten zum Teil bis in die 1950er Jahre mit historisch authentischem Material. Die von Händlern und Fans von Beginn an liebevoll gepflegte Legende vom edlen, von seinen Dämonen gequälten letzten echten Bohemien tut ihr übriges. Der echte Lebenslauf Modiglianis ist in weiten Bereichen allerdings undokumentiert. Die wichtigsten und seriösesten Quellen sind das Tagebuch und die für die Familie verfassten Erinnerungen seiner Mutter, die Briefe an und von seiner Familie sowie das wenige, was er an seine Freunde schrieb und die auch aufhoben. Was wir über ihn zu wissen meinen, stammt weitgehend aus den mehr oder weniger genauen Erinnerungen von Menschen, die zu Teil Jahrzehnte nach seinem Tod verfasst wurden. Und von Menschen, die ein Interesse daran hatten, Modigliani angeblich einmal sehr gut gekannt zu haben, weil man damit Geld verdienen konnte.

So machte bereits in den 1920er Jahren die Stadt Paris mit einer Broschüre international für sich als Reiseziel Werbung, in der die massiv legendarisierte Vita Modiglianis das zentrale Element ist – Paris, Hauptstadt der Kunst und der Avantgarde, beglaubigt durch Leben und Leiden des Heiligen Modi. Was an den Geschichten vom Maler, der seinen Weg durch die Bars und Cafés der Stadt und die Herzen seiner zahllosen „Musen“ mit verschenkten, verlorenen oder schlicht vergessenen Meisterwerken förmlich pflastert, wahr ist, ist aber schon wenige Jahre nach seinem Tod vollkommen unklar. Immerhin stammen die Anekdoten für die Broschüre und weitere sich als biographisch verstehende Texte zu Modigliani von Leuten, die ihn tatsächlich gut kannten – oder das zumindest glaubten oder glaubhaft vorgaben. Seinem Modigliani eine schöne Provenienz zu verleihen, war (und ist) also gar nicht so schwer. Was man braucht, ist ein Kontaktpunkt zu einem Freund, Hauswirt oder einer Geliebten Modiglianis, die das Auftauchen eines Konvoluts von Zeichnungen, eines Gemäldes oder einer Skulptur einigermaßen glaubwürdig erscheinen lässt. Dass so etwas tatsächlich nicht unwahrscheinlich ist, zeigt das Auftauchen von um die zwanzig Modiglianis aus dem Besitz von Paul Alexandre, die dessen Erben erst 1988 bekannt machten. Dr. Alexandre hatte Modigliani bald nach dessen Ankunft in Paris kennen gelernt und ihn zeitweise in seiner Künstlerkommune Unterschlupf gewährt. Als Alexandre als Armeearzt 1914 eingezogen wurde, löste sich das enge Verhältnis auf.

Für eine seriöse kunsthistorische Forschung sind das Werk und auch der Künstler Modigliani eigentlich ein einziger Alptraum. Kein gesicherter Korpus, noch nicht einmal zentrale Werk- und Lebensdaten lassen sich zweifelsfrei feststellen. Das gilt auch für Werke, die sich in renommierten Museen oder Sammlungen befinden. Die Chance, das man vor allem in einem amerikanischen oder asiatischen Museum einen Modigliani betrachtet, der nicht von ihm gemalt wurde, ist nicht gering. Und auch in europäischen Sammlungen und Museen kann man sich, – ohne Nachweis des Erwerbs in den 1910er Jahren –, nicht sicher sein, was man da eigentlich besitzt. Das Einzige, was man sicher weiß: Modigliani gehört zu den Top 3 der am meisten gefälschten Maler der Klassischen Moderne. (Die beiden anderen sind Dali und De Chirico.) Und das unter tätiger Mithilfe von Experten: Die Verfasser zweier früher Werkverzeichnisse entpuppten sich bereits in den 1920ern und 1950ern als nicht besonders zuverlässig. Beide waren außerdem in dubiose Geschäfte mit gefälschten Modiglianis verwickelt. 

Aktuell gibt es fünf Werkverzeichnisse, deren Verfasser von sich behaupten, sie hätten – durch privilegierten Zugang zu bisher nicht veröffentlichten Archivmaterialien – den definitiven Korpus abgegrenzt. Bis heute sind drei davon wegen Verwicklungen in Betrug, Urkundenfälschung, Steuerhinterziehung und Insolvenzverschleppung rund um Werke von Modigliani und anderer Künstler*innen verurteilt oder stecken noch in Verfahren. Die ehrenamtlich arbeitende Forscher*innengruppe um Kenneth Wayne, einem der renommiertesten Modigliani-Forscher, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, ein seriöses Korpus aufzustellen, kommt nicht wirklich vom Fleck. Wahrscheinlich auch, weil sich die Bereitschaft von Modigliani-Besitzern, ihren Schatz einer solchen Untersuchung auszusetzen, in Grenzen hält. Dazu kommt das Risiko, von Sammlern verklagt zu werden, weil man die Authentizität ihre Modiglianis in Zweifel zieht. So weist selbst die Tate Modern, die für ihre große Modigliani-Ausstellung 2018 einige Werke einer gründlichen Untersuchung inklusiver aufwändiger Dokumentation unterzogen hat, darauf hin, dass man nicht „in the business of authentication“ sei. Man versuche nur endlich eine realistische Vorstellung davon zu bekommen, wie Modigliani tatsächlich gearbeitet hat. Natürlich werden die Ergebnisse der Tate für die zukünftige Bewertung anderer Modiglianis, sobald sie in den Verkauf kommen, grundlegend sein. Jedes Abweichen von den zeichnerischen und malerischen Techniken, die als typisch für einwandfrei identifizierte Modiglianis erkannt worden sind, wird in Zukunft Verdacht erregen: Für den Handel mit Modiglianis wird das eine Entlastung sein. Die großen Auktionshäuser, die sich aufgrund der desaströsen Provenienz-Lage bisher sehr mit der Versteigerung von Modiglianis zurück hielten, haben nun Kriterien in der Hand, Einlieferungen unabhängig von deren angeblicher Provenienz zu bewerten. Aber gleichzeitig wissen so auch Profis mit Ambitionen, einen echten Modigliani zu malen, was zu tun ist.

An der Popularität der Marke Modigliani, dessen mandeläugige, schwanenhalsige Nackte Postkarten, Poster, Notizbücher, Tassen etc. zieren und dessen Legende jedes Jahr in einem neuen Roman, in einer neue Biographie recycelt wird, wird das alles nichts ändern. Eine attraktivere, leichter konsumierbare Form hat die Legende vom verkannten Genie, der sein Leben für die Kunst gab, noch nicht mal in Van Gogh gefunden.

 

 

Photo by Elena Mozhvilo on Unsplash

 

 

 

Spaßmaschine – Weibliche Autorenschaft und Ambition

von Katharina Hartwell

Anfang des Jahres erkundigte sich ein Bekannter nach dem Stand meiner Arbeit. Er wusste, dass ich seit einigen Jahren an einer Trilogie schrieb, deren erster Band kürzlich erschienen war. Da der zeitliche Abstand zwischen dem Erscheinen der einzelnen Bände höchstens ein Jahr betragen sollte, ich aber länger zum Schreiben brauchte, arbeitete ich seit einer geraumen Weile vor. Unmittelbar nach Erscheinen des ersten Bandes hatte ich also bereits mit dem dritten begonnen. Als ich dies meinem Bekannten  erklärte, gab er ein Prusten von sich, „Du Maschine“.

Interessant, ein paar Wochen zuvor hatte ein anderer Bekannter in einem anderen Gespräch exakt dasselbe zu mir gesagt: „Katharina, du bist so eine Maschine.“ Beide Männer schnaubten, kurz bevor sie die Worte sprachen, als würden die Worte unwillkürlich, wie ein Niesen aus ihnen hervorbrechen.

Du Maschine ist eine Beleidigung, die vorgibt ein Kompliment zu sein, in Wahrheit aber eben bloß eine Beleidigung ist. Wollen wir ihren Implikationen auf die Spur kommen, tun wir gut daran, Maschine zunächst einmal ganz wortwörtlich zu betrachten. Die Vorstellung einer schreibenden Maschine negiert alle gegenläufigen Assoziationen kreativen Arbeitens oder Literatentums. Feingeistige Intellektuelle, fühlende, denkende Poeten sind keine Maschinen, im Gegenteil, ihr Schaffen hat nichts mit Effizienz, Markt oder Kommerz zu tun, dafür umso mehr mit Genie, geistigen Höhenflügen und einer Literatur, die sowohl ästhetisch als auch inhaltlich der Trivialliteratur überlegen ist, die sich bedauerlichen Zwängen unterwirft. Im Gegensatz zum Poeten ist die Maschine seelen- und verstandlos. Weil alles, was sie schreibt, dem Diktat der Effizienz unterworfen ist, kann es weder ambitioniert noch außergewöhnlich sein. Die Maschine verfasst keine Literatur, sie produziert Schund.

„Du Maschine“ beschwört für mich die Erinnerung an ein anderes Kompliment herauf, das mir ebenfalls gleich mehrmals gemacht wurde, ausschließlich von männlichen Bekannten, immer in einem Ton irgendwo zwischen Anerkennung und Ekel: „Du willst es wissen!“

„Du willst es also wissen!“, erklärte grinsend ein Moderator nach meiner ersten  öffentlichen Lesung vor gut fünfzehn Jahren.

„Na, du willst es aber wissen!“, stellte ein Veranstalter fest, nachdem ich auf seine Nachfrage hin die drei Verlage genannt hatte, die ich mir für meinen Debütroman wünschte.

„Du willst es wissen, was?“, fragte mich erst kürzlich ein Bekannter, als ich ihm erzählte, dass ich neben der Trilogie an einem essayistischen Projekt arbeitete.

Unklar ist, was ich wissen wollte und noch immer wissen will. Vielleicht: Wie weit ich gehen kann. Was ich mir alles nehmen kann, bevor mich jemand stoppt. Wie gut ich bin. Was mir zusteht. Es wissen zu wollen ist jedenfalls eine Herausforderung, eine Kampfansage an die Welt. Du willst es wissen spricht von einer Anmaßung, du Maschine! von dem Versuch, sie durchzusetzen. Gesprochen wird in jedem Fall von einer Ambition, die unmenschlich, vor allem aber unweiblich ist. Ich habe mich zu begreifen als eine Art Terminator, nicht nur als Maschine, sondern als Kampfmaschine, als jemand, dem moralische und ästhetische Bedenken fremd sind. Skrupellos folge ich meiner eigenen Ambition.

Diesem nicht besonders attraktiven Bild wird ein anderes komplett gegenläufiges, dabei aber nicht unbedingt verheißungsvolleres, gegenübergestellt: das spielende Kind. „Das hat bestimmt viel Spaß gemacht!“, wird mir oft anvertraut, wenn andere Menschen mir meine Arbeit beschreiben. Nach dem Spaß erkundigen sich immer nur meine Kolleginnen und weiblichen Bekannten. Den Männern ist egal, ob ich Spaß hatte oder nicht, sie interessieren sich für Vorschuss- oder Auflagenhöhen.

Die Frage nach dem Spaß ist legitim und scheint mir umso legitimer je ferner die Fragende der eigentlichen Tätigkeit des Schreibens ist. Gleichzeitig würde mich interessieren, ob Michel Houellebecq, Daniel Kehlmann und Philip Roth auch oft gefragt wurden, ob ihre Arbeit ihnen viel Spaß mache. Nun, im Falle Roths zumindest kennen wir die Antwort ja.

Ich möchte mich hier keinesfalls generell gegen das Konzept von Spaß bei der schriftstellerischen oder jeder anderen kreativen Tätigkeit aussprechen. Es ist mir vollkommen gleich, wer wie viel Spaß beim Schreiben hat oder nicht hat. Ganz sicher will ich nicht argumentieren, dass ein Text, der mit Spaß geschrieben wurde, qualitativ einem unterlegen ist, der unter Qualen entstand. Mir geht es ausschließlich um das auffällige Bedürfnis, Autorinnen Spaß zuzuschreiben, ein Bedürfnis, das bei männlichen Autoren sehr viel weniger stark ausgeprägt scheint. Sie denken ja so angestrengt, wer käme da auf die Idee nach Spaß zu fragen!

Mit Spaß verbinden wir Leichtigkeit, Tätigkeiten, bei denen wenig oder nichts auf dem Spiel steht. Das spielende Kind hat Spaß. Selbstvergessen, ohne großen Plan oder Ziel spielt es vor sich hin. Doch je höher die Anforderungen sind, die man an sich selbst stellt – so empfinde ich es zumindest –, umso prekärer ist es um den Spaß bestellt. Gleichzeitig müssen Frauen aber scheinbar Spaß beim Schreiben haben. Es ist ja der Grund, aus dem wir überhaupt schreiben. Erfolg ist uns immer irgendwie passiert, zufällig, unbeabsichtigt. Wir sind fast ein wenig beschämt, befangen erröten wir, zucken die Achseln und gestehen: „Es war ja schon immer mein Traum, aber natürlich hätte ich nie gedacht, dass ich eines Tages tatsächlich …“ Wir versichern wieder und wieder, zu bescheiden zu sein, als dass wir irgendwelche Erwartungen an jene Tätigkeit geknüpft hätten, die unsere gesamte berufliche Existenz ausmacht. Wir setzen Familienplanung, Freizeit, unsere Miete und Versicherung, unsere Gesundheit und unseren Freundeskreis aufs Spiel und beteuern trotzdem, ziemlich überrascht zu sein, dass uns irgendwer bezahlen wolle, für unsere Gedanken, unsere Worte. Wir sind doch bloß unserem Herzen gefolgt und reingestolpert in die Autorinnenexistenz. Ich kann mir nicht recht erklären, wie irgendwer diesen steilen Abhang allen Ernstes hinaufgestolpert sein will, trotzdem halten wir weiter an der Fiktion fest und den Kopf unten.

„Ich finde es toll, dass du denkst, was du zu sagen hast, ist so wichtig, dass andere es lesen sollen“, sagte vor vielen Jahren eine Freundin zu mir. Noch ein Kompliment! Ein paar Jahre später umarmte sie mich und erklärte: „Ich freue mich so, dass du deinen Traum lebst!“ Dass sie es aufrichtig meinte, glaube ich ihr. Alles vergeben und vergessen, solange wir uns darauf einigen können, dass ich meinen Traum irgendwie aus Versehen lebe, dass ich Autorin geworden bin, um Gottes Willen nicht, weil ich dächte, ich hätte etwas zu sagen, sondern einzig und allein, weil es mir so viel Spaß macht! Ich habe mich aus Versehen bis hierher gespielt.

Das spielende Kind und die Maschine bilden unterschiedliche Enden eines Spektrums, haben dabei aber erschreckend viel gemein. Ihnen beiden fehlt jeder Ernst, jedes intellektuelles Verständnis für Literatur und ihre Bedeutung. Die Autorinnenmaschine ist zerfressen von Ambition, sie will es wissen –  aber ob sie überhaupt etwas von Literatur versteht? Unklar! Die Autorin, die einfach nur Spaß hat, eine tollpatschige Prinzessin, der oft ein Preis auf den Kopf fällt – sie weiß eigentlich auch nicht, warum – und die irgendwie bei einem Verlag gelandet ist, ohne dass sie es sich selbst erklären kann, muss auch nicht als ernstzunehmende Denkerin, als Schreibende, als Konkurrentin gefürchtet werden.

Beide Betrachtungsweisen im Übrigen sind entkoppelt von jeder ökonomischen Realität, als gelte diese für Frauen weniger als für ihre männlichen Kollegen. Dass ich mir als Autorin einen Vertrag für mein nächstes Buch wünsche, einen guten Vorschuss, einen neuen Auftrag, eine angemessene Bezahlung ist wohl weniger Ausdruck meines skrupellosen Bestrebens nach intellektueller Selbstverwirklichung (auch wenn der Wunsch nach Anerkennung immer und durchaus ein valider Grund ist), sondern eben unabdingbar für die Sicherung meiner Existenzgrundlage. Ob es ambitioniert ist, nicht aus der Künstlersozialkasse geworfen zu werden, weil das eigene Einkommen so niedrig ist? Ob es ambitioniert ist, die eigene Miete zahlen zu wollen, ohne dass Partner oder Familie einspringen müssen? Vielleicht. Sonderbar jedenfalls, dass diese Ambition in Gesprächen mit Kollegen so selten Thema ist, oder wenn geäußert, belächelt wird, als habe man sich die Behauptung, auf Bezahlung angewiesen zu sein, gerade ausgedacht. Der wahre Intellektuelle steht über Geld – vielleicht hat er welches geerbt oder einen lukrativen Nebenjob als Hedgefondmanager?

In jedem Fall scheint die Erkenntnis, dass das Bedürfnis, angemessen bezahlt zu werden, einen literarischen Anspruch nicht ausschließt, wohl primär für jene überraschend, die das Privileg genossen haben, stets finanziell abgesichert zu sein. Tatsächlich kann beides friedlich ko-existieren – und muss es oftmals sogar.

Herunterbrechen lässt sich die Konstruktion weiblicher Ambition meiner eigenen Erfahrung nach also oftmals wie folgt: Der offen ambitionierten Frau wird ein obsessiv, unmenschliches, sie zur Maschine machendes Streben nach Macht, Anerkennung oder Reichtum unterstellt. Dass eine ökonomische Notwendigkeit besteht, finanziell tragbar zu sein, wird ausgeschlossen oder zwar gesehen, aber dann herangezogen zur Abwertung der intellektuellen, literarischen Leistung (“Es ging nur ums Geld.” oder “Hast du gehört, wie hoch der Vorschuss war, den sie kassiert hat?”). Hieran schließt nahtlos die fatale Annahme an, Integrität und Ambition schlössen einander aus, eine Annahme, die wohl öfter für Frauen als für Männer zum Fallstrick wird. Ein defensiver weiblicher Umgang mit diesen Strukturen ist die Priorisierung von Spaß und einer damit einhergehenden Negierung jedes angestrengten und anstrengenden Strebens, welches die Frau in unangenehme Konkurrenz zu männlichen Kollegen rückt oder gar den Verdacht nahelegt, sie wolle es wissen.

Ich wünsche mir, dass das Bedürfnis, ernst genommen zu werden, nicht primär als symptomatischer Auswuchs eines krankhaften Ehrgeizes verstanden wird – vor allem bei Frauen. Ich wünsche mir, dass die Annahme, man habe etwas zu sagen, das womöglich wert ist, gehört zu werden, nicht als Anmaßung und Kampfansage betrachtet wird – vor allem bei Frauen. Denn wenn wir grundsätzlich an unserem Recht, zu sprechen und zu denken – nichts anderes ist Literatur –, zweifeln, machen wir uns selbst handlungsunfähig und stumm. Eine stumme Autorin kann aber überhaupt keine Autorin sein. Den weitläufigen Raum zwischen textproduzierender Maschine und spielendem Kind müssen wir uns also weiter schreibend erschließen und tun es Jahr um Jahr, Buch um Buch. Wenn ich mich in der aktuellen literarischen Landschaft umschaue, bin ich optimistisch, dass es gelingen kann und bereits gelingt. Wir leben in aufregenden Zeiten, wir kommen, wir sind schon fast da, wir wollen es wissen.

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Keine weiten Felder – Deniz Ohdes “Streulicht”

von Simon Sahner

 

Mit acht Schlägen auf die Bass Drum, die klingen wie das Wummern einer Maschine, beginnt der Song Iron Man der Band Black Sabbath. Dann fängt Ozzy Osbourne an, den Mann aus Stahl zu beschreiben: „Has he lost his mind, can he see or is he blind – nobody wants him, he just stares at the world.“ Der fünfzig Jahre alte Song passt (fast zu gut) in die Welt der Erzählerin aus Deniz Ohdes Debütroman Streulicht (Suhrkamp). Wenn das Album der britischen Heavy-Metal-Band am Abend im Partykeller bei ihrem Schulfreund Pikka in Dauerschleife läuft, muss sie an die schwieligen Hände ihres Vaters denken, der im nahen Industriepark arbeitet.

Das Umfeld, in dem die Coming-of-Age-Geschichte der namenlosen Erzählerin spielt, wirkt nicht unvertraut: eine Kleinstadt irgendwo in Deutschland, ein Fluss fließt, eine Fabrik verdeckt den Horizont und am Abend sitzen die Jugendlichen mit Sixpacks auf der Brücke. So einfach macht es uns der Roman aber nicht. Der Vater der Erzählerin ist ein  Industriearbeiter, ihre Mutter ist als junge Frau aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Dadurch gerät die erzählende Figur in eine Position intersektionaler Marginalisierung. Christian Baron hat im Imagevergangenen Jahr in Ein Mann seiner Klasse beschrieben, wie ein Kind aus einer Arbeiterfamilie, das Gewalt, Verwahrlosung und Vernachlässigung durch Familie und Gesellschaft ausgesetzt ist, seinen Weg aus diesem Umfeld findet. Die Protagonistin in Streulicht wächst auf den ersten Blick in ähnlichen Umständen auf. Vater und Mutter streiten viel und manchmal kommt es zu Gewalt. Dann muss sie zum Großvater, der in der Wohnung im Erdgeschoss wohnt. Die Wohnung ist oft schmutzig, Hausaufgaben macht sie, während nebenher Talkshows laufen, und der Vater muss nachts aus der Kneipe abgeholt werden. Doch zu diesen Umständen, in denen die Erzählerin aufwächst, kommt zusätzlich die Diskriminierung, der sie aufgrund der Herkunft ihrer Mutter und des Vornamens, den ihre Eltern ihr gegeben haben, ausgesetzt ist.  All diese Lebensumstände signalisieren für die deutsche Mehrheitsgesellschaft einen bestimmten Platz, an den die Erzählerin gehört. Dass sie an diesem Ort aber nicht bleibt, davon handelt Streulicht.

Warum bist du hier?

Die symbolische Verbindung zwischen dem hart arbeitenden Vater und dem Song von Black Sabbath (die Band bestand selbst aus ehemaligen Stahlfabrikarbeitern) erscheint also naheliegend. Es besteht aber eine zweite, subtilere symbolische Verbindung zur Erzählerin, die  dafür umso stärker ist. Osbourne beschreibt den Iron Man aus einer Außenperspektive, wer oder was ist diese Gestalt, has he thoughts within his head, hat er eigene Gedanken, why should we even care, warum sollten wir uns um ihn kümmern, nobody wants him, he just stares at the world, niemand will ihn, er starrt nur die Welt an, in die er nicht gehört.

Wie der stählerne Mann im Song fühlt sich die Erzählerin immer fehl am Platz. Ein Teil der Gesellschaft scheint allein von ihrer Existenz überrascht zu sein. Als Tochter einer türkischen Mutter und eines Vaters aus der Arbeiterklasse fällt sie durch alle Raster, insbesondere durch die des Erziehungs- und Bildungssystems. Besonders eindrücklich wird das, als die Erzählerin feststellt, dass es keinen Scout-Schulranzen zu kaufen gibt, auf dem ihr Vorname steht – fast als wollte ihr das System Bildung von Beginn an vermitteln, sie gehöre nicht hierher. Dabei ist das Problem gar nicht, dass es in der Vorstellung dieses Systems keinen Platz für intersektional marginalisierte Menschen wie die Erzählerin gäbe, die Irritation entsteht erst, als sie den für sie vorgesehenen Platz nicht einnimmt. Jedes Mal, wenn sie sich vor dem Bildungssystem rechtfertigen muss, wird ihr die Frage nach dem Warum gestellt. Woran hat es gelegen, dass sie nicht weiter kam, warum waren die Noten so schlecht, warum musste sie erst den Umweg über die Abendschule gehen und warum hat sie nicht einfach lauter gesprochen? Erst langsam wird beim Lesen klar, dass die eigentliche Frage, die hinter all den anderen steckt, die Frage ist: Warum bist Du hier?  Warum bist Du hier am Gymnasium, an der Uni, hier, wo jemand wie du nicht hingehört?

Die einzige Erklärung, die Lehrer*innen, Schulrektor*innen und anderen Vertreter*innen des Bildungssystems in den Sinn kommt, ist die teilweise Verleugnung der Identität der Erzählerin. Denn, wenn sie als Tochter einer sogenannten Migrantin und eines Arbeiters eine Bildungshürde überwindet, erklärt man ihr jedes Mal freudig, dass sie wohl nicht so sei wie die Anderen. In den Augen des Systems ist sie durch ihren Bildungsaufstieg nicht mehr Repräsentantin der Anderen; der Menschen nämlich, die aufgrund von Bildungsdiskriminierung diesen Punkt meist gar nicht erst erreichen können. Die Protagonistin schafft diesen Weg einem System zum Trotz, das ihr vom ersten Tag an klar gemacht hat, dass allein ihr Name schon ein Zeichen dafür ist, dass dieser Ort nicht für sie vorgesehen ist.

Kinder mit Namen im Lesebuch

Der Widerstand, den das System für die Erzählerin bereithält, wird umso deutlicher dadurch, dass Ohde ihr zwei Kontrastfiguren gegenüberstellt, deren Weg durch die Bildungsstufen niemals in Frage steht. Mit Pikka und Sophia, zu deren Hochzeit die Erzählerin am Beginn des Romans wieder in ihren Heimatort kommt, ist sie zwar befreundet, abgesehen vom gemeinsamen Wohnort könnten die Lebenserfahrungen jedoch unterschiedlicher nicht sein. Pikka, dessen Vater eine Führungsposition in einer Firma im Industriepark hat, wird zunächst in die Dachwohnung bei seinen Eltern ziehen, dann später in das bereits gekaufte Hinterhaus und einen ähnlichen Job bekommen wie sein Vater. Während Pikkas Vater den Prototyp des mittelständisch erfolgreichen Angestellten verkörpert, ist Sophias Mutter als die perfekte Hausfrau gezeichnet, immer ordentlich, engagiert im Ort und stets freundlich, und genauso wird ihre Tochter einmal sein. Sophia ist diejenige, die gemeint ist, als die Lehrerin am ersten Schultag verkündet, in der Klasse gebe es jemanden, die den gleichen Namen habe wie eine Figur aus dem Lesebuch. Damit sind die beiden Freund*innen der Erzählerin aber auch ein Pikka und eine Sophia, sie stehen exemplarisch für die Gruppe der Kinder aus behüteten Mittelschichtsfamilien, in denen alle klassisch deutsche Vornamen haben wie Anna, Julia, Sabrina, Sandra und eben Sophia. Namen, die auf Scout-Schulranzen stehen und die Figuren in Grundschullesebüchern tragen. Der Name der Erzählerin bleibt im gesamten Roman ungenannt.

In dieser Beispielhaftigkeit der Figuren Pikka und Sophia liegt auch eine der wenigen Schwächen in einem ansonsten hervorragenden Debüt. Dabei geht es nicht um die Plausibilität der Figuren, auch nicht grundsätzlich um ihre Freundschaft mit der Erzählerin, sondern um die erzählerische Diskrepanz zwischen der ausdifferenzierten Persönlichkeit der Erzählerin und der Schablonenhaftigkeit der Kontrastfiguren. Pikka und Sophia sind Abziehbilder, Klischeefiguren, die Erzählerin dagegen eine detailliert gezeichnete Person. Sie ist kein Beispiel, eben weil diese Figur zwischen allen Stühlen sitzt, weil sie im Keller von Pikka Black Sabbath hört und Gin Tonic trinkt und Abitur macht und mit Cansu im Auto vor der Abendschule kifft; weil sie beim Karneval dabei ist, von Sophias Eltern eingeladen wird und trotzdem niemand außerhalb ihrer Familie versteht, warum sie eben doch nicht dazugehört und ihr rassistische Begriffe nachgerufen werden. Erst langsam erkennt sie Zusammenhänge, die anderen nicht einmal auffallen. Warum die Disziplin, die sie sich in der Schule aneignen musste, sie als Studentin zur Außenseiterin macht, dass nicht alles, was erwartet wird, auch verpflichtend ist und was das Lesen der ZEIT in der Öffentlichkeit für einen Effekt hat. Deniz Ohde hat ähnlich wie Olivia Wenzel in 1000 serpentinen angst (Rezension hier) mit ihrer Erzählerin eine glaubhafte Figur geschrieben, die niemanden außer sich selbst repräsentiert, an deren Lebensweg aber viel ablesbar und vieles deutlich wird, das über sie hinaus weist.

Besonders tritt dabei in Streulicht hervor, wie rassistische Diskriminierung und Stigmatisierung ablaufen, die sich nicht vordergründig in Hass und Gewalt äußern, sondern ganz nebenbei. Offener Rassismus ist in Streulicht oft eine dräuende Angst vor Neo-Nazis in Springerstiefeln und Verunsicherung durch die Anschläge zu Beginn der 90er Jahre. Diese Form der rassistischen Gewalt schwelt aber die meiste Zeit im Hintergrund des Alltags der Erzählerin. Nur einmal berichtet die Erzählerin von einem Kind, das sie direkt mit einem rassistischen Begriff beschimpft, aber auch das bleibt nur angedeutet. Ständig präsent in der Erzählung ist aber das Bewusstsein im Alltag vorsichtig sein zu müssen, besser alles genau zu wissen, als nachfragen zu müssen – am besten nicht aufzufallen. Die Erzählerin erkennt, dass Unwissen bei ihr etwas anderes bedeutet als bei Sophia, sie ist diejenige, die gefragt wird, ob deutsch ihre Muttersprache sei, sie wird im Studium für eine Erasmus-Studentin gehalten und betont irgendwann selbst, sie sei nicht so wie andere mit türkischem Elternteil. Und dabei wird ihr wiederholt vor Augen geführt, dass dieser Rassismus gerade für sie doch kein Problem sein sollte, eben weil sie ja nicht so sei wie die Anderen. Das ist vielleicht das Schmerzhafteste an diesem Roman. Er zeigt, dass allein die Existenz der Erzählerin als Tochter einer türkischen Mutter und eines deutschen Vaters aus der Arbeiterklasse mit Abitur eine Provokation zu sein scheint.

Coming-of-Age mit Brüchen

Ähnlich wie mit der Erzählerin verhält es sich mit dem Roman. Er verweigert sich vielen Einordnungen, die auf den ersten Blick nahe lägen – für ihn ist das gut. Als Referenzen wurden im Vorfeld oft die französischen Autor*innen Annie Ernaux, Didier Eribon und Edouard Louis genannt, die ähnlich wie Ohde das Überwinden von Klassengrenzen beschreiben, auch Christian Barons Debüt fällt – wie bereits genannt – in diese Kategorie. Doch spielt bei Ohde eben noch das Thema rassistischer Diskriminierung hinein und damit ist Streulicht wie gesagt auch in der Nähe von 1000 serpentinen angst von Olivia Wenzel.

Mehr als die hier genannten, ähnlichen Romane ist Streulicht aber strukturell ein fast klassischer deutscher Coming-of-Age-Roman, in dessen Struktur aber geschickt Brüche eingefügt sind, wodurch die Position der Protagonistin im gesellschaftlichen Gefüge noch einmal deutlicher zum Tragen kommt. An einer der stärksten Stellen des Romans erkennt die Erzählerin das selbst, als sie sich anhand von Teenie-Filmen vorstellt, wie ein Sommer ihrer Jugend aussehen könnte, und feststellt, dass es diesen Sommer für sie nicht gibt:

Nichts daran wäre der charmanten Außenseiterrolle der Mädchen aus den Filmen gleichgekommen, Nichts daran wäre Sophia gleichgekommen, die mit mir auf der Bühne gestanden hatte und sich identifizierte mit dieser Rolle, die Füße auf dem weichen Teppich, an ein Kissen gelehnt auf der Fensterbank. Es waren ungefährliche Veränderungen. Es waren süße Verwirrungen auf weiten Feldern. Es war ein bauchfreies Top und eine sanfte Bräune, die sie tragen würde am Ende des Sommers […].

Durch dieses Bewusstsein für Erzählungen und wen sie repräsentieren, das sich durch den gesamten Roman zieht und ihn dadurch nebenbei auch zu einem Kommentar auf eine bestimmte Sorte von deutschen Coming-of-Age-Geschichten macht, wird Streulicht zu einem hervorragenden Debütroman. Deniz Ohde hat die stilistische Sepia-Melancholie weiter Sommerfelder durch die sprachliche Kühle grauen Industrieschnees ersetzt und damit die Geschichte einer deutschen Jugend erzählt.

Deniz Ohde hat auf Spotify eine Playlist unter dem Titel Streulicht zusammengestellt, die neben dem Song Iron Man, der im Roman selbst vorkommt, eine Vielzahl an Songs enthält, die die Stimmung des Romans aufnehmen, die Handlung kommentieren können oder für die Autorin aus anderen Gründen zu dem Roman gehören. Der Mix, der von Black Sabbath über Cardi B, Tocotronic und bis zu den NoAngels reicht, wird abgeschlossen mit Everything is Everything von Lauryn Hill. Fast jede Zeile des Songs scheint wie für den Roman gemacht, doch vier Zeilen stechen heraus: It seems we lose the game / Before we even start to play / Who made these rules? / We are so confused.

 

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Die Psyche als Quest – Geistige Gesundheit in Videospielen

von Matthias Kreienbrink

 

Darstellung psychischer Erkankungen gibt es in Videospielen inzwischen reichlich. Doch gibt es da diese Reibung, wenn sie im Spiel eine Aufgabe hat, einen Zweck.

Wollte man zynisch sein, könnte man die psychischen Probleme von Ellie in „The Last of Us Part II“ lediglich als Hilfsmittel beschreiben, das die Spieler*innen befähigt, sich weiterhin rächend durch die Spielwelt zu bewegen. Geplagt von ihrer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) kommt Ellie nicht zur Ruhe, muss den Mord an ihrem Ziehvater rächen – wird gejagt von ihren Erinnerungen an dessen Ende, das die Spieler*innen gleichsam zum Ende des Spiels führen soll, zum großen Showdown. Ohne Ellies psychisches Leiden wäre das Spiel bereits zu Ende.

Es wäre allerdings nicht angemessen, dieses Spiel, oder Videospielen insgesamt, zynisch zu besprechen. Dafür gibt es zu viel Substanz, die einem vergnüglichen oder zumindest interessiertem Spielen im Weg stünde. Die Darstellung von PTBS in „The Last of Us Part II“, die sich in Flashbacks, Schlaflosigkeit und Getriebensein äußert, macht den Charakter nicht lächerlich, es stellt ihn nicht als anormal aus. Doch zeigt sich wieder, dass es wohl eine generelles Problem bei der Darstellung psychischer Erkrankungen in Videospielen gibt: Sie haben zumeist nicht nur einen Grund. Sie haben auch einen Zweck.

 

Ein dunkler Gang

Ein Gang durch die Darstellung psychischer Erkrankungen der ersten Jahrzehnte des Mediums Videospiel ist ein Gang in eine dunkle, zerfallene psychiatrische Anstalt. Überall das Stöhnen der gruseligen Insassen. Verfaulte Münder, dreckige Fetzen am Körper. Ein Blick in den Kopf der Vegetierenden: Verworrene Labyrinthe, tiefe Abgründe –  hinter jeder Windung die sadistische Lust an Gewalt. Die Psyche und ihre dunklen Ecken sollte die Spieler*innen das Gruseln lehren und ihnen gleichzeitig einen Grund an die Hand geben, wieso der Held kompliziert und der Bösewicht böse ist. Besonders im Horror-Genre, aber nicht nur dort, werden Bilder von Zwangsjacken, elektrischen Schocks und Spritzen mit giftgelber Flüssigkeit evoziert – allesamt Markierungen für das “Verrückte”, eine Karikatur der durchgedrehten Psyche. 

Dieser Gang jedoch hat inzwischen einige Abzweigungen bekommen. In „Sea of Solitude“ etwa (einem Spiel des deutschen Entwicklerstudios Jo-Mei). Die Protagonistin Kay erlebt die Angst, die ihre Jugend ihr gebracht hat, in Form von Monstern, die sie verfolgen – bis sie selbst zu einem wird. Die Spieler*innen steuern sie durch eine fast untergegangene Welt. Es geht darum, nicht zu verharren, sondern weiterzugehen, Erinnerungen hinter sich zu lassen. „Sea of Solitude“ setzt sich ästhetisch und narrativ mit Angst auseinander, mit den Lasten des Vergangenen, dem endlosen Sog. Die Psyche wird hier zur Spielwelt – jedoch nicht um sich wohlig zu gruseln. Sondern um zu mitzufühlen.

 

Helfende Spiele

In den letzten Jahren sind einige, zumeist kleinere, Spiele erschienen, die sich der Psyche auf emphatische Weise nähern. Ein „Gris“, das mit seinen wunderschönen Bildern nur fast die Dunkelheit der Depression überdecken kann. „Concrete Genie“, das den Spieler*innen direkt die Pinsel in die Hand gibt, um eine graue Stadt – das erblichene Innere eines Jungen ohne Freunde – wieder zum Strahlen zu bringen. Und selbst ein „Dark Souls“ kann als Allegorie auf die verwüstete kalte Welt einer Depression gelesen werden.

Nicht nur diese Spiele, die sich explizit mit psychischen Problemen auseinandersetzten, können Spieler*innen in ihren Depressionen oder Angsterkrankungen eine Ablenkung oder sogar eine Hilfe sein. Videospiele werden vielerorts als Hilfsmittel in Psychotherapien angewendet oder Patient*innen, die gerne spielen, als Ressource zur Seite gestellt. Sie können etwa Selbstwert aufbauen, kleine Erfolgserlebnisse bieten, auf spielerische und künstlerische Art eine Auseinandersetzung mit dem Ich ermöglichen.

 

Sinnhafte Depression

In Ästhetik oder Narration werden psychische Erkrankungen inzwischen also in Videospielen durchaus sensibel verhandelt. Es sind bemerkenswerte Spiele entstanden, die sich der Psyche auf unterschiedliche Weisen und in komplexen Mechaniken nähern. Gerade die Interaktivität der Spiele ist es, die eine Auseinandersetzung und Verarbeitung ermöglicht, wie kein anderes Medium – persönlicher, individueller. 

Doch bringt gerade dies, die Interaktivität, auch ein Problem mit sich, die tief in den Mechaniken des Spiels vergraben liegt: Psychische Erkrankungen haben im Videospiel fast immer einen Zweck und Nutzen. Sie sollen die Spieler antreiben, ihnen einen Handlungsantrieb geben. Die Krankheit hat einen narrativen und spielmechanischen Dienst zu leisten.

In „The Last of Us Part II“ treibt sie die Spieler*innen an, wieder zur Waffe zu greifen, die Rache fortzusetzen. In „Sea of Solitude“ ist ohne die Angst kein Grund da, sich den Monstern zu stellen. Und selbst „Concrete Genie“ braucht ohne das Alleinsein keine pinselnden Spieler*innen. Die Psyche und ihre Erkrankung wird ein Instrument des Gameplays. Sie wird zum Antrieb – zur Notwendigkeit, damit das Spiel weitergeht. Und so erscheint sie sinnhaft, als müsse sie da sein.

 

Mechaniken widersetzen sich

Wer einmal unter Angst oder Depressionen gelitten hat, der kennt diese fragmentarische und fragmentierende Erfahrung, die damit einhergeht. Sie ist kontigent – kein Teil der Psyche kann mehr verfügbar gemacht werden. Das Kopf-Sein erscheint erratisch, gewalttätig, laut – oder besonders leise. Aber immer ohne Sinn. Die Spielmechaniken der Videospiele geben der psychischen Krankheit diesen Sinn, indem sie ihr eine Aufgabe zuschreiben. Es entstehen Kausalzusammenhänge: PTSD führt zu Flashbacks führt zum Rachefeldzug führt zu den Endcredits des Spiels. Die Psyche, das Unverfügbare, wird verfügbar gemacht.

Vor gut drei Jahren erschien „Hellblade: Senua’s Sacrifice“. Die Spieler*innen steuern die Kriegerin Senua, die sich gegen allerlei schauriger Wesen behaupten muss. Doch kein Gegner in diesem Spiel ist größer als es die Stimmen in ihrem Kopf sind. Sie flüstern ihr ein: Du bist nicht gut genug, wirst es nie sein. Wieso gibst du nicht auf? Hast du nicht schon aufgegeben? Es sind Stimmen, die auch die Spieler*innen hören, die auch ihnen böse zuflüstern. Senua ist kein willfähriger Automat, der auf jede Eingabe der Spieler*innen adäquat reagiert. Die Spielmechaniken widersetzen sich. Ist das die kranke Psyche – spielbar gemacht?

 

Bild: Gris – Devolver Digital

 

Wir sind nicht so – Über Diversität, Tokenism und „Migrationsliteratur“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

von Simoné Goldschmidt-Lechner

Obwohl man Amazon-Rezensionen zu Büchern bekanntlich niemals lesen soll, stieß ich auf den folgenden Kommentar unter dem Sammelband Eure Heimat ist unser Albtraum, der 2019 bei Ullstein erschienen ist:

„Ich würde jeden bitten, sich seine Meinung über türkischstämmige Deutsche nicht über so ein Jammerbuch zu bilden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Nichte eines Gastarbeiters wirklich die Beweggründe ihres Großvaters nachvollziehen kann.”

Der Titel dieser Rezension lautet „Wir sind nicht so“. Das Spannende ist hier, dass die rezensierende Person sich offensichtlich in dem Kontext des provokativ-binären Titels nicht mit der Rolle der Angesprochenen (Eure Heimat) identifizieren konnte. Das heißt, sie identifiziert sich nicht mit Ihr, sie verwendet ein anderes Framing, nämlich das des kollektiven Wir. Sie möchte sich jedoch gleichzeitig von dem Wir des Buchtitels distanzieren und eine dritte Kategorie aufmachen: nämlich die von BIPoC-Personen (bzw. „Menschen mit Migrationshintergrund“ oder „türkischstämmigen Deutschen“, wie der/die Kommentator*in selbst schreibt), die integriert seien. Für diese Gruppe sei die Heimat der anderen eben kein Albtraum. Es geht also um Ein- und Abgrenzung von Identitätszuschreibungen, die interessanterweise nicht nur von der Mehrheitsgesellschaft vorgenommen werden kann, sondern auch von anderen Personen aus marginalisierten Positionen, zuweilen aus derselben marginalisierten Position wie der eigenen. Die Person, die diese Rezension verfasst hat (mit deren Meinung, das sei an dieser Stelle deutlich gesagt, ich natürlich nicht übereinstimme), verwehrt sich also folglich einem Kategorisierungsversuch, den sie als übersimplifiziert wahrnimmt. Sie sieht sich und ihre Identität in ihrer Komplexität in diesem Sammelband nicht repräsentiert.

Obwohl der Literaturbetrieb zu großen Teilen immer noch ein exklusiver Club ist und erst langsam vereinzelte Stimmen von BIPoC und weißen Menschen mit Migrationshintergrund sowie Stimmen von Frauen zu Wort kommen, scheint es gerade in letzter Zeit einen Trend zu geben, verschiedene Identitäten in der Literaturszene greifbar und eben auch repräsentierbar zu machen. Das trifft auf Frauen zu (siehe die Debatte zu Sexismus im Literaturbetrieb von 2017 sowie #VorschauenZählen), auf Personen der LGBTQI+ Communities, und in letzter Zeit auch besonders auf Personen mit „sichtbarem Migrationshintergrund“, also BIPoC Personen. In der Regel sind es nicht nur die Autor*innen, die diese verschiedenen Identitäten, diese „Diversität“, repräsentieren sollen, sondern auch die Inhalte ihrer Werke. Beispiele sind mannigfaltig, über Romane und Gedichtbände der letzten Jahre, wie Saša Stanišić‘ Herkunft (2019), Fatma Aydemirs Ellbogen (2017), Shida Bazyars Nachts ist es leise in Teheran (2016) und Özlem Özgül Dündars gedanken zerren (2018), bis hin zu jüngst erschienenen Romanen, 1000 Serpentinen Angst von Olivia Wenzel (März 2020), Im Bauch der Königin von Karosh Taha (April 2020) oder Die Sommer von Ronya Othmann (August 2020). Es geht um Familiengeschichten, autofiktionale Erzählungen und die Geschichten von Communities, aus denen man selbst kommt, in Vierteln, in denen man selbst groß geworden ist. Immer auch um die Identität, die sich aus einer postmigrantischen Perspektive ergibt, dieses Dazwischen, wenn es beispielsweise aus der Perspektive der 18-Jährigen Hazal in Ellbogen heißt:

„Irgendwas hat ‚Gegen die Wand‘ gerade mit mir gemacht, irgendwas ist jetzt für immer anders. Aber Mama hat nur mit der Zunge geschnalzt und ‚Allah, Allah‘ gemurmelt, und dann behauptet, die hätten den Film nur gemacht, damit wir Türken schlecht dastehen. Punkt. Das war alles, was sie dazu zu sagen hatte. Ich habe sie nur wortlos angeschaut und mir den Film noch wochenlang heimlich zum Schlafengehen reingezogen.“

Während ich die steigende Anzahl an Veröffentlichungen von fellow BIPoCs vorbehaltlos begrüße – schließlich sind es diese Werke und Erzählungen, die mich dazu bewegt haben, mich überhaupt näher mit jüngerer deutschsprachiger Literatur zu befassen und die mich dazu ermutigt haben, selbst zu schreiben – klingen trotzdem oft die Worte aus Rezensionen, wie aus der eingangs zitierten, für mich als Woman of Colour[1] nach, legen sich bitter auf meine Zunge und wollen nicht recht weichen. Der Grund dafür liegt nicht darin, dass Wir so nicht sind, denn kollektiv sind Wir es: Wir machen alle Rassismuserfahrungen in verschiedenen Kontexten. Aber ich, bzw. das Wir meiner Familie, das Wir meiner Herkunft und Geschichte, die zu einer sehr bestimmten Art von verschiedenen komplexen Diskriminierungsmechanismen nicht nur in Deutschland, sondern auch im „Herkunftsland“ meiner Mutter geführt haben, sind in all diesen Werken nicht vertreten. Diese Geschichte kann nur ich schreiben. Und die Frage, die unter der Oberfläche schwelt, ist, ob es dafür in der deutschsprachigen Literaturszene noch genügend Raum gibt, oder ob das Kontingent für Frauen of Color nicht mittlerweile ausgeschöpft ist.

Die von mir manchmal empfundene Bitterkeit ergibt sich genau daraus, dass es eine Begrenzung der Plätze in Verlagen, Agenturen und Wettbewerben für uns zu geben scheint. Eine Begrenzung, die eine Vielfalt unseres Wir nicht zulässt, die im Feuilleton fortgeführt wird, wenn Rezensionen die Komplexitäten eines bestimmten Werkes einer mehrheitlich weißen Leserschaft nicht begreifbar machen können, geschweige denn die verschiedener Werke unterschiedlich positionierter Personen innerhalb derselben Gruppe. Ein Beispiel hierfür sind die Kommentare weißer Feuilletonist*innen in Bezug auf den angeblich unauthentischen Sprachgebrauch in Aydemirs Ellbogen (“Ordentlich Milieu drübergeschnoddert” lautete etwa der Titel der Zeit Online Rezension, die Aydemir vorwirft, sie würde “Migrationsklischees” reproduzieren.) Hier nämlich liegt die zweite Gefahr: Dass unsere Geschichten, wenn sie denn aufgeschrieben werden, dass diese singulären Geschichten letzten Endes unverstanden bleiben. Dass die wenigen von uns, die es in die kollektive Wahrnehmung eines Wir schaffen, vereinfacht aufgenommen, die Singularität unserer Geschichten einer Lesegewohnheit der Mehrheit zum Opfer fällt.[2] Dass also diese Geschichten, die gelesen werden, nicht für BIPoC-Personen als Repräsentation dienen, sondern für die Unterhaltung der Mehrheitsgesellschaft zu einer Art Token verkommen, der „Migrationsliteratur“ heißt.

Der Begriff des Tokens und des Tokenism kommt aus der anglophonen Antirassismusforschung. Im Cambridge Online Dictionary wird Tokenism folgendermaßen definiert: „[A]ctions that are the result of pretending to give advantage to those groups in society who are often treated unfairly, in order to give the appearance of fairness”, das heißt also, solche Aktionen, die zum Schein einer Bevorzugung marginalisierter Personengruppen erfolgen, aber nicht das Ziel einer tatsächlichen Gleichstellung im Sinne von fairer Behandlung haben, die also einer rein symbolischen Funktion dienen. Alice Hasters nennt dies in Bezug auf BIPoC-Personen auch den Maskottcheneffekt, ich verwende hier entweder den englischen Begriff oder den der Tokenisierung (auch weil mir die Doppeldeutigkeit des Begriffes aus der Computerlinguistik, die Segmentierung des Textes bis auf die Wortebene, gefällt, denn letzten Endes geht es auch um eine Zerstückelung der Möglichkeit einer gemeinsamen, sich gegenseitig verstärkenden Stimme marginalisierter Personen).

Mit einer PoC-Freundin, die auch literarisch schreibt, sprach ich kürzlich über diese Tokenisierung, die unserer Meinung nach mit der Undurchsichtigkeit des Literaturbetriebes zusammenhängt, die sich für diejenigen Player verschärft, die nicht schon Teil des Spiels sind. Wenn wir uns zunächst einer vereinfachten Pauschalisierung hingeben, so kommen wir schnell zu dem Ergebnis, dass der Literaturbetrieb, wie alles innerhalb eines marktwirtschaftlichen Systems, nach zwei sehr grundsätzlichen Regeln funktioniert:

1. Es muss mehr Konsument*innen (d.h., Leser*innen) geben als Produzierende und
2. Diese Produzierenden müssen auf dem Markt profitabel sein.

Für den ersten Punkt muss eine künstliche Güterknappheit gewährleistet werden. Im deutschsprachigen Raum ergibt sich diese aus der Verzahnung unterschiedlicher Gatekeepingmechanismen: Literaturagenturen und Verlage, die darüber entscheiden, was veröffentlicht wird, Stipendien und Preise, die darüber entscheiden, wer Verlagen, Agenturen und ersten Leser*innen auffällt, und Kritiker*innen und Reviewer*innen, die eine stellvertretende Bewertung für die Leser*innenschaft vornehmen, und Bücher empfehlen, verreißen oder ignorieren können. Damit die Produzierenden auf dem Markt profitabel sind, müssen sie bei den Kosument*innen das Verlangen auslösen, die von ihnen erschaffenen Produkte zu erwerben, d.h. also Bücher oder andere Formen literarischen Outputs, Onlinelesungen etwa oder Diskursformate.

Wenn wir nun also die gesellschaftliche Norm als cis-männlich, weiß und heterosexuell definieren[3], dann verwundert es zunächst nicht, dass die Eigenschaften, die Leser*innen gerne in ihren Protagonist*innen und Autor*innen sehen wollen, eben diese cis-männlich, weiß und heterosexuell normierten Eigenschaften sind. Das heißt, alle Positionen, die dieses Verlangen nicht erfüllen, werden zunächst als weniger profitabel gewertet, und werden tendenziell vom Markt ausgeschlossen. Dadurch wird verhindert, dass sich die Nachfragestrukturen im Mainstream des Literaturbetriebs grundlegend ändern können, weil Leser*innen so Gewohnheiten und Erwartungen entwickeln, die sich durch die Angebotsstruktur des Marktes erst bedingen.

Gleichzeitig ändert sich aber die Zusammensetzung unserer Gesellschaft stetig weiter, und die Ideen und Grundsätze der Leser*innenschaft ändern sich ebenso. Durch gesellschaftlichen Wandel kommt es außerdem immer wieder zu Situationen, in denen bestimmte marginalisierte Positionen in den Fokus rücken, ihre Stimmen mehr Gehör finden. Momentan findet im Rahmen von Black Lives Matter eine globale Solidarisierungsbewegung statt, die dazu führen könnte, dass tatsächlich auch im deutschsprachigen Literaturbetrieb eine Vielfalt an Stimmen längerfristig gehört wird. Problematisch bleibt aber das Sättigungspotential, das aus den oftmals weißen, cis-männlich, heterosexuellen und bildungsnahen Gatekeeperpositionen bestimmt wird. In anderen Worten: Trends bleiben für Entscheider*innen Trends. Auf den Trend aufzuspringen ist profitabel, aber um dem Trend zu folgen reicht es vielleicht, ein bis zwei neue Autor*innen, die Schwarz oder People of Color sind, unter Vertrag zu nehmen. Dies kann aber natürlich niemals die Bandbreite unserer Stimmen abdecken. Wichtig ist und bleibt also zum einen die Solidarität miteinander. Wir müssen einander ermutigen, helfen, empowern, damit möglichst viele Geschichten aus marginalisierten Positionen gehört werden.[4] Wir müssen als Leser*innen diejenigen Verlage, Literaturförderungen und Agenturen stärken, die sich um eine größere Bandbreite an Literatur bemühen und von denen es zum Glück immer mehr gibt. Gerade wenn wir in Entscheider*innenpositionen hineinrutschen müssen wir dafür Sorge tragen, dass wir so viele Geschichten wie möglich sichtbar machen. Dazu gehört, dass wir natürlich auch besonders die Stimmen derjenigen Personen, die noch gar kein Gehör finden, stärken. Dazu gehört auch, uns nicht davon abhalten zu lassen, aus kleinteiligen Wortsegmenten zurück zu unserer eigenen Stimme zu finden. In anderen Worten: Unsere Geschichten sollen nebeneinander stehen können, und nicht für einander und sie können und sollen mehr sein als eine Einordnung in eine Zuschreibung von innen oder von außen. Diese erzählerische Vielfalten müssen, wie sie es jetzt bereits begonnen haben zu tun, die Fesseln der zugeschriebenen „Migrationsliteratur“ sprengen dürfen.

Es stimmt also, wir sind so nicht. Wir sind viel mehr als das. Und im Literaturbetrieb muss Raum geschaffen werden, diese Vielfalt abzubilden, eine echte Diversity zu schaffen, anstatt sich auf Symbolhaftem auszuruhen.

 

[1] Ich schreibe in Selbstbezeichnung Woman of Colour nicht of Color, auch wenn die amerikanische Schreibweise in Deutschland gängiger ist. Die britische Schreibweise verwende ich, um auf die britische Kolonialvergangenheit in Südafrika hinzuweisen.

[2] Vgl. Chimamanda Ngozi Adichies TED Talk: „The danger of a single story”.

[3] Auf identity politics möchte ich an dieser Stelle auch nicht näher eingehen, empfehle aber für eine konstruktiv-kritische Auseinandersetzung mit dem Thema den Sammelband Trigger Warnung, erschienen 2019 im Verbrecher Verlag.

[4] Ich beziehe mich in diesem Artikel aus gegebenem Anlass besonders auf BIPoC-Personen, möchte aber andere marginalisierte Positionen explizit mit einschließen.

Photo by Jan Genge