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Nicht kaschierte Distanz – Zum Tod von Ruth Klüger

von Christiane Frohmann

 

 

Als sich am 7. Oktober 2020 auf Twitter die Nachricht vom Tode Ruth Klügers zu verbreiten begann, blickte ich auf der Plattform um mich und sah in viele aufrichtig betroffene Gesichter. Diese Gesichter musste ich nicht buchstäblich sehen, um sie wahrzunehmen, sie formten sich mittels Buchstaben, Worten, Tweets. Unter den Menschen, die da spürbar trauerten, waren auffallend viele, die wichtige Referenzpunkte in meinem persönlichen digitalen Kulturbetrieb bilden, weil sie mir Bücher empfehlen, die mir gefallen, weil sie ehrenamtliche Lektorinnen meiner Essays sind, weil sie auf Konferenzen Dinge sagen, die mich zum Denken anregen, weil ich mit ihnen gern in Verbindung bin, beruflich und privat. Mit Ruth Klüger ist offensichtlich jemand gestorben, der nicht nur für mich, sondern für Menschen im Netz, die mir wichtig sind, besondere Bedeutung hat.

In der Tagesschau am selben Abend wurde über den Tod einer anderen Person berichtet, die vor allem als Komiker bekannt geworden ist, Ruth Klügers Name wurde nicht erwähnt. Nun könnte man verschiedene mögliche Erklärungen dafür finden, warum der Tod des Komikers nachrichtenwürdig erschien, der von Ruth Klüger aber nicht, wie etwa: Die Nachricht von ihrem Tod war der Redaktion noch nicht bekannt. Wenn ich aber diese Nachricht durch den bloßen Umstand, auf Twitter zu sein, ungesucht bekommen habe, sollte eine Redaktion ebenfalls über diese Information verfügen. Eine andere mögliche Erklärung ist: Man hat sich dagegen entschieden, zu berichten, weil Klüger keine deutsche, sondern eine deutschsprachige austroamerikanische Autorin war. Auch diese Erklärung ist kaum befriedigend. Schließlich werden österreichische Autoren wie Handke und Bernhard, aber auch der tschechische Autor Kafka in Deutschland wie ein selbstverständlicher Teil der Nationalkultur behandelt, obwohl sie es faktisch nicht sind. Diese Autoren, so meine These, sind so sehr kanonisiert, dass man die Fremdanteile an ihnen gern ausblendet, um sie als Eigenes führen und fühlen zu können. Was aber die Sachlage angeht, war Ruth Klüger in Deutschland nicht weniger kanonisiert: Trägerin bedeutender Literaturpreise und des Bundesverdienstkreuzes erster Klasse und ihr Buch weiter leben Unterrichtsstoff an vielen deutschen Schulen. Aus mehreren Gründen taugte sie aber nicht für die beschriebene emotionale, aneignende Kanonisierung, der augenfälligste findet sich in ihrer Biografie. Ruth Klüger war eine Überlebende des Holocaust, noch dazu eine, die verweigerte, emotionalisierende Opfergeschichten zu erzählen. Von ihr konnte und kann man lernen, Gewalt nicht durch Romantisierung zu verlängern. Ihre Art des Schreibens und Sprechens war sachlich, analytisch, präzise. In Artikeln ist sie häufig als »schnoddrig« und auch »burschikos« bezeichnet worden, was, auch da, wo es liebevoll gemeint scheint, Ausdruck von Misogynie ist. Autorinnen wird kulturell tradiert und meist unbewusst unterstellt, emotional zu schreiben; tun sie es offenkundig nicht, entlaufen also der Projektion, lösen sie Unbehagen aus.

Ruth Klügers Autobiografie der Jugendzeit weiter leben [1] von 1992 ist eines der wichtigsten Bücher über die Shoa und das Erzählenmüssen des Nichtbegreifbaren. Es ist ein Buch, das trotz seiner strukturellen Paradoxie so gut funktioniert, dass man es selbst im Angesicht des furchtbaren Gegenstands gern liest, was eine herausragende ästhetische Leistung der Autorin ist. Eben, weil es, ohne dass sich der Eindruck bewussten Belehrtwerdens einstellt, Mitgefühl mit den Opfern des Holocaust auslösen und eine Vorstellung davon vermitteln kann, wieso man für die Vermeidung diskriminierender Gewalt verantwortlich ist, sollte es für immer im Lehrplan jeder deutschen Schule auf der Welt erscheinen. (Dieser Vorschlag würde am heutigen Tag in deutschen Kultusministerien vermutlich plausibler wirken, wenn der Tod der Autorin, als er am 7. Oktober bekannt wurde, in der Tagesschau der Rede wert gewesen wäre.)

Als Literaturwissenschaftlerin hat Ruth Klüger früher als andere Themen behandelt, die aktuell viel diskutiert werden, etwa Frauen lesen anders (1996), Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur (2006) und Was Frauen schreiben (2010). Nicht nur inhaltlich, auch was jargonfreies Schreiben und akademische Karriere angeht, sehen viele Frauen in ihr ein Vorbild. Hier muss aber bei aller verständlichen Identifikationsbegeisterung eine bestimmte Form respektvoller Distanz gewahrt bleiben. Es ist die gleiche Distanz, die man wahren sollte, wenn man sich als weiße cis Frau feministisch auf Audre Lorde bezieht. Um keine kulturelle Aneignung zu betreiben, muss man immer miterzählen, dass Lorde eine Schwarze und lesbische Aktivistin gewesen ist – darauf hat mich Asal Dardan einmal in einem Gespräch aufmerksam gemacht. Daher ist es wesentlich, auch Ruth Klüger nicht, indem man sich durch viele geteilte Interessen und Blickwinkel dazu hinreißen lässt, als »eine von uns« zu vereinnahmen und so das Inkommensurable des Holocaust auszublenden. Ruth Klüger hat sich mit keinem Text und auch nicht mit ihrem persönlichen Auftreten als schwesterliche Identifikationsfigur angeboten.

Man ist eher geneigt, sie mit Vokabular aus der Ästhetik des Erhabenen zu beschreiben. Auf gewohnte Weise konnte man Ruth Klüger nicht nahekommen, weil Kräfte wirkten, die weder sie noch man selbst kontrollieren konnte. Akzeptierte man aber diese Nähe mit existenziellem Abstand, stellte sich unmittelbar ein tiefes Gefühl von Achtung, Ehrfurcht und Respekt für sie und ihr Denken ein. Der erhabenen Wirkung lag dabei keinerlei geniekulthafte Selbsterhebung zugrunde. Außerordentlich war, dass Ruth Klüger Trennendes – grundsätzliche Unvereinbarkeit ebenso wie temporäre Meinungsverschiedenheiten – nicht mit Höflichkeit kaschierte. Wo es kein Wir gab, wurde es spürbar, und wenn sie etwas falsch oder unangemessen fand, sagte sie es. Eine Frau, die sich nicht die ganze Zeit entschuldigt, ist auch heute noch ungewöhnlich. In Kombination mit ihrer distanzierten Ausstrahlung hat dies auf viele Menschen wohl so irritierend gewirkt, dass man ihr das Etikett »schwierig« verpasste.

Ich habe Ruth Klüger 2011 in eben dieser Erwartung kennengelernt, auf eine schwierige Person zu treffen. Das Gegenteil war der Fall. Wir haben per Mail kommunizierend ein E-Book zusammen publiziert, es war mein erstes Projekt als Verlegerin. Die Arbeit lief sehr professionell ab. Zwischendurch hatte ich einmal eine Idee, die ihr nicht gefiel, sie sagte es, ich verstand ihre Gründe, nahm von der Idee Abstand, der Rest war ein Selbstläufer.

Der Text, den wir damals als E-Book veröffentlichten, hieß Anders lesen. Bekenntnisse einer süchtigen E-Book-Leserin und darin stehen Sätze, die meine These stützen, dass »digital native« ein unsinniges Konzept und das Digitale vielmehr eine Haltung ist, die nichts mit biologischem Alter zu tun hat.

»Gelesen und geschrieben wurde aber schon vorher, jahrtausendelang, viel große Literatur und übrigens auch einige heilige Schriften. Dazu brauchte es keine Buchdeckel, sogar Papier war unnötig. Warum soll denn nun die große Tradition der Schriftlichkeit ausgerechnet von der Methode ihrer Konservierung abhängen, die sich erst am Anfang der Neuzeit durchgesetzt hat?«

Von der Agentur, die Ruth Klüger damals vertrat, wurde ich zu einem gemeinsamen Essen mit ihr eingeladen. Ich war so aufgeregt, dass ich im Verlauf des Abends meine Yves-Saint-Laurent-Tasche ins Klo fallen ließ. Trotzdem brachte ich irgendwie den Mut auf, Ruth Klüger an diesem Abend eine sehr niedliche, extrem kitschige Brosche mitzubringen und zu schenken, eine Maus mit einer Lesebrille. Es war so ein Moment, der nur entsetzlich oder großartig werden konnte. Ich hatte Glück, sie war hocherfreut.

Anlässlich der Veröffentlichung des E-Books gab es am nächsten Tag ein Bühnengespräch an der Freien Universität Berlin, bei dem Ruth Klüger einen Satz sagte, der der Buchbranche, würde sie Autorinnen zuhören, viele Buch-vs.-E-Book-Diskussionen hätte ersparen können.

»Es ist sinnlos, diese Revolution zu beklagen, sie findet einfach statt.« [2]

Während auf der Bühne eine um die 80-Jährige und eine um die 40-Jährige ihrer Begeisterung für das digitale Lesen Ausdruck verliehen, runzelte im Publikum eine um die 20-Jährige die Stirn und schwärmte wehmütig von Anstreichungen ihres Großvaters in ihr vererbten Printbüchern. Ruth Klüger und ich warfen uns tiefe Blicke zu, aufrichtig erstaunte, weil man immer wieder vergisst, dass auch junge Menschen konservativ sein können.

Beim anschließenden Essen im Restaurant fragte sie mich die üblichen Sachen, die Frauen im akademischen Rahmen einander fragen. »Kinder?« »Ja.« »Promoviert?« »Irgendwann aufgehört.« Kopfschütteln, nicht über mich, sondern über das System. Ich bat sie, mir die Geschichte mit dem übergekippten Wein zu erzählen. Ein Kollege hatte ihr, wohl weil sie zuvor auf Avancen von ihm nicht eingegangen war, hinter ihrem Rücken Antisemitismus unterstellt, was sie so empörte, dass sie ihm bei einem Universitäts-Event ein Glas Weißwein übergoss. Meine Vermutung, welcher »faule, aber gescheite Kafka-Forscher“ sich hinter S. in unterwegs verloren (2008) [3] – dort wird die Begebenheit wiedergegeben – verbarg, erwies sich als richtig. (Der reale S. war der erste Professor gewesen, von dem ich bei meinem Studienjahr in den USA hörte, dass er bei Sprechstunden die Bürotüre offen stehen lassen musste, 20 Jahre vor #metoo.) Ruth Klügers Rat, einen so dickaufgetragenen Auftritt nur einmal im Leben hinzulegen, habe ich beherzigt, er steht uns allen noch bevor. Zum Abschied sagte sie zu mir, dass ich mich erst wieder mit einem neuen Verlagsangebot bei ihr melden dürfte, wenn ich meine Dissertation abgegeben haben würde. Dies wird nun nicht mehr möglich sein. Eine befreundete Verlegerin erzählte mir, dass sie Ruth Klüger ebenfalls mal ein Projekt angetragen und diese daraufhin zurückgeschrieben hätte: »Nein danke, ich habe schon eine sehr gute E-Book-Verlegerin.«

Ruth Klüger hat erst im Alter von 60 Jahren, als sie Gastprofessorin in Göttingen war, begonnen, in deutscher Sprache zu schreiben und damit auch ihren Namen mit Deutschland zu verbinden. Am 27. Januar 2016, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, wurde den Mitgliedern des Deutschen Bundestags die Ehre zuteil, dass Ruth Klüger eine Rede vor ihnen hielt. Sie entwarf darin ein hoffnungsvolles, einen froh stimmendes Bild von Deutschland, das in den vergangenen Jahren mit dem Wiedererstarken von Nationalismus und rechter Gewalt wieder an Plausibilität verloren hat.

»Dieses Land, das vor achtzig Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war, hat heute den Beifall der Welt gewonnen, dank seiner geöffneten Grenzen und der Großherzigkeit, mit der Sie die Flut von syrischen und anderen Flüchtlingen aufgenommen haben und noch aufnehmen. Ich bin eine von den vielen Außenstehenden, die von Verwunderung zu Bewunderung übergegangen sind.« [4]

Wir sollten uns das Vertrauen von Ruth Klüger verdienen.

Die Autorin, die Literaturwissenschaftlerin, die Person Ruth Klüger hat jede Bewunderung verdient. Menschen, die sagen, dass Diskriminierungsbetroffene keine Wissenschaftler*innen sein könnten, Autobiografisches Literatur zu Boden ziehen würde und Literatur mit Haltung Ideologie wäre – sie alle werden durch sie widerlegt. Ruth Klüger ist am 6. Oktober 2020 in Irvine, Kalifornien gestorben. Ihr Name darf in Deutschland nicht vergessen werden.

 

[1] https://www.dtv.de/buch/ruth-klueger-weiter-leben-11950
[2] https://www.tagesspiegel.de/wissen/digital-versus-gedruckt-fu-studenten-verteidigen-das-gute-alte-buch/5831650.html
[3] https://www.dtv.de/buch/ruth-klueger-unterwegs-verloren-13913
[4] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2016/kw04-gedenkstunde-rede-klueger-40343

Zwischen Bestseller und Special Interest – Carmen Machado im Spannungsfeld queerer Literatur

von Cordula Kehr

 

Im Mai sendete This American Life eine Podcastfolge mit dem Titel Stuck. Die Episode besteht wie immer aus mehreren Geschichten – diesmal von Menschen, die das Gefühl haben, sich in einer ausweglosen Situation zu befinden. Eine dieser Geschichten ist ein Kapitel aus Carmen Maria Machados Memoir In the Dream House (2019). Darin erzählt Machado von dem Gefühl, in einer gewaltvollen Beziehung gefangen zu sein – als interaktives Chose-Your-Own-Adventure, bei dem jede Entscheidung, also jeder Sprung auf die nächste Seite, nur im Kreis herumführt.

Was mich sofort faszinierte: Der Text fordert maximale Involviertheit beim Lesen, denn die Handlung entsteht mit den eigenen Entscheidungen. So wird eine sehr persönliche Geschichte – Machados eigene Erfahrung von häuslicher Gewalt in einer lesbischen Beziehung – zu einer begehbaren Anordnung. Unabhängig davon, ob ich ihre Erfahrung teile, bin ich aufgefordert, mich im klaustrophobischen Setting einer dysfunktionalen Beziehung zu bewegen. Ich bekomme das Gefühl, selbst etwas zu durchleben.

Auf dem Büchertisch bei Karstadt

Einen Text über Homosexualität zu schreiben, heißt ein Risiko einzugehen, schreibt Monique Wittig 1982 in ihrem Essay The Point of View: Universal or Particular?. Sie beobachtet darin ein problematisches Rezeptionsphänomen: Texte von homosexuellen Autor*innen, in denen Homosexualität eine Rolle spielt, werden häufig nur von Homosexuellen gelesen, weil die Perspektive der Autor*innen nicht als allgemeingültig verstanden und anerkannt wird.

“Writing a text which has homosexuality among its themes is a gamble. It is taking the risk that at every turn the formal element which is the theme will overdetermine the meaning, monopolize the whole meaning, against the intention of the author who wants above all to create a literary work. […] When this happens, the text […] is subjected to disregard, in the sense of ceasing to be regarded in relation to equivalent texts. […] It is interesting only to homosexuals.”[1]

Seit den 1980er Jahren ist das Angebot an queeren Figuren in der Literatur (und vor allem auch im Film) stark gewachsen. Queere Autor*innen haben bessere Zugänge zu großen Verlagen und auch die Themen, die sie verhandeln (können), sind vielfältiger geworden. Als Didier Eribons Rückkehr nach Reims 2016 auf Deutsch erschien, wurde es im Feuilleton vor allem als politische Analyse des europäischen (und US-amerikanischen) Rechtsrucks besprochen.[2] Édouard Louis‘ Im Herzen der Gewalt wird als „persönliche wie gesellschaftlich durchdringende Analyse über das Erwachsenwerden, Begehren, Migration und Rassismus“ beworben und Ocean Vuongs Auf Erden sind wir kurz grandios als Erzählung über das „migrantische, arme Amerika“. Diese Bücher sind Bestseller. Sie haben es auf den Büchertisch bei Karstadt geschafft. Sie sind auch Texte schwuler Autoren, in deren Zentrum autobiografische Erfahrungen stehen. Anders als Wittig attestiert, führt Homosexualität als Thema inzwischen seltener dazu, dass das Buch eines homosexuellen Autors seinen universalen Anspruch verliert.[3]

Aber gilt das auch im gleichen Maße für das Buch einer queeren Autorin, die sich selbst als „racially ambiguous fat woman“ beschreibt und die mit In the Dream House einen Text geschrieben hat, der explizit häusliche Gewalt in einer lesbischen Beziehung thematisiert? Bisher hat In the Dream House es weder auf den englischsprachigen Büchertisch bei Karstadt geschafft, noch auf den bei Eisenherz (Buchhandlung mit einem der größten Sortimente an schwuler und auch queerer Literatur in Berlin). Susanne Krones, Programmleiterin beim Penguin Verlag, erklärte unlängst im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur, dass Verlagsmitarbeiterinnen sich bei Titeln von Autorinnen zu so genannten Frauenthemen häufig fragten, ob sie diese verlegen sollten, weil ihnen die Themen so spezifisch erschienen. Simoné Goldschmidt-Lechner bemerkte in diesem Magazin, dass es für marginalisierte Autor*innen (insbesondere für Frauen of Colour) im Literaturbetrieb ein Kontingent zu geben scheine. Obwohl die Diversität im Literaturbetrieb insgesamt zunehme, finde die Vielfalt innerhalb marginalisierter Communities noch nicht genügend Raum.

In the Dream House bewegt sich in diesem Spannungsfeld queerer Literatur. Einerseits spielt Machado mit queeren Genres und setzt queere und lesbische Erfahrung ins Zentrum ihres Textes. Andererseits stellt ihr Memoir die Hierarchisierung von universaler und spezifischer Perspektive in Frage und zielt – ähnlich wie Édouard Louis in Im Herzen der Gewalt – darauf, aus ihrer spezifischen Perspektive gesellschaftliche Mechanismen von Gewalt aufzudecken.

Dream House als queere Stilübungen

Ein gutes Beispiel für lineares Erzählen ist David Lynchs The Straight Story. Ein Mann fährt auf seinem Rasenmäher immer geradeaus, seinem Tod entgegen. Im Gegensatz dazu lässt sich Machados Erzählweise in In the Dream House queer nennen. In 104 Kapiteln erzählt sie Facetten ihrer Beziehung zu der Frau im Dream House, Facetten der emotionalen Manipulation und psychischen Gewalt, die sie in dieser Beziehung erlebt hat. Dabei folgt jedes Kapitel einem eigenen Genre oder einer Stilfigur, schafft eine eigene Atmosphäre oder greift einen Topos romantischer Beziehungen und (lesbischer) Popkultur auf: „Dream House as Bildungsroman“, „Dream House as Sci-Fi Thriller“, „Dream House as Romance Novel“, „Dream House as Haunted Mansion“, „Dream House as Meet the Parents“, „Dream House as Lesbian Cult Classic“, „Dream House as Mrs. Dalloway“, um nur einige davon zu nennen. Anders als Raymond Queneau, der in seinen Exercices de style insgesamt 99 Mal die selbe Begebenheit variiert, sind bei Machado die einzelnen Kapitel immer weitere Bruchstücke einer Geschichte. Diese stilistische Vielfalt lässt sich queer nennen, weil sie sich nicht auf eine Form festlegen lässt, sondern lustvoll Genres wechselt und aus einem nahezu unbegrenzten Repertoire queerer Anspielungen und Codes schöpft.

Die Virtuosität dieses Spiels bewirkt ein intellektuelles Lesevergnügen, das neben den erzählten Gewalterfahrungen steht und diese kontrastiert. Das gilt auch für die Kommentarebene, die Machado nach einigen Kapiteln einzieht. In Fußnoten beginnt sie, auf Motive aus Märchen, Mythen und Fabeln zu verweisen. So werden unscheinbare Alltagsmomente doppelbödig, da sie auf Tabus dieser Genres anspielen: nicht sprechen dürfen, einen bestimmten Raum nicht betreten dürfen, nicht zurückblicken dürfen etc. Gleichzeitig wird durch das Zitat der Volksliteratur eine Kultur ins Licht gerückt, die permanent und wie selbstverständlich Gewalt gegen Frauen erzählt. Von Blaubart bis Carmen – Machado kontextualisiert ihre persönliche Erfahrung von psychischem Missbrauch in dieser Kulturgeschichte.  

„And haven’t men been gaslighting women, abusing their lovers, harassing their girlfriends, murdering their wives for as long as human history has existed? And isn’t their violence always a footnote, an acceptable causality? David Foster Wallace threw a coffee table at Mary Karr and pushed her out of a moving car, but no one ever really talks about it. […] In Mexico, William Burroughs shot Joan Vollmer in the head; her death, he said later, made him into a writer.”

Dabei dreht Machado das Verhältnis von Fußnote und Haupttext um. Ihre Perspektive, ihre Erfahrung als queere Frau of Colour, steht im Zentrum. Die Volksliteratur, die die Selbstverständlichkeit von Gewalt gegen Frauen tradiert, wird zur kontextualisierenden Erläuterung.

„the last thing queer women need is bad fucking PR“

Die Gewalt gegen Frauen, die Machado in der Kulturgeschichte findet, geht fast ausschließlich von Männern aus. Das entspricht der Statistik. Gewalt in lesbischen Beziehungen ist darüber hinaus aber auch schlecht dokumentiert. Keine große Überraschung. Das Archiv ist ein exklusiver Club und queere Geschichtsschreibung insgesamt lückenhaft. Doch Machado zeigt an einigen gut recherchierten Beispielen, dass Medien und Gerichte lange Zeit Gewalt in lesbischen Beziehungen nicht erfassen konnten oder wollten. „Was she a scorned lover or a madwoman? But to be a scorned lover, she’d have to be – they’d have to be – ?”

In Literatur und Film gibt es genug böse queere oder queer codierte Figuren. So viele, dass Machado mit „Dream House as Queer Villainy“ dem Topos des queeren Verbrechers ein eigenes Kapitel widmet. Lesbische Figuren neigen als „villain“ dazu, eine wahnhafte, bisweilen sogar mörderische Obsession zu Frauen zu entwickeln, die sie zurückweisen. Und es gilt: Je stärker die lesbischen Frauen von einer normativen Weiblichkeit abweichen, desto gefährlicher sind sie. Oder anders gesagt: Je böser, desto butch.

Für queere Autor*innen liegt der Wunsch nahe, dieser stereotypen Überzeichnung etwas entgegenzusetzen. Queere Menschen, betont Machado, brauchen gute PR, um für Gleichberechtigung zu kämpfen und die Rechte zu verteidigen, die bereits erstritten wurden. Denn die Repräsentation queerer Figuren in Literatur und Film, die Erfolge und Fehltritte bekannter queerer Persönlichkeiten wirken sich darauf aus, wie queere Menschen von ihren Mitmenschen gesehen werden, ob sie als gleichberechtigt anerkannt werden oder nicht. „But that’s the minority anxiety, right? That if you‘re not careful, someone will see you – or people who share your identity – doing something human and use it against you.”

Wenn Machado in ihrem Memoir davon erzählt, dass ihre lustvolle und sexpositive Beziehung zu der Frau im Dream House auch gewaltvoll ist und immer gewaltvoller wird, riskiert sie, dass ihre Geschichte weder als individuelle Erfahrung, noch als Teil einer allgemein menschlichen Erfahrungswelt, sondern als prototypisch für lesbische Beziehungen (miss)verstanden wird. Queere Sexualität ist aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft immer deviant und deswegen schnell verdächtig. Solange das Bild von queerer Sexualität, das im Mainstream dominiert, eindimensional ist, können Nuancen individueller Erfahrungen nur schwer sichtbar gemacht werden. Weil es den Topos der „obsessiven Lesbe“ gibt, fühlt sich das Erzählen über die Frau im Dream House teilweise wie „bad fucking PR“ an. Indem Machado diesen Zusammenhang reflektiert und offenlegt, zeichnet sie ein differenziertes Bild queerer Sexualität und queerer Beziehungen, das auch die lesbische Community nicht schont, die häusliche Gewalt gerne als patriarchal externalisiert.[4]

Die Verleihung des Nobelpreises für Literatur wird häufig damit begründet, dass der Autor (seltener auch die Autorin) in seinem Werk eine universal menschliche Erfahrung beschreibt: „die Spezifizität menschlicher Erfahrung“ (Handke, 2019), „sein Werk von universaler Güte“ (Gao Xingjian, 2000), „eine herausfordernde Vision menschlichen Ausgesetztseins“ (Camilo José Cela, 1989), „das Drama des menschlichen Seins“ (Wole Soyinka, 1986), „Schilderung menschlicher Grundbedingungen“ (Claude Simon, 1985) usw. Doris Lessing hingegen ist die „Epikerin weiblicher Erfahrung“.

Machado gelingt es mit In the Dream House das Spannungsfeld zwischen spezifischer Erfahrung und universalem Anspruch zu navigieren: Sie „übersetzt“ das Queere oder Lesbische ihrer Erfahrung nicht, verzichtet nicht auf Nuancen, macht es nicht „verdaulich“, aber nachvollziehbar. Ihr Buch bietet eine differenzierte gesellschaftliche Analyse von häuslicher Gewalt – aus ihrer Perspektive. Ich würde mir wünschen, In the Dream House bald auf dem Büchertisch bei Karstadt zu entdecken.

 

 

[1] Monique Wittig: The Point of View: Universal or Particular? In: The Straight Mind and Other Essays. Boston: Beacon Press 1992, S. 62f. Der Essay ist bereits 1982 auf Französisch als „Avant-note“ zu La Passion von Djuna Barnes erschienen. Die Übersetzung stammt von Wittig selbst.

[2] „Hören Sie, ich weiß nicht, was ihr alle wollt. Ich habe ein Buch über meine Mutter geschrieben und jetzt soll ich Brexit, Trump und die Welt erklären“, äußerte sich Eribon diesbezüglich im Interview mit der Süddeutschen Zeitung.

[3] Es mag helfen, dass Eribon und Louis diesen Anspruch durch Referenzen auf soziologische Fachtexte direkt selbst formulieren.

[4] Machado schreibt: „But some lesbians tried to restrict the definition of abuse to men’s actions. Butches might abuse their femmes, but only because of their adopted masculinity. Abusers were using ‘male privilege’.”

 

 

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Kunstautonomie als rechtes Ideal – Von Neo Rauch bis Uwe Tellkamp

von Peter Hintz

 

Wie mit einem ekelerregenden, persönlichen Angriff auf die eigene publizistische Arbeit umgehen? Der neue, gerade bei Wagenbach erschienene Essay Feindbild werden des Kulturwissenschaftlers Wolfgang Ullrich ist nicht nur Resümee seines Konflikts mit dem weltberühmten Leipziger Maler Neo Rauch, sondern zeigt, wie Ullrich im Modus der kunsttheoretischen Analyse wieder Distanz zu Rauch herstellen will. Rauch hatte letztes Jahr ein großformatiges Schmähporträt von Ullrich gemalt, das den ebenfalls in Leipzig lebenden Kritiker als sogenannten “Anbräuner” karikierte, der aus seinen Fäkalien Nazi-Vorwürfe auf eine Leinwand malt. Daraufhin wurde Ullrich zum Ziel rechter Blogs gemacht, die ihn nun mit einem digitalen Shitstorm überzogen, und zum Hohn versteigerte Rauch schließlich sein Gemälde auf einer großen Charityauktion.

Anhand öffentlicher Äußerungen (unter anderem von Rauch) hatte Ullrich zuvor in einem ZEIT-Beitrag gezeigt, wie einige Gegenwartskünstler einerseits rechte politische Positionen beziehen, andererseits aber die Werkautonomie für sich reklamieren – als Schutzschild gegen politische Verantwortung. So hatte Rauch, wie der Maler Axel Krause oder der Schriftsteller Uwe Tellkamp, in Interviews die BRD mit der DDR gleichgesetzt. Nach diesem Geschichtsbild könne man auch jetzt nicht alles – sprich heute in der Regel: Sexistisches, Rassistisches – sagen, ohne als Faschist deklariert und ausgegrenzt zu werden. Folgt man Ullrich, bilden die Werke von Rauch und Krause Landschaften ab, die zwar als antimoderne Imaginationen gedeutet werden können, aber gerade in ihrem Mangel an unverrätseltem Gegenwartsbezug sozial und politisch unabhängig verstanden sein wollen. Ullrich stellte in seinem Essay die These auf, dass vor allem die Idee künstlerischer Autonomie heute zu antiemanzipatorischen Zwecken ausgelegt werde, was ihre ursprüngliche, von linken Künstlern aber aufgegebene Intention – die Befreiung von repressiven Normen – verkehre. Die Kunstautonomie scheine heute also vor allem ein Interesse der Rechten zu sein.

Mit seinem Schmähporträt lieferte Rauch zumindest teilweise einen Gegenbeleg zu Ullrichs These: Dieses Bild macht offen Politik, verunglimpft einen ungeliebten Kritiker und eine vermeintlich insgesamt linksliberale intellektuelle Szene, indem es ihr auf drastische Weise eigenes Talent und Urteilsfähigkeit abspricht. Damit einher geht aber auch die Forderung an diese Kritiker, nicht mehr nach außerästhetischen Maßstäben zu urteilen, was durchaus Ullrichs These entspricht, dass die herrische Forderung nach Autonomie zu einer rechten Strategie geworden ist. Natürlich ist entgegen der rechtspopulistischen Unterstellung das Urteilen nach ‘klassischen’ ästhetischen Maßstäben in der Kritik nie verschwunden. Kolja Reichert etwa wies in einem kritischen FAZ-Kommentar zum Werk von Axel Krause unter anderem darauf hin, dass Krause malerisch “vulgär” und “ungeschickt” sei. Zuvor hatte Ullrich einmal die immer wiederkehrenden, pseudo-bedeutungsvollen Collagen Rauchs kritisiert, eine ähnliche Stilkritik, die Reichert auch Krause gemacht hat. Und Ullrich war in seinem ZEIT-Artikel vorsichtig bemüht gewesen, Rauchs Bildwelten nicht pauschal dem Rechtsradikalismus zuzuschlagen.

Schon durch seine unmittelbare Reaktion auf die Veröffentlichung des Bildes im Juni 2019 wird deutlich, wie sehr Ullrich sich persönliche Distanz zu Rauch wünschte: Wie aus einem damaligen Interview mit dem Deutschlandfunk und nun auch aus seinem Buch hervorgeht, interpretierte er die Figur des “Anbräuners” zunächst gar nicht als Abbildung von sich selbst, sondern als Symbol für einen unter Konformitätsdruck stehenden Gegenwartskünstler. Erst mit der Zeit wurde Ullrich klar, dass tatsächlich er selbst dort verächtlich gemacht werden sollte.

Auf einer neuen distanzierenden, analytischen Ebene verknüpft Ullrich in Feindbild werden seine These vom sich nach rechts verschobenen Autonomiegedanken mit der kultursoziologischen Annahme, dass sich daran auch die deutsche Ost-West-Spaltung ablesen lasse. So seien die heutigen Verteidiger der Werkautonomie in der DDR sozialisierte Künstler, die nach der Wende keinen Anschluss an den westdeutschen Kunstbetrieb gefunden hätten. So sei insbesondere Ullrich, der nicht aus der DDR stammt und erst vor einigen Jahren nach Leipzig gezogen ist, für Rauch zum Symbol westdeutschen Ressentiments gegen ostdeutsche Künstler geworden. Möglicherweise schenkt Ullrich hier der beliebten argumentativen Verknüpfungen von berechtigten Gefühlen des ostdeutschen Abgehängtseins als Ausgangspunkt einer reaktionären politischen Positionierungen zu viel Glauben. Und auch wenn zweifellos der Autonomiegedanke von rechts politisch aufgeladen wurde, ist doch fraglich, inwiefern das ein spezifisch ostdeutsches Phänomen ist. Im Bereich der Literatur ist der Rekurs auf die Werkunabhängigkeit eine Argumentationsfigur, die bei prominenten Autoren aus dem ganzen deutschsprachigen Raum – von Peter Handke bis Uwe Tellkamp – immer beliebter wird, um eine Schutzzone vor politischer und ethischer Wertung aufzubauen. Der rechte Diskurs, an den auch Rauch in seinen Interviews anknüpft, speist sich mindestens zu gleichen Teilen aus ost- und westdeutschen Akteuren, die gern den Osten als Projektionsfläche für gemeinsame, antimoderne Fantasien nutzen.

In der künstlerischen Umsetzung dieser Ostdeutschland-Fantasien spielen aus der DDR stammende Schriftsteller und Maler aber sicherlich bisher die größere Rolle. Uwe Tellkamps vor einigen Monaten erschienene Schlüsselerzählung Das Atelier fiktionalisiert die gegenwärtige reaktionäre Künstlerszene um Rauch. Deren Ateliers erscheinen darin wie eine Mischung aus Bibliothek und Küchentisch, an dem mit Hilfe von Geschichte und Ästhetizismus die sächsische – oder genauer: Dresdner – Identität konstruiert wird. Romantik, Expressionismus, Realismus usw. werden in exkursartigen Monologen von den Figuren vor allem dahingehend vorgestellt, welcher Künstler wann mal was im Elbtal gemalt hat und wie das zur regionalen Eigenart beitrage. Diese steht dabei nicht nur in Differenz, sondern in Dissidenz zur Außenwelt, was die Erzählung bei allem kunstreligiösen Pathos deutlich politisch auflädt. So wird zum Schluss selbst das romantische Vesuvmotiv als “Dresdner Vulkan” gedeutet, weil es diesmal “im Jahr Fünfzehn” in Dresden weltbewegend “gerumst” habe, ein offenkundiger Verweis auf das Entstehen der rassistischen PEGIDA-Bewegung. Interessanterweise vergleicht Ullrich die Ablehnung, die Tellkamp seit seiner zunehmend offen rechtsradikalen Positionierung im Literaturbetrieb erfahren hat, mit der ungebrochenen Popularität Rauchs auf dem internationalen Kunstmarkt. Finanziell hat Neo Rauch ungemein von Liberalisierung und Globalisierung seit der Wende profitiert. Es ist auch dieser schnöde Geldwert von Kunst, der zum Ursprung von Behauptungen künstlerischer Unabhängigkeit gehört.

 

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Podcast-Kolumne: “Call Your Girlfriend”

von Svenja Reiner

 

Als ich in die 5. Klasse kam, waren meine Eltern sehr besorgt und drohten mir, alle meine Bücher zu verstecken, sollte ich nicht wenigstens zwei oder drei Nachmittage in der Woche mit Gleichaltrigen verbringen. Mir ist sehr wohl bewusst, dass diese Anekdote nach einer halbgaren Young Adult-Erzählung klingt, für die mein Vorname zu sperrig ist, und ich bin nicht einmal sicher, ob die angedrohte Maßnahme jemals umgesetzt wurde. Aber ich erinnere mich an eine zweite große Pause, in der ich verzweifelt versuchte, irgendein Mädchen aus meiner Klasse zu überreden, mich nach Schulschluss zu treffen.

Irgendwann habe ich soziale Konventionen gelernt und bis heute sind mir Freund*innenschaften wertvoller als Gold. Bekannte sammelt man in Großstädten in der Toilettenschlange oder auf schlecht gematchten Tinderdates, Affären findet man durch glücklichere Swipes. Aber richtige Freund*innen sind selten und schwer zu bekommen. Selbst wenn es vermutlich bei wenigen Menschen zu ähnlichen Szenarien kam wie auf meinem Schulhof, ist das Finden und Pflegen von Freund*innenschaften eine ganze eigene Herausforderung, über die in unserer Gesellschaft wenig gesprochen und noch weniger gewusst wird. Aminatou Sow und Ann Friedman sind Freundinnen und die Hosts von Call Your Girlfrienda podcast for long-distance besties everywhere – und haben mich in den vergangenen Jahren einiges über  Geld, Queerness in Rural America, Sex Ed, Hautpflege, Scamming, Gossip, Steuern, US-Politik und Shine Theory gelehrt. Als halbwegs anglophiler Mensch mit Twitteraccount hatte ich immer den Eindruck, wenigstens eine ansatzweise fundierte Meinung zu diesen Themen zu haben. Nach den ersten Sätzen jeder Folge erinnerte ich mich regelmäßig daran, dass es schon einen Grund gibt, warum mir nie jemand ein Mikrofon unter die Nase hält. 

Aminatou und Ann treffen in ihren Gesprächen den sweet spot zwischen Millenial’scher Lässigkeit, informiertem Journalismus, intersektionalem Feminismus und tongue-in-cheek teasing. Die beiden wichtigsten Wörter des Podcasts sind Ugh und Structural. Nebenbei führen sie eloquente Gespräche mit Zadie Smith, Jessica Hopper, Gloria SteinemTracy K. Smith, Rebecca Traister und Hillary Clinton, als wäre sie ebenfalls langjährig befreundet. Über ihre eigene Beziehung haben Ann und Aminatou dieses Jahr ihr Buch Big Friendship: How We Keep Each Other Close (2020, Simon & Schuster) geschrieben. In den neun Folgen, die die beiden parallel als quasi digitale Lesereise im Summer of Friendship veröffentlichten, zeigt sich, wie ernsthaft sie ihre Beziehung betrachten.

Das Buch ist kein nostalgisches Memoir großartiger Momente, es geht den beiden um die Untersuchung einer besonderen Verbindung.  Der Umstand, dass Aminatou in Guinea geboren wurde, in Nigeria, Belgien und Frankreich aufwuchs, und Schwarz ist, und dass Ann weiß ist und aus Iowa  kommt, verleiht dieser Freundschaft politische Dimensionen. Race spielt im Miteinander der beiden daher ebenso eine Rolle wie die Entwicklung von Sameness oder Complementary Schismogenesis, die Herausforderung, eine long distance Freund*innenschaft 10 Jahre oder länger zu führen. Die beiden analysieren, wie schwierig es für sie war, Konflikte zu erkennen und anzusprechen – denn sind Big Friendships nicht diejenigen, in denen man sich ohne Worte versteht? Und sie reden offen darüber, wie sie schließlich eine Therapie machten um sich nicht zu verlieren. 

Es wäre zu kurz gegriffen, Aminatou Sow und Ann Friedman nur als Couple zu betrachten – Sow ist Geschäftsfrau, Digital Strategist und erfolgreiche Mitgründerin von Tech LadyMafia, Friedman ist Journalistin und schreibt sehr lesenswerte Features, Essays, Profiles und Interviews. Aber ihre Verbindung ist etwas Besonderes und hat schon vielen Belastungen standgehalten. Den Wegzug von Ann an die Westküste etwa, der der Beginn des Podcasts war, oder Aminatous Krebserkrankung, in deren Folge Ann eine landesweite Blutspendenaktion organisierte (#Bleedin4Amina). Wenn Corona vielleicht dazu geführt hat, dass viele unserer Freund*innenschaften sich ein bisschen long distance anfühlen oder es tatsächlich geworden sind, ist Call Your Girlfriend ein Vorbild dafür, wie man diese besonderen Beziehungen pflegen und wertschätzen kann. Wem durch Sorgearbeit oder Mehrbelastung die Zeit fehlt, kann zumindest den beiden lauschen oder ihren Newsletter The Bleed lesen. See You On The Internet.

 

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[Atelier NRW] Nabelschau

Im vergangenen Oktober trafen sich sechs Autorinnen und Autoren aus Nordrhein-Westfalen im Gräflichen Park Bad Driburg zu dem dreitägigen Symposium Atelier NRW. Aus den Vorträgen und geführten Gesprächen sind Essays entstanden, die einmal im Monat auf 54books veröffentlicht werden.

Einleitung von Dorian Steinhoff
Über das Leben der Ideen im Verborgenen von Sabrina Janesch

 

 

Von Yannic Han Biao Federer

Ich dachte, ich würde es mögen, einmal poetologisch zu schreiben, einmal poetologisch nachzudenken, einmal systematisch eine Position herauszuarbeiten, die ich einnehmen möchte, die ich vertreten möchte, für die ich stehen möchte, und wie immer, wenn ich mir vorstelle, was ich geschrieben haben werde und wie ich es geschrieben haben werde, wirkt es ganz einfach und logisch und zwingend, ich freue mich sogar, mich hinzusetzen, Kaffee, Blick aus dem Fenster, blinkender Cursor, einatmen, ausatmen, und schon verdichten sich die Buchstaben zu Sätzen zu Absätzen zu Seiten zu Argumenten und es ist ganz wunderbar, aber das Futur Zwei ist die unliterarischste Tempusform, die es gibt, es überspringt alle Verlaufsform, setzt vor vollendete Tatsachen, die aber noch gar nicht vollendet sind, die es also nicht gibt, das Futur Zwei lügt. Die Wahrheit ist immer der nächste Satz und nichts als der nächste Satz, die Wahrheit ist immer, ob sich die Sprache fügt und mir erlaubt, zu erzählen, was ich erzählen will, oder ob sie es nicht tut. Obwohl, nein, so ist es nicht, es ist vielmehr so: Die Wahrheit ist immer, was die Sprache mir aufzwingt zu erzählen. Obwohl, nein, so ist es auch nicht, es ist vielmehr so: Die Wahrheit ist immer, was ich zu schreiben versuche und was die Sprache dann mit mir anstellt, dass ich am Ende das Gefühl habe, das, was ich geschrieben habe, von Anfang an zu schreiben vorgehabt zu haben.

Das Geschriebenhabenwerden ist eine Schablone und nicht die erste und nicht die einzige, wir sind umgeben von Schablonen und wir brauchen sie auch, sonst stünden wir an der Dönerbude und hinter uns eine anschwellende Masse an Wartenden, die uns irgendwann beiseite schöbe, weil wir noch immer nicht artikuliert bekämen, was das ist, eine Salattasche mit extra Soße. Schablonen sind völlig in Ordnung.

Schablonen braucht es auch, wenn wir über Texte sprechen, wir sagen, dies ist ein Eifel-Krimi und jenes eine Fouché-Biographie, dies ist ein historischer Roman und jenes Antikriegsliteratur, dies ist ein Coming-of-age-Roman und jenes ein postmodernistisches Spiel mit Fiktionsebenen. Und die Schubladisierung erschöpft sich nicht in diesen Genrekonventionen, wir müssen dem Text auch immer eine Intention mit auf den Weg geben, wir müssen sagen, es geht um, als hätte sich da jemand hingesetzt und gesagt, Migration, darüber sollte man mal schreiben, oder, Klimawandel, das ist doch mal ein Thema, oder, die besorgten Bürger, über die sollte man was machen, als wäre das Esgehtum nicht immer eine retrospektive Selbstinterpretation, als wäre Schreiben nicht ein störrischer Hund, der sich wie tot auf den Boden wirft, wenn man ihn zu streng führt, er läuft nur brav durch den Park, wenn man ihm Leine lässt und erst hinterher guckt, wie man wieder nach Hause kommt.

Und schon die erste Falle am Poetologischen, ich hypostasiere das, was ich von mir selbst annehme, als das, was allgemein der Fall ist, stülpe anderen mein Unvermögen über, vielleicht gibt es sie ja zu Hauf, die von Anfang an wissen, was sie schreiben, und es dann auch tun, die Grenze meines Vorstellungsvermögens ist ja nicht die Grenze der Welt, nur die der meinen.

Aber es ist kein Ästhetizismus, dem Hund durch den Park zu folgen, es ist kein weltbefreites Schwelgen im rhetorisch Möglichen, es ist kein Sichsuhlen im schön schwingenden Sprachmaterial, es ist etwas anderes, weil die Scheiße, die der Hund wittert, die Pisse, die der Hund aus all dem bunten Laub herausschnüffelt, die Verwesungsdämpfe, die der Hund immer deutlicher in seiner empfindsamen Nase spürt, nichts davon hätte man geahnt, nichts davon gefunden, ohne ihn, der Hund ist auf Fährten unterwegs, die da sind, die wir aber auf den vorgefertigten Pfaden der Landschaftsgärtnerei beständig umgehen und zwar weiträumig.

Nota bene, es geht nicht um Tabubrecherei, die elenden Tabubrecher haben keine Ahnung, was Tabu bedeutet, sie wissen nicht, woher der Begriff kommt und was er eigentlich soll, bitte nachlesen, Triebregulation als Grundvoraussetzung von Kultur, bitte nachblättern, bevor noch einer mit der alten Tabubrechernummer kommt.

Wenn das Erzählen sich von Silbe zu Silbe, von Wort zu Wort, von Satz zu Satz, von Absatz zu Absatz, von Seite zu Seite in den Text hineinwagt, passiert etwas, das die alltägliche Schnellsprecherei nicht leisten kann. Während sich das Schnellsprechen zur Komplexitätsreduktion auf Vorselegiertes, auf Verhärtetes, auf Strukturen verlassen muss, auf Abstraktionen also, kann das Erzählen das Einzelne und Genaue und Konkrete ins Licht rücken. Und es kann dabei von Selektionsmoment zu Selektionsmoment neu und frei sein, es kann dabei prüfen, wie plausibel und glaubhaft jede einzelne Selektion verläuft und verlaufen soll, es kann sich also vortasten in eine imaginierte Wirklichkeit, die aber ein bestimmtes Verhältnis zur wirklichen Wirklichkeit behält, und es kann auf diese Weise etwas beschreiben, das sonst nicht beschrieben werden könnte, es kann die Wahrnehmung entautomatisieren, wenn ich diesen alten Hut einmal bemühen darf, und es hat die Möglichkeit, die vielleicht nicht zwingende Notwendigkeit, aber doch die mögliche Möglichkeit, die Schablonen zu zertrümmern.

Und dann eben doch das Problem des Themas, denn wenn der Hund einmal eifrig unterwegs gewesen ist und wir stolpernd, schwitzend hinterdrein, wenn wir dann, schlammstrotzend und nach Exkrementen stinkend, zurück sind, auf der Matte stehen, der Hund glücklich hechelnd, ist die erste Frage immer: Um was geht’s, um was geht‘s in deinem Text?

Um was geht’s, das ist die Minimalformel des Thematismus und der Thematismus ist ein Alchemist, er erntet ausufernde Erzählungen, die reich sind an Welt und Phantasie und Glaubeliebehoffnung, er pflückt und sammelt alles, was die Menschheit schreibend zustande bringen kann, er köchelt es, er destilliert es, es blubbert und faucht, und am Ende, ein edles Elixier, das spricht: Es geht um Vergänglichkeit. Oder. Es geht um die Wende. Oder. Es geht um Glenn Gould.

Das heißt, der Text, der sich mühsam aus den Schablonen herausgewunden hat, bedarf anschließend doch wieder einer Schablone, er muss reschablonisiert werden, denn er muss ja zurück in die Schablonenhaftigkeit der Welt, ein dauerndes Exil davon gibt es nur auf einsamen Bergen, auf denen Einsiedlerinnen und Einsiedler sich meditierend in verlassene Höhlen zurückgezogen haben, abseits davon nichts als Schablonen, es ist halt so, es ist halt so, es geht nicht anders, es muss so sein.

Wenn dem aber so ist, dann ist eines von zentraler Bedeutung, nämlich die Reihenfolge und die Essentialität der Umleitung, es kann nicht sein, es darf nicht sein, dass die Reschablonisierung des Entschablonisierten zur Totalschablone verkürzt wird, es kann nicht angehen, dass man den Umweg, der Literatur heißt, verkürzt auf eine erzählerische Aufpolsterung jener Schablonen, die später auf der Klappe stehen sollen, es ist fatal, den Themen zu folgen, also dem, was relevant ist, denn Relevanz ist irrelevant.

(Also. Für mich.)

Die Relevanz, die sie meinen, ist die gesellschaftliche Relevanz, und die gesellschaftliche Relevanz, die sie meinen, ist die, die im Politikteil steht und im Wirtschaftsteil und im Wissensteil und im Feuilleton und vielleicht noch im Magazin zum Wochenende. Die Gesellschaft, die sie meinen, ist also in Wirklichkeit nicht die Gesellschaft, sondern der enge, wabernde Raum zwischen den Systemen der Gesellschaft, aus deren membranartiger Oberfläche immer nur so viel dringt, wie in der allerallgemeinsten Sphäre verdaulich ist, es sind nichts als Abbauprodukte eigenlogischer Operationsweisen, die innerhalb der Systeme ganz anderes bedeutet haben mögen oder nichts bedeutet haben mögen oder nicht mehr oder längst wieder, aber, und darauf kommt es an: Die Gesellschaft, die sie meinen, ist nicht die Gesellschaft, sondern nur die Zeitung neben ihrer Müslischale, die tagsdarauf schon welk in der Papiertonne liegt.

Literatur schreiben zu wollen, die gesellschaftlich relevant ist, heißt also zweierlei, nämlich einerseits den Umweg der Reschablonisierung des Entschablonisierten einzubetonieren zu Gunsten einer Schablonenautobahn, und andererseits die Gesellschaft mit ihrer publizistischen Oberfläche zu verwechseln. Die Gesellschaft, wenn man sie wirklich meinen möchte, kann dem Nomen Relevanz weder adjektivisch noch sonstwie attribuiert werden, denn die Gesellschaft ist alles, die Gesellschaft meint alles, die Gesellschaft hat kein Außen. Relevanz dagegen bedürfte eines Teilbereichs, der sich vom Irrelevanten unterscheiden müsste, und diese Unterscheidung ist eine, die jedes gesellschaftliche Subsystem jeweils für sich operationalisieren muss, die Gesellschaft als Ganze kann davon nichts wissen, wie die Petrischale nichts davon wissen kann, was die Bakterien, die sich auf ihr mehren, am liebsten fressen.

Es gibt einen bewährten Ausgangspunkt für ein Erzählen, das sich den Schablonen entziehen kann, das sich abseits aller Relevanzzwänge bewegt, das sich frei macht, frei selegiert, von Beobachtung zu Beobachtung zu Beobachtung, von Silbe zu Silbe zu Silbe, Satz zu Satz zu Satz, und so fort, und das dabei den eigenen Blick miterzählt, gewissermaßen einen Rückspiegel mitführt, der die jeweilige Linsenkrümmung des Beobachtenden beim Beobachten mitbeobachtet, also die Relativität des eigenen Schauens und Sagens transparent macht, es ist ein Erzählen, das oft autofiktional genannt wird, obwohl das eine trügerische Schablone ist, denn im Kern besitzt jedes Erzählen, das sich der Schablonenhaftigkeit der Welt für eine Zeit zu entziehen vermag, einen autofiktionalen Glutkern, eine eigene Beobachtung, einen eigenen Weltzugang, denn sonst blieben ja nichts als Schablonen. Autofiktionalität ist also etwas, das ein entschablonisiertes Erzählen offen ausstellen kann oder nicht ausstellen kann, das aber an und für sich immer sein mehr oder weniger verhüllter Motor ist, denn Fiktion ist ja immer die Fiktion von Fiktion, alles ist von irgendwoher genommen worden und somit Verwertung, Wertschöpfung, Ökonomie.

Das offen autofiktionale Erzählen ist aber auch ein Erzählen, das in seiner Reschablonisierungsbewegung regelmäßig mit dem Vorwurf konfrontiert wird, nichts als ein Kreisen um den eigenen Bauchnabel zu sein, vor allem dann, wenn das aus der Ferne attestierte Milieu des Bauchnabelinhabers oder der Bauchnabelinhaberin keines ist, das gerade in die Mühlen der Relevanzschablonen geraten ist. Die aber, die in die Mühlen geraten sind, das möchte ich betonen, sind sicher nicht zu beneiden, denn es mag der Publicity dienlich sein, den Aufmachern und Lead-Sätzen, doch über dem Relevanzgeheul geht immer eines unter, nämlich die literarische Qualität ihres Textes, der fortan nur noch mit den Totschlagformeln der Titelseiten traktiert wird, statt dem unter Umständen minutiös Beobachteten zu folgen, dem genau Erzählten, dem schön Geschriebenen. Scheinbar bauchnabellos werden sie als Zeuginnen und Zeugen gehandelt, verschachert, als Aufschreiberinnen und Aufschreiber von Authentischem, der ästhetische Eigensinn ihrer Texte wird zur Registratur von Realität degradiert, das heißt, zur Reaffirmierung des bereits Schablonisierten herangezogen, sie werden enteignet, ihr Bauchnabel vergesellschaftet.

Vielleicht also doch eine Position, die ich beziehen kann, für die ich einstehen kann, ich zergliedere sie in drei Thesen.

Erstens: Der Bauchnabel ist ein Guckloch. Man bedient sich der redlichsten aller Weltzugänge, der Beobachtung nämlich, die nicht nur sieht, was man sieht, sondern auch sieht, was man nicht sieht, oder: dass man etwas nicht sieht. Es ist die Beobachtung der Welt und zugleich die Beobachtung der gekrümmten Linse, mit der man die Welt beobachtet. Mehr kann man nicht beobachten, weil gekrümmte Linse.

Zweitens: Relevanz ist ein Dispositiv, mit dem das Schreiben über die Welt in einer bestimmten Weise zugerichtet werden kann, um das Schablonenhafte zu schonen und zu streicheln und zu pflegen und ihm artig zuzuhauchen, morgen wieder, morgen wieder, morgen wieder.

Drittens: Kunst ist das Künftige. Und das Künftige ist irrelevant, denn die Relevanzschablonen sind immer nur von heute. (Manchmal von gestern.) Zukunftswissen aber, so beschreibt es die Soziologin Maren Lehmann, ist dasjenige Wissen, das von seiner eigenen Relevanz nichts wissen kann. Denn die kommt ja erst noch. Im Schablonentempo.

„Deutsche Verlage wollen keine Literatur“ – Ein Interview mit Mahmoud Hosseini Zad

Mahmoud Hosseini Zad hat Dürrenmatt, Brecht und zuletzt die Tagebücher von David Rubinowicz ins Persische übersetzt, wurde 2013 mit der Goethe-Medaille geehrt. Während deutsche Literatur in Iran viele Leser findet, beklagt er Desinteresse und Einseitigkeit bei deutschen Verlagen. Gerrit Wustmann hat mit ihm gesprochen. 

 

In Iran erscheint wahnsinnig viel europäische und amerikanische Literatur in Übersetzung… 

Mahmoud Hosseini Zad: Wir sind stark von Übersetzungen abhängig, nicht nur in der Literatur. Auch in der Technik, Medizin, Psychologie, Philosophie. Das schadet uns auch, wenn wir nichts selbst schreiben, sondern nur das übersetzen, was andere geschrieben haben. Übersetzer sind daher sehr respektiert. Das geht so weit, dass auf manchen Büchern der Name des Übersetzers größer gedruckt wird als der Name des Autors. Und weil Iran das Copyright-Abkommen nicht unterzeichnet hat wird oft mehrfach übersetzt, denn die Rechte kosten ja nichts. Wenn ein neues Buch von Murakami erscheint machen sich direkt zwanzig Übersetzer an die Arbeit.

Seit wann ist das so?

Mahmoud Hosseini Zad: Ich habe mal recherchiert, wie viele Werke aus dem Deutschen ins Persische übersetzt wurden. Über Jahrzehnte war das sehr wenig, von 1921 bis 2015 waren es gerade mal etwa 380 Bücher. Aber zuletzt gab es eine Explosion. Von 2015 bis 2018 waren es 530 Bücher.

Wie kommt das?

Mahmoud Hosseini Zad: Dass bei uns so viel übersetzt wird hat mehrere Gründe. Zum einen die Leser. Es gibt nicht wenige, die grundsätzlich keine iranische Literatur lesen, sondern nur Übersetzungen. Aber es liegt auch an der Verlagswelt. Weil es so einfach ist, eine Verlagslizenz zu bekommen, gibt es rund 18.000 kleine Verlage, die müssen aber jedes Jahr wenigstens eine Handvoll Bücher publizieren. Sonst verlieren sie die Lizenz wieder. Aber es gibt schon auch ein Publikum, besonders für deutsche Literatur.

Welche AutorInnen werden denn bevorzugt gelesen?

Mahmoud Hosseini Zad: Das erste deutsche Buch, das meines Wissens übersetzt wurde, war 1921 der Roman „Ein Kampf um Rom“ von Felix Dahn. Das zweite war Goethes „Werther“. Das zeigt auch eine gewisse Wahllosigkeit. Und bis in die Achtziger wurden nur ganz bestimmte Autoren übersetzt. Goethe, Böll, Brecht, Grass, Hesse, Thomas Mann. Es war ziemlich einseitig. Ich habe selbst rund fünfzehn Jahre lang kein einziges Buch übersetzt. Weil die Verlage nur ganz bestimmte Autoren wollten. Und ich hatte keine Lust, Mann oder Hesse zu übersetzen.

Was hat dich stattdessen interessiert?

Mahmoud Hosseini Zad: Zeitgenössische, junge Autorinnen und Autoren, die ich dann auch übersetzt habe: Judith Hermann, Ingo Schulze, Uwe Timm. Aber auch Dürrenmatt war als Romanautor neu für die Iraner, sie kannten zuvor nur seine Dramen. Ein wirkliches Interesse an deutscher Literatur gibt es hier seit etwa zehn oder fünfzehn Jahren. Seit man die Gegenwartsliteratur entdeckt hat. Meine Übersetzungen von Julia Franck und anderen werden immer wieder neu aufgelegt. Das heißt nicht, dass die älteren Autoren nicht immer noch gelesen werden. Bölls „Ansichten eines Clowns“ gibt es in zwölf verschiedenen Übersetzungen.

Umgekehrt sieht es anders aus: Vom Persischen ins Deutsche wurden in den letzten fünf Jahren kaum zwanzig Bücher übersetzt…

Mahmoud Hosseini Zad: Mit deutschen Verlagen ist es schon tragisch, obwohl sie so viel größere Freiheiten haben als die Verlage in Iran. Sie wollen nur Politik. Sie haben ihre Orient-Vorstellung vom Anfang des 20. Jahrhunderts mit Harem, Sultan und Sklaven, bis heute nicht abgelegt. Sie wollen Bücher über Mullahs, Ayatollahs, Pasdaran und Gefängnisse. Heißt, sie wollen eigentlich keine Literatur. Die ganz großen Verlage sind wie ein Schaufenster. In der Mitte ist amerikanische Literatur, drumherum gibt es deutsche, französische, italienische Literatur, und irgendwo in einer Ecke steht ein Buch aus oder über Persien. Ob ich das schreibe oder du oder sonstjemand ist ihnen egal.

Empfindest du die Auswahl persischer Übersetzungen ins Deutsche als zu einseitig?

Mahmoud Hisseini Zad: Es gibt drei Gruppen von persischer Literatur in Deutschland. Zum einen die Klassiker, die ab dem 18. Jahrhundert von Rosenzweig, Hammer-Purgstall, Rückert und so weiter übersetzt wurden: Hafez, Saadi, Djami, Rumi, all die großen Dichter – und ihre Übersetzer waren oft ebenfalls Poeten. Dann kamen mit Sadegh Hedayat, Houschang Golschiri und weiteren die Prosaautoren des 20. Jahrhunderts und die zeitgenössischen Autoren wie zum Beispiel Mahmoud Doulatabadi. Die dritte Gruppe sind die Exiliraner. Und was man zur Übersetzung aussucht, das folgt diesem Schema. Es muss unbedingt politisch sein. Es muss was mit dem Schah zu tun haben. Vierzig Jahre nach der Revolution werden noch Bücher über den Schah und den SAVAK übersetzt. Auch die Exiliraner, die jetzt schreiben und dafür Preise bekommen, bewegen sich in dieser Schablone.

Inwiefern?

Mahmoud Hosseini Zad: In diesen Büchern gibt es immer eine sehr nette Familie in Teheran, die Mutter ging zur französischen Schule, der Vater war ein netter Ingenieur oder Militär, und dann gibt es den bösen Onkel und den bösen Nachbar, die sich dem Islam zuwandten, was der netten Familie Angst machte, weshalb sie nach Deutschland oder Amerika ging. Und so weiter… furchtbar!

Du widmest dich in deinen eigenen Texten anderen Themen…

Mahmoud Hosseini Zad: … und damit habe ich auf dem deutschen Buchmarkt keine Chance. Du kennst meinen Roman „20 tödliche Wunden“. Eine prominente Berliner Agentur hat ihn Verlagen angeboten, aber natürlich wollte ihn keiner nehmen. Ein Lektor eines großen Verlages sagte, der Roman gefalle ihm, aber sie hätten gerade erst ein Buch eines irakischen Autors über die Korruption in Saudi-Arabien gemacht, das genüge erstmal. Ein, zwei Bücher pro Jahr mit Bezug zu islamischen Ländern, mehr meinen sie nicht zu brauchen. Aber es sind ja nicht nur die Romane. Auch für die iranische Lyrik interessieren sich deutsche Verlage nicht, obwohl diese sich auf einem sehr hohen Niveau bewegt. Und das müssten sie, wenn sie es ernst meinen würden…

Wobei ich einwerfen muss, dass es nicht nur an den Verlagen liegt. Es gibt durchaus auch große Verlage, die versuchen, iranische Literatur zu machen, die dann scheitert, weil das Interesse der Leser zu gering ist. Und Lyrik liest, so traurig es auch ist, nur eine winzige Minderheit in Deutschland.

Mahmoud Hosseini Zad: Das stimmt schon, aber ich denke dennoch, dass es viel mit der Auswahl durch die Verlage zu tun hat. Das Publikum will vielleicht nicht das tausendste Buch über die Mullahs lesen, sondern auch mal etwas ganz anderes. So gesehen haben die deutschen Leser schon recht. Wie viel kann man denn lesen über Schah, Mullahs und das Evin-Gefängnis? Wahrscheinlich wissen die Deutschen darüber längst mehr als ich… Klar, es gibt kleine Verlage, die es besser machen. Aber die erreichen nicht das große Publikum.

Nutzen wir doch die Gelegenheit: Welches Buch sollten deutsche Verlage unbedingt übersetzen?

Mahmoud Hosseini Zad: Es gibt einen Roman, den ich sehr mag, er heißt „Atemnot“ von Farhad Guran, einem kurdisch-iranischen Autor. Es geht darin um den irakischen Giftgasangriff auf Halabdscha, bei dem 1988 tausende Menschen starben. Zwanzig Jahre später versuchen die Protagonistinnen, die aus dem Dorf stammen, das Verbrechen via Social Media zu rekonstruieren und die Erinnerung daran wachzuhalten. Ein großartiges Buch, das leider auch in Iran bislang kaum wahrgenommen wurde. Und ich möchte die Dichterin Sarah Mohammadi Ardehali empfehlen. Sie war zweimal in Berlin, ich habe sie gerade erst wieder der Botschaft für ein Projekt in Deutschland vorgeschlagen. Es wird wirklich Zeit, dass mal ein Buch von ihr auf Deutsch erscheint.

 

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Missionen statt Handlung – “Tenet” und das Zeitalter des videospieligen Films

von Matthias Kreienbrink

 

Was unterscheidet das Videospiel vom Film? Die einfachste Antwort ist wohl: Seine Interaktivität.  Es mag abgedroschen klingen, aber der Input der Spieler*innen, der die Veränderbarkeit bedingt, das Performative des Spielens, macht den Unterschied. Daraus folgen Konventionen, die die Narrationen der Spiele formen, die Art, wie Geschichten erzählt werden. Nun ist es spätestens mit Einzug von aufwendig animierten Zwischensequenzen das Bestreben vieler großer Enwicklerstudios, ihre Videospiele filmischer zu machen, sich dem (Hollywood)Kino und seinem Bombast und Überschwang zu nähern – und damit auch seinem starren Erzählen. Seit einigen Jahren erscheint diese Beeinflussung jedoch nicht mehr so einseitig: Viele moderne Filme erzählen wie Videospiele. Und in beiden Fällen zeigt sich: So richtig funktionieren tut das nicht.

Leere Spielmechaniken

Wenn Nathan Drake in einem „Uncharted 4“ an bröckelnden Ruinen emporklettert, dabei Schüssen ausweicht und schließlich durch das Dach des Gemäuers bricht, dann geht das freilich gut von der Hand. Fein laufende Videospiel-Mechaniken, die auf Knopfdruck das erledigen, was sie sollen. Ebenso wenn Kassandra in „Assassin’s Creed: Odyssey“ diverse Nebenaufgaben abklappert, Türme erklimmt oder gegen Spartaner kämpft. Das macht Freude, ist kurzweilig. Es funktioniert. Wir befinden uns in einer Spielwelt, durchzogen von Spielmechaniken, die ihr Sinn und Ziele geben.

Doch diese Spielmechaniken transportieren selten erzählerische Inhalte, sind selten Teil der Narration. Vielmehr dienen sie als Fleißarbeit für die Spieler*innen, als Herausforderung, bevor es zur nächsten Zwischensequenz kommt – und die Geschichte tatsächlich weitererzählt wird. Auf diese Weise funktioniert die Narration in vielen (AAA)Spielen: Sie wird ausgelagert, von den Spielmechaniken getrennt. Wenn erzählt wird, dann zumeist in Zwischensequenzen – das Spielen verkommt beinahe zum Beiwerk zwischen den aufwändig erstellten Filmen. Selbst in dem durchaus komplexen „The Last of Us 2“ wird das eigentliche Spielen zuweilen zur Farce. Da das Spiel vom Zirkel der Rache erzählen möchte, inszeniert es Gewalt in den Zwischensequenzen äußerst drastisch. Hier wird jeder Tod, jeder Mord zu einer Tragödie. Bis die Spieler*innen den Controller wieder in die Hand nehmen, und mehrere hundert anonyme Gegner töten.Gameplay und Geschichte scheinen wie zwei Ebenen, die parallel zueinander laufen, aber selten in Kontakt zueinander stehen.Dagegen gibt es Spiele, wie etwa „What Remains of Edith Finch“, die genau das versuchen: aus den Mechaniken erwächst die Geschichte – das Steuern der Charaktere ist die Narration.

Videospielig

Vor einigen Wochen kam „Tenet“ ins Kino, der neue Film von Christopher Nolan. Vor ihm erschien „Star Wars: Der Aufstieg Skywalkers“ und davor viele andere Filme, die sich irgendwie anders anfühlten, sonderbar, videospielig eben. Doch was mact sie anders? Dem lässt sich, zum Videospiel passend, wohl am besten in einzelnen Etappen nähern.

1. Sie  erzählen in „Missionen“: Da Videospiele oftmals länger als 40 Stunden dauern, besonders wenn es sich um die notorisch umfangreichen „Open World“-Spiele handelt, gibt es nur einen rudimentären dramaturgischen Bogen, der sich von der ersten bis zur letzten Minute zieht. Vielmehr teilt sich das Spiel in diverse Missionen (oder Episoden, oder Quests etc.) auf. Auch „Tenet“ fühlt sich an wie eine Abfolge einzelner Missionen, die die Zuschauer*innen stets im Hier und Jetzt halten, ihnen vor Augen führen, was die Protagonist*innen gerade zu tun haben: Jetzt gilt es, ein Flugzeug in ein Gebäude zu rammen. Nun müssen wir einen wertvollen Gegenstand aus einem Transporter stehlen. Es sind einzelne Missionen, die für sich Anfang, Mitte und Ende haben. Doch wo auch immer sie sich in der Dramaturgie des Filmes einreihen – wieso die Protagonist*innen das gerade machen, geht verloren. Die Zuschauer*innen haben womöglich längst vergessen, wie es zu dieser Mission kam und wie sie im Zusammenhang zu anderen Missionen steht. Wie in einem Videospiel klappern sie mit den Protagonist*innen die einzelnen Etappen ab – es fehlt eigentlich nur eine Punktevergabe am Ende jeder Mission.

2. Eine Mechanik steht im Mittelpunkt: In “Tenet” haben einige wenige die Möglichkeit, sich rückwärts durch die Zeit zu bewegen. Es ist diese Mechanik, die den Kern des Films ausmacht. Dialoge ordnen sich ihr unter, der Handlungsbogen ebenso. Ähnlich wie in einem Videospiel basiert der Film auf der Idee, dass die Spieler*innen eine Fähigkeit besitzen, die sich in Form einer konkreten Spielmechanik manifestiert, anhand derer sie sich durch das Spiel bewegen. Sie ist Ausgangs- und Endpunkt des Films, gibt ihm Struktur, ordnet ihn. Doch bleiben die Zuschauer*innen  passiv. Die Mechanik scheint zum Greifen nahe, doch ist sie eben nicht greifbar, nicht anwendbar. Dennoch steht sie im Mittelpunkt des Films, sie macht die Action des Films aus und sie ist es, die bombastisch inszeniert wird. In dem ganzen Spektakel gehen dann allerdings die erzählenden Momente des Films unter.

3. Sie bedienen sich der Ästhetik von Videospielen. Die Kamera filmt die Protagonist*innen über die Schulter. Teilweise folgen die Zuschauer*innen dem Geschehen in Ego-Perspektive. Der Film gaukelt vor, dass er steuerbar ist, wie ein Videospiel. Aber er ist es nicht. Die Inszenierung der Mechanik spielt mit Zeitlupen, die Kamera dreht sich um gewaltige Explosionen, zoomt heran an die herumfliegenden Partikel. Wie in den Zwischensequenzen von Videospielen ist es diese Inszenierung, die den Zuschauer*innen bedeutet, welche Teile des Films wichtig sind – handlungstragend – und welche lediglich dem Überschwang geschuldet sind.

Starke Erzählungen

Nun ist es  nichts Neues, dass Medien sich gegenseitig beeinflussen, Erzählstrukturen adaptieren. Mit Filmen wie „Black Mirror: Bandersnatch“ wird gar versucht, die Interaktionsmöglichkeiten eines Videospiels zu integrieren, um auch den Film veränderbar zu machen. Doch zeigt sich, dass bisher weder das filmische Videospiel noch der videospielige Film wirklich gut funktionieren. Bei Videospielen zeigt sich das Problem seit Anbeginn: Das Medium entstand in einem Spannungsfeld aus Innovation und starkem Kommerzialisierungsdruck – es ist das einzige Erzählmedium, das nie eine Zeit vor dem modernen Kapitalismus erlebt hat. Es wurde geformt in und durch die Strukturen des Marktes. Da mag es naheliegen, geläufigen und bewährten Konsumgewohnheiten eher nachzukommen, als wirklich neue Möglichkeiten des Erzählens zu erforschen. Daher die vielen Spiele, die filmisch sein wollen, denen Hollywood am nächsten steht.

Der Film aber hat seine Erzählkonventionen über Jahrzehnte hinweg in einem konfliktreichen Aushandlunsgprozess entwickelt. Auch hier wird es in der Zukunft Veränderungen geben. Aber es stellt sich die Frage, ob gerade das Videospiel, das zu größten Teilen selbst ein Hybrid aus verschiedenen Erzählformen ist, die Quelle sein sollte, an der sich der Film mit frischen Ideen bereichern kann. Videospiele sind lang, und sie werden immer länger. Dass ein solches Medium eine andere Art des Erzählens braucht, ist naheliegend. Wenden sich Spieler*innen nach Wochen wieder ihrem Spiel zu, können Sie zumindest im Menü nachvollziehen, in welcher Mission sie sich gerade befinden. Sie kennen ihr nächstes Ziel und sie kennen die Spielmechaniken, die ihnen auf dem Weg dahin zur Seite stehen. Dieses fragmentarische Erzählen findet nun auch immer öfter seinen Weg in (Hollywood)Filme. Mission für Mission wird abgeklappert, ein actiongeladener Höhepunkt folgt dem nächsten. Doch was im Videospiel aktiv gestaltet werden kann, drückt die Zuschauer*innen im Kino tiefer in ihre Sessel. „Wozu passiert das hier eigentlich gerade?“, mag sich die ein oder andere nach Mission 23 des Films denken. Aber wen interessiert schon ein Handlungsbogen, wenn die Explosionen wie im Videospiel aussehen?

 

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Das Leben ganz elementar lesen – Vier Bücher über die Gegenwart der Natur

von Susanne Wedlich

 

Vielleicht fange ich am besten mit einem saisonalen Disclaimer an. Wenn ich mir eine Jahreszeit aussuchen müsste, würde ich dem Herbst nachlaufen, bis die Wehmut nicht mehr auszuhalten ist. Greenery, dem aktuellen Buch des Nature Writers Tim Dee musste ich angesichts des Untertitels Journeys in Springtime also mit der gebotenen Vorsicht begegnen. Zu Unrecht: Tim Dee denkt beim Frühling konsequent zyklisch den Herbst mit und jedem Anfang wohnt hier mindestens ein Ende inne, ob biologisch, ob in der Zeit oder im Raum.

Und manchmal hängt das auch zusammen. Der Brite Dee ist mit einer südafrikanischen Ornithologin verheiratet und teilt sein Jahr auf die beiden Heimatländer auf, pendelt also ähnlich longitudinal zwischen den Hemisphären wie die Schwalben, die er an einem Dezembertag bei seinem Haus kurz vorm Kap beobachtet. Ob er ihnen schon einmal im Sommer in England begegnet ist? Ob sie heimfliegen? Wo ist eigentlich das Daheim der Zugvögel – und des schreibenden Nomaden Dee? Er habe den Halt auf der Landkarte verloren, schreibt er. 

Schließlich sei die Wintersonnwende in Südafrika im Juni, die Schwalben also dort, wo sie im Dezember auch sein sollten: as at home as they could be. Irgendwann würden sie aber wieder gen Norden fliegen und die ersten unter ihnen früh im noch jungen Jahr Südeuropa erreichen. This might be one definition of the beginning of spring. Spring moves north through Europe at a speed comparable to the swallows´ flights. Im Menschenmaß gerechnet: Der Frühling ist etwa im Schritttempo unterwegs und liefert eine Art grünen Faden für Dees poetisches Meisterwerk. 

Einmal lesen ist nicht genug, so dicht sind hier Natur und Literatur mit Biografischem verwoben. Dees Reisen führen unter anderem in den Tschad und in die Sahara, nach Helgoland und an den Polarkreis. Wohin er aber auch geht, überall hat er mindestens ein Auge gen Himmel gerichtet. Vögel sind seine Frühlingsboten und noch mehr: Er ist ihnen schon ein Leben lang verfallen, beobachtet und beschreibt, atmet und lebt sie. Hier ist klar im Vorteil, wer den Rüppell´s warbler vom willow, olivaceous, subalpine, garden, Upcher und black-throated green warbler unterscheiden kann.

Ich kann das nicht, habe aber einen anderen Zugang zur Lektüre gefunden. So unbelastet in der Vogelkunde war mein Kopf eine mehr oder weniger weiße Leinwand für Dees Porträts – und er kann wunderbar mit Worten malen. Das geht mit raschen Pinselstrichen – They were swallows: the gast of dried-blood at their throats told me that, and the blue, metal-shiny crick crack of their sharp wings and deep-cut tails –  genauso wie mit spitzer Feder: …it carries with it something of the dirt inside us all. It is old like shit is old“, schreibt er über den woodcock

Und wer wie ein night soil bird aussieht, kann sich kaum besser anhören: …their antiquity scored with brief squeals, snores, grunts, and methane blows. Old, far-off. Unlovely things. Muss man mehr wissen? Dem woodcock mag es ein Trost sein, dass sich auch andere Arten alt und unnahbar anhören. Its song was things old and cold made into music. If a colander could sing it would sound like a mistle thrush: cold light, cold air, cold water coming through cold and hammered steel. Es bleiben viele Vogelbilder in meinem Kopf. Weil in jedem davon so viel Dee steckt, habe ich nun zum ersten Mal aber auch eine Ahnung davon, was  diese Tiere für manche Menschen so unwiderstehlich macht.

Abgesehen vom ornithologischen name-dropping liest sich das Buch aber auch wie ein who´s who der Literaturgeschichte. Shakespeare, Coleridge, Rilke, Rimbaud… Wer hat nicht den Frühling besungen? Noch eindrücklicher fand ich allerdings Passagen aus Tagebüchern und Briefen, in denen beispielsweise der schwer lungenkranke D.H. Lawrence nur eines vergeblich ersehnte: einen letzten Frühling. 

Spring means more to me with every year that passes and takes me deeper into my own autumn, schreibt Dee. Es ist eine Klammer, die er zum Ende des Buches schließt mit dem Bericht seiner eigenen Parkinson-Diagnose. Eine Nachricht, die er in England erhält und seiner schwangeren Frau am Telefon übermitteln muss. Spring seems to bring forth elegies for a world that is still in the process of being born. A beginning is always the beginning of an end; we are dying from the moment we hatch. 

Was aber, wenn sich Organismen diesen engen Grenzen von Leben entziehen? Merlin Sheldrakes Buch Entangled Life führt ins dunkle Reich der Pilze, in die Erde, aber eben nicht nur dort: Fungi are everywhere, but they are easy to miss. They are inside you and around you. They sustain you and all that you depend on…They are eating rock, making soil, digesting pollutants, nourishing and killing plants, surviving in space, inducing visions, producing food, making medicines, manipulating animal behavior, and influencing the composition of the Earth´s atmosphere.

Pilze helfen seit Menschengedenken unter anderem beim Brotbacken und Bierbrauen. Künftig sollen sie weitere Aufgaben übernehmen, etwa Öko-Baumaterial liefern und gefährliche Abfälle von Nervengiften über radioaktiv verseuchtes Material bis zu vollen Windeln abbauen. Schließlich sind sie die geborenen Zerstörer: Using cocktails of potent enzymes and acids, fungi can break down some of the most stubborn substances on the planet, from lignin, wood´s toughest component, to rock; crude oil; polyurethane plastics; and the explosive TNT

Doch trotz dieser langen und fruchtbaren Zusammenarbeit von Mensch und Pilz wissen wir noch erstaunlich wenig über sie, weniger als ein Zehntel aller Arten sind bislang dokumentiert. Pilze können passionierte Fürsprecher wie Sheldrake also gut gebrauchen, dessen Herangehensweise sich mit einem Satz aus dem Buch zusammenfassen lässt: I tried to imagine the scene from the truffle´s point of view. Dieser Wechsel in die Perspektive des Trüffels ist allerdings leichter gesagt als getan. Den Pilz macht das Myzel aus, ein komplexe Netzwerk aus Hyphenfäden, die verzweigen, fusionieren und so gut wie alles durchdringen können. 

Mycelium is how fungi feed…The more of their surroundings that hyphae can touch, the more they can consume. The difference between animals and fungi is simple: Animals put food in their bodies, whereas fungi put their bodies in the food. Das Myzel sei Appetit in körperlicher Form. Ein Körper ohne Bauplan, eher eine Art ökologisches Bindegewebe mit kaum vorstellbarer Reichweite. In practice, it is impossible to measure the extent to which mycelium perfuses the Earth´s structures, systems, and inhabitants – its weave is too tight. 

Und sein Einfluss währt lange und reicht weit. Pilze halfen wahrscheinlich vor rund 500 Millionen Jahren den ersten Pflanzen an Land, von denen noch heute mehr als neunzig Prozent von ihren unterirdischen Partnern abhängen. Eine Ausprägung ist das wood wide web, das oft als pilz- und wurzelbasiertes Kommunikationsnetzwerk der Bäume verstanden wird, die bei Bedarf auch Nährstoffe austauschen. Evolutionär lässt sich der scheinbare Altruismus der pflanzlichen Nachbarschaftshilfe aber kaum erklären. 

Hier kann Sheldrakes pilzzentrierte Lesart helfen. Möglicherweise halten sich ja die Pilze ein paar Pflanzen – und erzwingen den Austausch. Müssen wir jetzt alle die Trüffelperspektive einnehmen? Es würde zumindest verhindern, dass wir charismatischen Lebewesen wie Bäumen automatisch die Rolle des Drahtziehers und nie die der Marionette zuschieben. Und wir könnten vielleicht dezentrale Organismen wie Pilze besser verstehen, denen bislang kaum Intelligenz zugeschrieben werden kann, weil diese traditionell über die Hardware – sprich: Nervensystem und Gehirn – definiert wird. 

Pilze, Schleimpilze und auch andere reagieren aber auch ohne Neuron flexibel auf ihre Umwelt, lösen Problem und treffen Entscheidungen. Schwarmintelligenz ist hier ein Denkmodell, das für Sheldrake bei Pilzen aber zu kurz greift, weil sie als Geflecht nicht aus getrennten Einheiten bestehen. Es gibt also noch viel zu lernen und vielleicht kristallisieren sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede ja beim Blick auf Schwarmvarianten anderer Art heraus: A murmuration of starlings is a swarm, as is a school of sardines. Swarms are patterns of collective behavior

Das Medium mag sich ändern, kollektives Verhalten lässt sich aber häufig schwer entschlüsseln oder auch nur nachweisen. Der Meeresbiologe Callum Roberts ging zu Beginn seiner Karriere in den 1980er Jahren einer grundlegenden Frage nach: Herrscht am Riff Chaos oder Ordnung? Wie er in Reef Life. An underwater memoir schreibt, half seine gute Vorbereitung recht wenig vor Ort, weil die  Fische den Abbildungen in Lehrbüchern kaum ähnelten, ihre Farben lebhafter, ihre Muster subtiler und die Kontraste zwischen den Arten weniger klar waren. 

Jegliche Ordnung kam also chaotisch herrüber: Shock blossoms into wonder. Fish throng a labyrinth of coral: fat fish, slender, spiny, smooth, bulbous-eyed, serious, striped, barred, spotted, dotted, ringed, plain, lemon peel, orange, aquamarine, black; a mind-bending confusion coming and going. Es war kaum möglich, auch nur das Kommen und Gehen einiger weniger Arten zu dokumentieren, nicht zuletzt, weil Roberts die Kommunikation per Farbe, Muster und Geräusch nicht verstand. 

Offen war zu jener Zeit auch die Frage, wie robust Korallenriffe eigentlich sind. Viele Fachleute sahen sie als fast unzerstörbar an oder befürchteten nur lokale Schäden. Wie fehlgeleitet diese Einschätzung war, zeigte sich um die Jahrtausendwende mit den ersten „Massenbleichen“, bei denen Korallen im überhitzten Meer ihre symbiotischen Mikroben ausstießen. A bleached coral is a starving coral; if conditions don´t soon swing back to normal, it dies. Mittlerweile ist dies hinlänglich als globales Problem bekannt, das sich im Zuge der Klimakatastrophe rasant beschleunigt. 

Was geht hier verloren? In den letzten vier Dekaden hätten drei katastrophale Erwärmungen Riffe rund um die Welt zerstört, schreibt Roberts. Dabei sind sie die reichsten aller marinen Ökosysteme, die mindestens ein Viertel aller Arten im Meer unterstützen. Er selbst kämpft als Forscher, Ausbilder und politischer Berater, wenn auch ohne viel Hoffnung, denn die Korallenriffe seien on a trajectory to collapse within a human generation. There will be remnants here and there, but the global coral reef ecosystem – with its storehouse of biodiversity and fisheries supporting millions of the world´s poor – will cease to be

Es sei schon von Zombie-Ökosystemen die Rede, die weder tot noch in einem funktionalen Sinne wirklich am Leben seien. Und manche Fachleute hätten die Riffe schon aufgegeben, würden jede Investition in ihre Rettung als Geldverschwendung ablehnen. Muss man das lesen? Die Lektüre ist schmerzhaft, aber doch mitreißend, denn Roberts ist ein ebenso leidenschaftlicher Lobbyist der Riffe wie es Tim Dee bei den Vögeln und Merlin Sheldrake bei den Pilzen ist. 

Zum anderen eröffnet auch er hier eine Welt, die den meisten Menschen notgedrungen verschlossen bleibt. Wenn die Korallenriffe aber überhaupt noch eine Überlebenschance haben sollen, darf ihr Niedergang nicht unter der Wasseroberfläche verborgen bleiben, der sich in Jahren und Jahrzehnten messen lässt. Die Zeit läuft: We are fortunate to live in the greatest period of coral reef growth in planetary history. Yet we might bring it all to an end within the space of a few human generations.

Korallenriffe sind in ihrer Komplexität schwer zu entschlüsseln sind, bleiben aber wenigstens am Platz. Die australische Autorin Rebecca Giggs fokussiert in Fathoms. The World in the Whale auf Tiere, auf denen ebenfalls ganze Ökosysteme basieren – wenn auch der mobilen Art. Hier geht es um die biologisch einzigartigen und dank ihres Charismas für die Umweltbewegung ikonischen Wale, deren Einfluss sich  Ozeane erstreckt. 

Neu war für mich, dass auch Wale als Organismus kaum zu fassen sind. Die immense Größe macht den Unterschied, wie Giggs erfährt, als sie mit einem Fachmann das langsame Sterben eines gestrandeten Wals diskutiert, das sich nur schwer beschleunigen lässt. Denn Herz und Hirn des Wals liegen so weit auseinander, dass die Auswirkungen eines tödlichen Bolzenschusses in eines der Organe das andere nur zeitverzögert erreichen würden. Ein Ausbluten wiederum könnte Tage dauern und würde ein Schlachtfeld hinterlassen. 

Und der Green Dream, ein starkes Barbiturat würde zwar den Wal erlösen, aber als tödliches Risiko für Aasfresser und andere ins Ökosystem einsickern. Hier habe sie angefangen, über den Walkörper nachzudenken als etwas, wo Sterben an mehreren Stellen und über unterschiedliche Zeitspannen stattfindet. Der Anfang vom Ende ist dann häufig Müll des Menschen, wenn etwa Fischernetze in Walmägen landen oder Chemikalien wie Düngemittel und Pestizide im Walfett lagern, um dann über die Milch der Weibchen auch die Jungen zu vergiften. 

Giggs zeichnet in ihrem Ausnahmebuch viele Verbindungen zwischen Mensch und Wal nach, dem tierischen Ökosystem, das wir seit Jahrhunderten verehren und erforschen, vor allem aber ausschlachten. People of the nineteenth century – across an array of classes, professions, and life stages – dressed in, slept, and dreamt on the stuff of whales; they cooked with, played with, desired with, and made art from, looked through, healed with, explored….In the ordinary course of life, they were almost constantly in contact with whale-gleaned products, in much the same way as most people today are never far from plastic object. 

Der Verlust von Walen dezimiert aber nicht nur deren Bestände, sondern wirkt sich großflächig auf die marine Biodiversität aus. The world in a whale lautet der Untertitel des Buches und ließe sich damit ergänzen, dass mit jedem Wal auch eine Welt untergeht. Wenn zu viele Wale eines unnatürlichen Todes sterben, macht sich das sogar in der Tiefe bemerkbar.  Denn hier befinden sich hunderte Arten von whalefalls. Das ist das Absinken eines Walkadavers, der auf jeder Station dieser oft wochenlangen Reise Überleben bietet, wo es sonst kaum Nahrung gibt. 

Schöner als Giggs kann keiner über Verrottung schreiben und über Leben, das dem Kadaver entspringt. Am Meeresboden tunnelt der Schleimaal glitschige Gänge ins Aas und ein Teppich weißer Würmer wächst. Muscheln, Krabben und Schnecken, auch die sogenannte „Rotzblume“ Osedax, ein hochspezialisierter Wurm, der das Mark über wurzelartige Ausläufer aus den Knochen saugt. Es kann ein Jahrhundert dauern, bis der Kadaver durch Tiere zerlegt wurde, die nur auf toten Walen und manchmal nur auf einer einzigen Walart leben können. 

Was bedeutet also ein toter Wal für diesen extremen Lebensraum? In undersea sites bereft of seasons (as we are wont to understand the seasons), a whalefall is tantamount to springtime – a fountain of life; spectacular, then squalid. Und warum auch nicht? Wenn wir schon vertraut eng gesteckte Definitionen von Leben aufweichen müssen, wenn maßgeschneiderte Zerstörung erwünscht ist, aber die Fragilität der Korallenriffe unerwartet jedes Maß übersteigt, kann der Frühling doch auch dunkel und kalt sein und aus der Zeit gelöst entspringen. 

 

Photo by Max Gotts on Unsplash

[Atelier NRW] Über das Leben der Ideen im Verborgenen

Im vergangenen Oktober trafen sich sechs Autorinnen und Autoren aus Nordrhein-Westfalen im Gräflichen Park Bad Driburg zu dem dreitägigen Symposium Atelier NRW. Aus den Vorträgen und geführten Gesprächen sind Essays entstanden, die einmal im Monat auf 54books veröffentlicht werden.

Einleitung von Dorian Steinhoff

Von Sabrina Janesch

Der Traktor stemmte sich in den sumpfigen Steppenboden, ratterte, röchelte, der Motor stotterte – und gab schließlich mit einem lauten Knall den Geist auf. Er hatte sich festgefahren. Und ich, die mit meinem Geländewagen hätte von ihm rausgezogen werden sollen, war dazu verdammt, weitere Stunden auf den nächsten, nächst-größeren Traktor zu warten. Rings um mich herum erstreckte sich die kasachische Steppe, am Horizont zeichneten sich die Dächer des Dorfes ab, das ich tagsüber besucht hatte. Der Kasache im Traktor gestikulierte, ich gestikulierte zurück. Es ging auf siebzehn Uhr, der Himmel verfärbte sich. Ratlos blickte ich auf das Notizbuch neben mir, überflog die Skizzen, Eindrücke, vermeintliche Geistesblitze, die schon jetzt, wenige Stunden später, ihre Brillanz eingebüßt hatten.

Ich steckte fest.

Das Sujet, an dem ich arbeitete, war mir seit langer Zeit vertraut. Einige Themen begleiten einen Schriftsteller über viele Jahre, manchmal Jahrzehnte. Nun hatte ich also die Zeit für reif gehalten, mich einem autobiographischen Thema zu widmen, und wunderte mich, dass ich kaum mit Konzeption und Gestaltung vorankam.

Noch einmal, und diesmal nicht im Hinblick auf Traktoren und plötzlich auftretende Steppenseen (ich wartete übrigens noch weitere viereinhalb Stunden, bevor der nächstgrößere Traktor mich erreichte): Ich steckte fest. Knöcheltief in der Fehlannahme, ich hätte den richtigen Moment erwischt, und die Zeit für jenes Sujet wäre gekommen.

Während dieser Wochen in Zentralasien – es war ganz egal ob ich währenddessen ritt, schwamm, wanderte, kletterte, fror oder schwitzte – hielt ich für mein vordringlichstes Problem, für die größte Frage, die mich quälte, die Frage nach der Positionierung meines Manuskripts. Wie nah an mir selber, an meiner Familie, wollte ich entlang schreiben? Ich fand keine Antwort, und dementsprechend sabotiert, lahmgelegt, außer Gefecht gesetzt, war ich lange Zeit nicht imstande, auch nur eine Zeile zu verfassen.

Ich zermarterte mir das Gehirn, ohne zu bemerken, dass im Verborgenen, in einem Getriebe, zu dem ich noch keinen Zugang hatte, ein ganz anderer Prozess ablief, und dieser Prozess hatte nichts mit meinen vordergründigen Fragen (Wie persönlich ist zu persönlich? Autobiographie, oder Autofiktion, oder gar Automythographie?) oder multiplen Ratlosigkeiten zu schaffen.

Das Feststecken ist ein undankbarer Zustand, der jedem Schriftsteller widerfährt. Manchem vielleicht ein-, zweimal während eines Schaffensprozesses, manch anderem jeden Tag, jede Stunde, auf jeder Seite. Aber dieses Feststecken meine ich nicht; ich meine wesentlich tiefer liegende Phänomene in der Schreibbiographie eines Schriftstellers.

 

Im Englischen gibt es den Begriff der riptide; eine Art gefährlicher Brandungsrückstrom, der auch in vermeintlich ruhigen Strandabschnitten Schwimmer hinaus aufs offene Meer reißen kann. Wichtig ist es dann, nicht in Panik zu verfallen, nicht zu versuchen, frontal dorthin zurück zu schwimmen, woher man gekommen ist – sondern sich von der Strömung forttreiben zu lassen und schließlich, wenn sie abklingt, zurück zur Küste zu gelangen.

Dieses Gepackt-Werden, Fortgerissen-Werden, lässt sich vergleichen mit gewissen Momenten des Schreibprozesses, vor allem zu Anfang. Es sind heftige, intensive Kräfte, die da wirken, und hinein ziehen in den Sog des Manuskripts. Nach diesem Sog sehnt man sich in Momenten, da man, zwischen zwei Manuskripten, etwas ziel-und planlos umherirrt, auf der Suche nach einem neuen Thema, einer neuen Obsession, einer neuen Zwangsläufigkeit. Wie einfach ist es da, auf Themen zurückzukommen, die einen schon seit längerem begleiten. Warum sie nicht endlich aufgreifen – das wäre doch sicher die Gelegenheit?

Jetzt, eine ganze Zeit nach meiner Reise nach Zentralasien und den ersten, konkreten Plänen zu einem neuen Manuskript, kommt es mir so vor, als sei meine Annahme, selber und einigermaßen willkürlich über den Beginn einer neuen Arbeit zu bestimmen, fehlerbehaftet.

Schon nach meinem ersten Roman war mir jenes Thema nah, für das ich in Kasachstan recherchierte; auch nach dem zweiten und während des dritten dachte ich daran und beabsichtigte, mich ihm bald zuzuwenden. Ich bin dankbar dafür, dass ich es nicht tat, dass mich etwas Unbewusstes gleichsam davon abhielt und mich zu anderen Sujets steuerte. Oder, um diese Vokabel nochmals zu bemühen: die Strömung war noch längst nicht stark genug. Und mit Strömungen schien es zu sein wie mit vielem anderen auch: suchte man sie aktiv, entwanden sie sich, wurden unsichtbar, unerreichbar. Mit jedem Beginn einer neuen Schreibphase zog es mich zu anderen Themen, anderen Bereichen. Immer präsentierte sich etwas Anderes als dringlicher, aktueller, machbarer. Die Strömungen: sie trugen mich in eine andere Richtung, nie in die eine, die ich schon seit längerer Zeit im Blick hatte. Auch, als ich schon im Geländewagen in der kasachischen Steppe saß, mein Sujet längst auserkoren, die Recherche begonnen, mit dem Verleger, dem Lektor abgestimmt; ich mochte es vielleicht im Blick haben – aber bereit war weder es noch ich.

 

Mich fasziniert, wie ein Künstler, ein Schriftsteller in diesem Fall, den Mut aufbringt, eine Entscheidung zu treffen. Von hundert Ideen – warum diese eine? Mit jedem Verfolgen einer Richtung entscheidet man sich gegen alle anderen, die Masse der Möglichkeiten ist atemberaubend, und der Entscheidungsdruck manchmal paralysierend. Und doch scheint es Momente großer Klarheit zu geben (ich lasse die Myriade verschwommener Momente einmal diskret beiseite). Mir scheint, als ob zeitgleich mit den Ideen, die im Verborgenen gedeihen, auch die Kraft wächst, sich für sie zu entscheiden und ihnen Form und Ausdruck verleihen zu können.

Dort, im Verborgenen, gehorchen die Themen ihren eigenen Gesetzen der Reifung und Werdung; brüten, wachsen, ruhen. Und wer weiß: vielleicht hängen ungewöhnlich starke Qualen der Entscheidungsfindung – writer’s block? Schreibblockade? Fest-Stecken? – damit zusammen, dass entweder Sujet oder der Schreibende, womöglich beide, noch nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden haben.

 

Ob es den richtigen Zeitpunkt überhaupt gibt? Eventuell existiert er überhaupt nicht, ist selber nur eine Phantasie, ein Wunschtraum; wie mit einem Kind ist es auch mit einem Roman niemals leicht.

Vielfach habe ich aber Kollegen von diesem Phänomen berichten gehört oder es selber beobachtet und mitverfolgt: wie ein Thema schon greifbar ist, miteinander besprochen wird oder in einer Kurzgeschichte, einem Hörspiel ausprobiert. Teils werden schon langwierige und kostspielige Recherchen unternommen, nur, um das Sujet wieder für ein paar Jahre (in einem Fall sogar für ein ganzes Jahrzehnt) ruhen zu lassen, bis man den Atem, den Willen und die Courage hat, es anzupacken. Der Zeitpunkt war zuvor schlicht noch nicht gekommen.

Was sich jahrelang entzogen hat – weil es zu groß, schwierig, sperrig, enigmatisch, unlösbar, unschreibbar schien – fällt plötzlich wie von selbst auf den rechten Platz. Lange vorher hatte es im Verborgenen sein Eigenleben begonnen. Im besten Fall offenbart sich nun eine zwingende, berückende Logik, die häufig so simpel daherkommt, dass man sich fragt, wie man es all die Jahre zuvor nicht hatte sehen können.

Manchmal enthüllt sich eine Konstruktion, die so souverän scheint, dass man sich unsicher ist: Hat man sie wirklich selber erstellt, oder vielleicht eher unbewusst kopiert, plagiiert, adaptiert? Meistens folgen gründliche Nachforschungen, um diesen Verdacht zu widerlegen. Die Verwunderung darüber, dass „plötzlich“ etwas so einfach war, was vorher so schwierig schien, ist einfach zu groß.

 

Lesen, leben, lernen. Während sich die eigene Biographie abspult, wird unablässig gesammelt und verarbeitet. Wir sammeln Erfahrungen, akkumulieren Wissen, Methoden und Handwerk aus Lektüre. Nicht zuletzt gewinnt man Schreib- und Arbeitserfahrung. Für ein Manuskript dürfte es kaum unerheblich sein, ob es das erste ist, das man verfasst, oder das vierzehnte. Wieviel, was und wie man bereits geschrieben hat – ein wichtiger Faktor, der in jede Entscheidung, in jedes Timing einfließt. Es braucht mindestens zweierlei: ein fruchtbares Zusammentreffen von herangereiftem Thema und geeignetem Zeitpunkt in der eigenen Biographie.

Aber nicht nur die Akkumulation oder die Erfahrungen sind es, die das Eigenleben der Ideen im Verborgenen beeinflussen. Sicherlich auch persönliche Entwicklung und das Lebensalter neigen uns gewissen Themen zu, die Perspektive wird eine andere, mit der man auf Sujets blickt und sie einschätzt.

Was ich der verwirrten Person, die vor zwei Jahren im Geländewagen in einem kasachischen Sumpf feststeckte, gerne sagen würde: Lehn dich zurück, iss einen deiner (zahllosen) Energy-Riegel, genieße den Sonnenuntergang. Ein Manuskript, das über Tiefe verfügt, Eigensinn und Anmut? Braucht Zeit. Braucht Eigen-Leben. Solange kann man in aller Seelenruhe auf den nächstgrößeren Traktor, einen guten Song oder besseres Wetter warten. Die nächste riptide kommt bestimmt – sogar im zentralasiatischen Steppenmeer.

Mehr als Twitteratur – Eine kurze Twitter-Literaturgeschichte

von Elias Kreuzmair & Magdalena Pflock

In der Rezension einer Susan-Sontag-Biografie konnte man letztens über  Autorinnen wie Sontag, Sylvia Plath und Virginia Woolf lesen: „Sie erlangten nicht nur Ruhm zu Lebzeiten, sondern ein echter Mythos umgibt sie fortan – mit allem, was dazugehört: ikonische Fotoporträts, Twitter-Bots, sofort wiedererkennbare Zitate, biografische Mini-Industrien, die im Schatten dieser Frauen entstanden.“

Ganz selbstverständlich stehen hier Twitter-Bots in einer Reihe mit anderen Anzeichen populärer Kanonisierung. Es ist bemerkenswert, dass hier eben nicht eine Facebook-Fanpage oder ein Instagram-Account genannt werden, sondern Twitter. Dieser Umstand deutet auf die Rolle hin, die dem  Microblogging-Dienst im literarischen Feld inzwischen zukommt. Er hat in den letzten fünfzehn Jahren verändert, was wir unter Literatur verstehen und wie der Literaturbetrieb funktioniert.

Die erste größere Aufmerksamkeit des Literaturbetriebs für Twitter verbindet sich mit dem Begriff „Twitteratur“. Prägend für den Begriff war der Band Twitterature. The World’s Greatest Books Retold Through Twitter (2009) von Alexander Aciman und Emmett Rensin, der 2011 auf deutsch erschien. Aciman und Rensin hatten einige Klassiker der Weltliteratur in Tweets übersetzt, jedoch nie auf Twitter gepostet. Um den Band entbrannte eine heftige Debatte darüber, ob denn Twitteratur nur auf Twitter stattfinden könne oder auch offline in Buchform. Es ging also darum, ob die Gattung an ihr Medium gebunden ist. Zu diesem Zeitpunkt fand der Begriff „Twitteratur” seinen Weg auch über die Grenzen des Netzwerks hinaus. Der Werbetexter Florian Meimberg gewann für seine Twittertexte 2010 den Grimme Online Award in der Kategorie „Spezial“. Ein Twitter-Lyrik-Preis wurde ausgerufen. Einer der erfolgreichsten Figuren dieser Phase, @RenateBergmann, hat inzwischen mehr als ein Dutzend Bücher bei Rowohlt veröffentlicht. Schon kurz darauf fand sich ein Eintrag zu Meimberg auch in einer Einführung in die Kurzgeschichte und verschiedene Aufsätze zur „Twitteratur“ wurden publiziert, wie etwa Twitteratur. Digitale Kürzestschreibweisen von Jan Drees und Sandra Annika Meyer.

In diesem Kontext wurde das Thema Literatur und Twitter von Feuilletons aufgegriffen und diskutiert – oft in einem kulturkritischen Ton, der sich für die Berichterstattung über Netzphänomene etabliert hat. Der Zeit-Kolumnist Harald Martenstein etwa hatte einfach nur „Angst vor der Twitteratur“ und  „regt sich über inhaltsarme Minitexte auf“, Die Welt titelte: „Twitter als Literatur – total genial oder nur banal?“. Was sich in diesen Titeln artikuliert, ist eine Frage, die Twitter immer wieder herausgefordert hat: Was erkennen wir als Literatur an? Was sind unserer Kriterien dafür, etwas als Literatur zu bestimmen? Ist, wer ein paar Witze und Sentenzen in 280 Zeichen packt, eine literarische Autor*in? Wer ein Buch beim twitteraffinen Frohmann Verlag veröffentlicht hat? Oder muss es Suhrkamp sein?

Eine zentrale Schwierigkeit bei der ästhetischen Einschätzung zeigt sich in der alltäglichen Praxis des Twitterns. Ein Account kann in einem Moment den Alltag poetisieren und im nächsten eine Eilmeldung retweeten, dann eine Reply unter einen Tweet des Sprechers der Bundesregierung schreiben und anschließend ein Haiku posten. Ab wann ist ein Account literarisch? Wenn seine Betreiber*in einen Roman veröffentlicht hat? Wenn man seinen Stil poetisch nennen würde? Wenn sie sich selbst als Kunstfigur erschafft? Oder ist mit Blick auf die Konjunktur solcher Texte jedes autofiktionale Schreiben auf Twitter auch literarisch? Und kann man so etwas wie Genrebegriffe für Twitter überhaupt gebrauchen?

Im deutschsprachigen Raum dokumentieren die erste Phase der literarischen Betätigung einige Publikationen in der Reihe „Kleine Formen“ im Frohmann Verlag.Tweetsammlungen wie Unkritische Theorie (2012) von @Wondergirl oder @blutundkaffee 2012-2016 (2017) von Ianina Ilitcheva versammeln ausgewählte Tweets und heben deren aphoristische Qualität hervor. In ihnen zeigt sich, dass Twitter eine eigene Ästhetik hervorgebracht hat, die weit über das Spiel mit den 140 beziehungsweise 280 Zeichen hinausgeht und sich in schnellen Schritten weiterentwickelt. Gekennzeichnet ist die Ästhetik durch eine vielschichtige Ironie und eine spezifische Verquickung von Alltagsbeobachtungen, Kommentar der Gegenwartskultur und autofiktionalem Schreiben. Die Kunst liegt darin, individuell genug zu schreiben, um aufzufallen, und allgemein genug, um für möglichst viele andere anschlussfähig zu sein. Für die Frühphase dieser Ästhetik liegt mit Johannes Paßmanns Die soziale Logik des Likes (2018) seit kurzem eine wissenschaftliche Analyse vor. Der Band Mindstate Malibu (2018) dokumentiert schon eine der nächsten Phase dieser Ästhetik, die einerseits – bezogen etwa auf ironische Formen – eine Fortsetzung der ersten Phase bildet und andererseits – etwa durch den Import von Ausdrücken aus Computerspielforen –  neue  Entwicklungen anstößt. Im Lauf dieser Entwicklung  hat Twitter nicht nur immer wieder unsere Wertungskategorien in Frage gestellt, sondern auch verändert, wie literarische Texte aussehen.

Das zeigt sich auch in Texten jenseits der Plattform. Jennifer Egans Black Box (2012, dt. 2013), ein Agentinnen-Thriller im Tweet-Format, kann in dieser Hinsicht als Grenzfall gelten: Egan, die selbst nicht aktiv twittert, hat für diesen Text Twitter als Konzept aufgenommen, indem sie ihren Text in kurze Abschnitte unterteilt hat und sich immer wieder auf die Form des Aphorismus bezieht. Der Text wurde vom New Yorker zunächst in einzelnen Tweets veröffentlicht und später auch im gedruckten Magazin publiziert. Ganz ohne die Veröffentlichung auf Twitter kommen andere Texte aus: Der Roman Lookalikes (2012) von Thomas Meinecke etwa, der kürzlich in einem literaturwissenschaftlichen Call for Papers als „Twitter-Roman“ bezeichnet wurde. Auch Romane wie Sibylle Bergs GRM (2019) oder Joshua Groß’ Flexen in Miami (2020) zehren auf ganz unterschiedliche Weise von der Erfahrung des Twitterns.

Noch radikaler provozieren Twitter-Bots die Frage nach dem Literaturbegriff: In einer Art uncreative writing (Kenneth Goldsmith) produzieren sie aus vorhandenem Textmaterial neue Tweets. Grundlage können literarische Texte wie Joyces Ulysses, der erste Satz von Prousts Recherche, bestimmte formelhafte Formulierungen oder auch Kochrezepte sein. Der @Sosweetbot wiederum retweetet Variationen auf William Carlos Williams Gedicht „This Is Just To Say“ und andere schmuggeln Zitate von Goethe, Blanchot oder Austen in die Timelines. Unübertroffen ist der @Pentametron, der die Silben von Tweets zählt und aus ihnen ein unendliches Gedicht im Pentameter schreibt. Beim Blick auf die Bots verdichten sich die Fragen, die schon in den „Twitteratur“-Diskussionen gestellt wurden: Ist das Literatur? Oder: Ab wann ist das Literatur? Kann man einem Bot, der stur Abschnitt um Abschnitt aus dem Moby Dick postet, literarische Autorschaft zuschreiben? Oder seiner Programmier*in? Handelt es sich um eigenständige literarische Texte?

Twitter fordert  jedoch nicht nur unseren Literaturbegriff heraus, sondern stößt auch eine neue Literaturpolitik an. Der Microblogging-Dienst zeichnet sich unter anderem durch die Sensibilisierung für Positionen jenseits des eigenen Blickwinkels aus.  Daraus entstehen neue Kollaborationen. Das Netzwerk bietet etwa eine Plattform für Indie-Verlage wie Frohmann, Herzstück, oder mikrotext. Hier treffen sich Lesende, Schreibende und Verlegende auf Augenhöhe, was vielfältige Wechselwirkungen zur Folge haben kann. Diese Verlage bringen Stimmen  von @sei_riots bis @sibelschick zu Gehör, die im white old Literaturbetrieb nicht vorkommen.

Auf einer andere Ebene verfolgen Hashtags wie #frauenlesen und #vorschauenzählen einen ähnlichen Zweck. Thema ist die Überrepräsentation von Männern im Literaturbetrieb. Unter #frauenlesen werden Leseempfehlungen von Autorinnen gesammelt und die eigene Lektüre von Autorinnen besprochen. Dadurch entwickelt sich ein Netzwerk, das stark von Lesenden geprägt ist und sich für Vielfalt im Bücherregal und im literarischen Kanon stark macht. #vorschauenzählen koordiniert das gemeinsame Auszählen der Verlagsvorschauen, um das dort oft herrschende Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern abzubilden.

Diese Kampagnen finden ihren Weg ins traditionelle Feuilleton. Tweets und Hashtag-Kampagnen sind oft der Anstoß, der den diskursiven Stein ins Rollen bringt. Auf Twitter stehen dem autonomieästhetisch denkenden Literaturbetrieb Verfechter*innen einer politischen Ästhetik gegenüber. Kollaborative Projekte werden gegen Autor*innengenies gesetzt: Im Frohmann-Verlag zum Beispiel erscheint der Sammelband #1000Todeschreiben als Gemeinschaftsprojekt vieler auch unbekannter Schreibender, die Literaturzeitschrift mischen sammelt Texte verschiedener Twitterautor*innen. Durch ständiges schreiben, gegenlesen, kommentieren und wieder schreiben, entwickelt sich die Twitterästhetik schnell weiter. Diese meist überheblichen Schreibweisen der Kritik werden über Memes und Tweet-Schablonen, über das sich übertrumpfende Schreiben mit- und gegeneinander und als Insider oder Running-Gags kontinuierlich in das Schreiben eingebunden weiterentwickelt und prägen maßgeblich die Ästhetik.

Die unterschiedlichen Stimmen auf Twitter erweitern den männlich geprägten Blick der Literaturkritik. Hashtags wie #dichterdran  thematisieren dieses Ungleichgewicht. Unter dem Hashtag finden sich Tweets, die männliche Autoren so beschreiben, wie Literaturkritiker Autorinnen und ihre Texte beschreiben: Reich geschmückt mit Adjektiven und auf Äußerlichkeiten fixiert, häufig werden Parallelen zu Figuren hergestellt. Aus der überspitzten Literaturkritikkritik entstand sogar ein Buch (Hemingways sexy Beine #dichterdran).

2019 ging der Literaturnobelpreis an Peter Handke, über dessen Jugoslawien-Texte sich eine Diskussion entwickelte. Thematisiert wurde die Trennung von Autor und Werk, Geschichtsrevisionismus und die Leugnung eines Genozids und Political Correctness. Auch hier war Twitter ein zentraler Schauplatz. Besonders der Schriftsteller Saša Stanišić sprach sich auf Twitter gegen die Verleihung des Preises aus und verschaffte dem Thema Aufmerksamkeit. Der Streit brachte sogar ein Meme hervor: „Ich komme von Tolstoi, ich komme von Homer, ich komme von Cervantes“, sagte Handke in Reaktion auf die Kritik. Es entwickelte sich ein Meme, das so „bubbleübergreifend“ und langlebig ist wie selten eines zuvor

Thomas Melle schrieb im Feuilleton der FAZ angeekelt von „Clowns auf Hetzjagd“ und bewies damit einmal mehr, dass das traditionelle Feuilleton sich weiterhin schwer tut mit der schnellen und offenen Debatte auf Twitter, die eigene Regeln entwickelt hat, zurechtzukommen.

Ein aktuelleres Beispiel ist die Debatte über die Biografie Woody Allens. Rowohlt Autor*innen wehrten sich in Deutschland mit einem Offenen Brief gegen die Veröffentlichung. Sie verlangen ausdrücklich eine aktive Beteiligung Rowohlts zur Klärung der Vorwürfe gegen den Autor.

Zwischen Feuilleton und Twitter ist ein Spannungsverhältnis zu beobachten, das die Zeit in einem Kommentar als „Elfenbeinturm gegen Kommentarkloake“ beschrieben hat. Bei nüchterner Betrachtung handelt es sich jedoch vielmehr um eine Hassliebe, die sich auf der einen Seite durch extreme Gegenpositionen und auf der anderen durch wechselseitige Bezugnahme auszeichnet – ein Spiel um Deutungshoheit. Diese führt nicht zuletzt dazu, dass nicht nur Feuilleton-Autor*innen auf Twitter auftauchen, sondern Twitter-Autor*innen im Feuilleton.

Dass Twitter in all diesen Feldern eine wichtigere Rolle spielt als andere digitale soziale Netzwerke, mag an der demographischen Zusammensetzung liegen. Oft haben Twitter-Nutzer*innen einen akademischen Hintergrund, häufig scheinen auch schreibende Berufe wie Werbetexter*innen, Journalist*innen vertreten zu sein. Zudem ist Twitter wesentlich textbasiert – trotz all der Möglichkeiten multimedialer Einbindung. Dies sind die Voraussetzungen der vielfältigen Wirksamkeit des sozialen Netzwerks. Es fordert Autor*innen, Literaturkritik und Literaturwissenschaften heraus, drängt sie zum Neudenken und leistet einen nicht zu unterschätzenden Beitrag, wenn es um die Vielfalt von Stimmen im Literaturbetrieb geht. Es begünstigt ästhetische Innovationen, führt zur Reflexion der eigenen Wertungskriterien und provoziert immer wieder die Frage, was Literatur überhaupt ist. Twitter hat das literarische Leben grundlegend verändert – mehr als Facebook, Instagram oder Snapchat.

 

 

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