Die Hausaussuchung in Lenggries
Die arkadischen Phantasien der Stadtbevölkerung weisen, wenn nicht in den völligen Fiktionsraum, so doch in der Zeit nach hinten, und sind in Bezug auf die Realität des Vorgestellten höchst zweifelhaft. Die topische Vorstellung vom holden Schäferleben ignoriert alles, was am Landleben harte Arbeit ist; was dem gegenüber gesetzt wird, würde man heute vielleicht mit der trivialisierten Schwundstufe des Wortes „romantisch“ umschreiben. Zum Klang der Laute segeln die gebratenen Tauben in den Hals, an den sich die seidenweichen Hände der Schäferin schmiegen, und so besteht die Hauptbeschäftigung dieser Paare (Daphnis und Cloé, Amoena und Amandus, Damon und Lisille, Lysis und Charite, Astrée und Céladon, Adonis und Rosibella, und wie sie alle heißen) hauptsächlich in Liebeshändeln. Die Diskrepanz von Hirtenleben und Schäferdichtung ist, kurz gesagt, schreiend, und eine lange Erklärung alldessen scheint kaum nötig. Allerdings bemerkenswert scheint mir, dass auch solche Dichtungen, vornehmlich aus dem 16. bis 18. Jahrhundert, obwohl sie heutigen Lesern vermutlich schnell als rosafarben, pathetisch und blumig erscheinen mögen, kein geringes kritisches Potential freisetzen. Der größte gemeinsame Nenner ist hier die Kritik am Urbanen, Dekadenten und Zivilisatorischen, die aus der bloßen Verlegung in den utopischen Naturraum entsteht; die überaus scharfen Augen eines Christian Felix Weiße können dann die Steigerung sein. Die Dichter der Eklogen sind Städter: das erklärt ihre Wirklichkeitsferne ebenso wie ihre Kritikfähigkeit.
Die bayrische Volksdichtung und -musik kennt indessen eine arkadisch zu nennende Urszene und Konfliktsituation, die sich hinsichtlich der künstlerisch in ihr aktiven Trägerschicht, und dadurch auch in Bezug auf den Realismus des Arkadien stark von den klassischen Schäferdichtungen unterscheidet: die Geschichte von Wilderer und Jäger. Ihre Wirklichkeit und weitgehend deckungsgleich ihre dichterische Verarbeitung findet zwar im Oberland, in den Tälern und Gipfeln des nördlichen Alpenrandes statt, aber zumindest räumlich bis München und zeitlich bis heute erfüllt diese Geschichte die Funktion arkadischer Dichtung. Diese „arkadische Funktion“, wie ich sie verstehe, besteht in der Suggestion eines unangetasteten Naturraums und der in ihm möglichen menschlichen Freiheit und Selbstbestimmung. Verbunden wird dies mit einem kritischen Impuls, der mit großer Allgemeinheit und pointierter Deutlichkeit zugleich in die jeweilige Gegenwart des urbanen, zumindest unarkadischen Lesers oder Hörers vordringt (1). Die Konstellation „Wilderer gegen Jäger“ ist nun sicherlich stärker und v.a. zeitlich näher aus einer Realität gezogen als die Eklogen des Goldenen Zeitalters – aber jene Funktion erfüllt sie doch, gerade weil sie dramaturgisch einfach ist. Der freie, weil zur Knechtschaft nicht bereite, kräftige, schlaue, treusorgende Wilderer übertölpelt ein ums andere Mal den hörigen, knechtsgeistigen, strohdummen Jäger, und ernährt so die notleidende Familie. Oder aber er wird hinterrücks und/oder grausam vom Jäger niedergestreckt: die tragische Kehrseite, die deutlicher, aber ähnlich von diesem Thema sprechen kann, nun in der Färbung: Unterdrückung, Gewalt, Verrat etc.
Gewiss wächst diese Urszene aus einem herben Leid. Aber die erdichtete Freiheit war gewiss zu manchen Zeiten so surreal nicht, und die Verspottung der Jäger ist nicht nur Verspottung, sondern auch kaum verhohlene Anklage. Mit dem Realismus wächst immer auch die konkrete Kritikfähigkeit an den Realien. Die grundlegende und hier in Frage stehende Realie ist der Versuch, das ex specie unkontrollierbare Bergland den Gesetzen des Territorialstaates (der immer ein Flachlandstaat ist) zu unterwerfen.
Der Kontrollfuror des Staates geht im Gebirge dieser Konstellation zu Grunde und/oder wird absurd, vergeblich, gewalttätig: eine Wirkung, die wiederum den Wilderer hervorbringt, plausibilisiert und triumphieren lässt, wenn auch bei schmaler Kost und sämtlicher Unbill der gebirgigen Landschaft. Dass dennoch arkadische Potential für uns kommt nicht zuletzt daher, dass die Figuren und ihre Konstellation der Zeit unterlegen ist. Der zivilisatorische Grad und (ebenfalls) Furor Europas nach dem Zweiten Weltkrieg hat eben jenes Arkadien vernichtet, erschlossen, um es polemisch zuzuspitzen: asphaltiert. Aber in anderen Gegenden der Welt wiederholt sich unter unseren Augen die Konstellation weiterhin, und wir beobachten den wiederholten Versuch, sie unmöglich zu machen (zu asphaltieren), aufgebläht und bestialisiert in den Dimensionen des Krieges – und dennoch zum Scheitern verurteilt.
Um genauer auszuführen und am Beispiel zu zeigen, was bis jetzt angeschnitten wurde, möchte ich ein bayrisches Volkslied, namentlich „Die Hausaussuchung in Lenggries“, unter dem Neigungswinkel des momentanen Afghanistankrieges, in dem auch die deutsche Bundeswehr Krieg (2) führt, interpretieren. Ich hoffe, dass sich durch die Öffnung dieses aktualisierenden Assoziationsraumes weite Strecken der expliziten Umlegung auf Afghanistan von selbst verstehen werden.
Das Lied „Die Hausaussuchung in Lenggries“ wurde nach Auskunft des Volksmusikarchivs des Bezirks Oberbayern (3) erstmals am 7. Juni 1929 dokumentiert und vom Bauern Riesch, genannt Vordergraber, aus Lenggries erdacht, der damit beim Preissingen von Egern am Tegernsee 1930 die Jäger gehörig ärgerte. Ohne die Verdienste des Volksmusikarchivs in Abrede zu stellen, muss gesagt werden, dass die Umschrift des Lieds (4) im Dialekt ohne Rückgriff auf minutiöse, exakte Lautschrift den Ton nicht nach allen Möglichkeiten des Standardalphabets trifft. Ein möglicher Grund könnte sein, dass versucht wurde, den Text nah am Schrift-, bzw. Standarddeutschen zu halten, um überregionale Verständlichkeit wenigstens ansatzweise zu gewährleisten. Unter dem Einfluss der Dialektgedichte H.C. Artmanns und ihrer kongenialen Graphie (5) werde ich versuchen, dem Klang nach Möglichkeit des deutschen Standardalphabets nahe zu kommen, sowie eine schrecklich trockene Prosaübersetzung ins Standarddeutsche vorzulegen (6), die nur das überregionale Verständnis zum Zweck hat; so wird dem Text vielleicht die nötige, doppelte Ehre erwiesen werden können. Meine Textgrundlage orientiert sich hier in Lautung und Textbestand vornehmlich an der gesungenen Version des Kraudn Sepp (7), dessen Interpretation des Liedes als unschätzbares Tondokument auf der Doppel-CD Sonntag veröffentlicht wurde.
Die Hausaussuchung in Lenggries
I Die Gemeinde Lengeriss, de ischo lengst verfluacht,
drum hamms hoid ezz im ganzn Strich de Heisa oi ausgsuacht.
Und zweng da Bix und zwengam Fleisch, do stirmans ganze Haus,
und wenn’s a Hiaschhaud finden dadn, de schlogadns a ned aus.
II Von Foi do san de Jaga dokwen und vonda voidan Riss,
von Jachenau und Woiasä, dessejwe woas i gwies.
Die Rott besteht aus einem Heer von zirka achzenn Mann
Un via Schandahm warn a dabei ois Deppadazion.
III Schlossa, Schandahm, Jagasknecht, die sicht ma oi spazzian,
und oana hod an Schreiwa gmacht, dea duad de Lischdn fian.
Und wos i sonst no gsecha ho, do hon’i heazzli glacht:
Da Gmoadeana warra dabei, dea hod an Pudl gmacht.
IV Da Foastwahd hod zurra Jaga gsogt, mit dia honi wos zren,
du bist ja woi a gscheida Mo, muast mit nach Lengriss gehn.
Do suachma’r’uns an Stuzzn raus, den schenstn, der uns gfoid,
middi meinin hon i d’voarigs Jahr de Schuidn oisam zoid.
V Beim Marta hods an Groda do, do hamms a Flinte griagt,
sie sogn, wenn des a so fuad gehd, so samma woi vagniagt.
Da Sepp wiafts grod beim Fensta naus, oids Eisn hoda gnua,
un’d’Jaga ham grod Hausfisit und kemma grod dazua.
VI Beim Wendl’r’isa Wendda vom Diroiakriag no do,
do hengan de Roschbazzn dro, dessejwe woast ahso.
Auf de ham d’Luada Brazzn gmacht, se moan glei wos do ham,
na gennas ibad Henna’r’neschda’r’aufn Tenneran.
VII Beim Ofna’r’is am schenstn gwen, do schpillns a guade Roin,
des lassma’r’ez in d’Zeidung doa, do hams a Bruadhenn gstoin.
Sie sogn des is an Auaho, den habz es holla gmacht
Und zwengam Wildbratschiassn seiz lengst scho in Vadacht.
VIII Beim Herda hams da Uschl an Bugl visidiert,
doch d’Uschl sogt voa laudta Zorn: „Fir desmoi seiz blamiert!
Mei Bugl is koa Koita ned, da habz enk richti brennt,
ez habts ja Bix an Hendn ghabt und habs ez gor ned kennt.“
IX Beim Hoisn suachas kloaweis aus, do hiadns a Wildfleisch meng,
doch d’Hoisin sogt: „Wanns sonst nix is, do is ma nix dro glegn.
Von Orsch kenntz enk oans obaschnein, do habz es Wuidfleisch gnua,
do kinnz enk essn oisam satt, aba sischt lassts mia mei Rua.“
X Midn Wildfleisch warns hoid a ned zfrien, se mechtn liawara Bix.
Se stirman noch das ganze Haus, aba finden deans hoid nix.
Das ganze Haus is finsta gwen vo laudda Jagasknecht,
an jedn hod mas guad okennt, dass er a Flinte mecht.
XI Und mit lauda Suacha, do kemmans auf’d’Durdlmei,
Se stirman noch das ganze Haus, aba finden deans ned vei.
Doch endlich genann d’Hiaschgwei her, do machas Dappa drauf,
de gems na glei an Wacka Karl, der setzt die Hörner auf.
XII Jezz kemmans in das Dorf hinein, do hoidns oisam Rat:
“Beim Wewa Marta miass ma’r’ano schaugn, wo da Sepp sein Schduzzn hod!“
Se sprengan eam glei an Kastn auf und dean eam s’Gwand durchstiern,
und dean eam glei an Krobbelnschnaps un’d’Epfe oi ausfian.
XIII Jezz machas dann dem Suacha, dera Gaudi boid an End,
wei an Wacka Karl un’d’Jagasknecht ah so a jeda kennt.
Dass desmoi goa nix gfundn ham, des is hoid gor ned rar,
wenns Kuahfleisch, d’Epfe und da Schnaps ned war, so gangans desmoi laar.
XIV Un’d’Schizzn dean den seibin Dog auf Gamsaln ummajogn,
drum kennans hoid im ganzn Strich koa Zwillingbix dafrogn.
Denn jeda hods hoid sejm dabei, es will ja grod so sei,
aba d’Jaga, de san ned so schlauch, des foid eana goarned ei.
XV Und d’Jaga hams Haus ausgsuacht,
de ham se draud,
ham da Muada sein Stoikiddl
fira Hiaschhaud ogschaugt.
Die Razzia (8) von Lenggries
I Die Gemeinde Lenggries wird schon lange von einem Fluch heimgesucht und deshalb sind jetzt im ganzen Tal alle Häuser bei einer großen Razzia durchsucht worden. Um Gewehre oder Fleisch zu finden wird Haus um Haus gestürmt, und wenn sie [sc. die Jäger] reine Hirschhaut finden würden, würden sie sie auch nicht ausschlagen.
II Die Jäger kamen aus Fall und Vorderriß, aus Jachenau und vom Walchensee, das weiß ich ganz sicher. Das Durchsuchungskommando besteht aus einem Heer von circa achtzehn Mann, und vier Gendarmen nahmen als weitere Deputation teil
III Schlosser, Gendarmen und Jäger sieht man herankommen, und einer von ihnen ist gelernter Schreiber und mit der Schriftführung beauftragt. Und was ich sonst noch gesehen habe, hat mich herzlich zum Lachen gebracht: der Gemeindediener war auch dabei und hat sich diesen Leuten niederträchtig angebiedert.
IV Der Forstwart hat zu einem Jäger gesagt: „Ich muss mit der reden. Du bist sicherlich ein verständiger Mann, und musst mit nach Lenggries kommen. Da suchen wir uns das Gewehr raus, das uns am besten gefällt, denn ich musste mein Gewehr letztes Jahr versetzen, um meine Schulden zu bezahlen.“
V Beim Marda sind die Jäger gleich einen großen Schritt vorangekommen und haben ein Gewehr gefunden. Sie sagen sich: wenn das so weitergeht, dann wird es ein Vergnügen für uns. Der Sepp wirft sein Gewehr gerade zum Fenster hinaus, altes Eisen hat er ausreichend, und die Jäger haben gerade Hausvisite und kommen gerade dazu.
VI Beim Wendla ist noch ein altes Gewehr aus dem Tirolerkrieg, das schon völlig verrostet ist, wie man es sich denken kann. Danach haben diese Hunde gleich ihre Hände ausgestreckt, und meinen gleich, Wunder was sie da gefunden haben, und marschieren über die Hühnernester hinweg in die Tenne.
VII Beim Ofna war es am schönsten, da haben sie ihre Rolle gut gespielt. Wir werden dafür sorgen, dass in der Zeitung gemeldet wird, dass die Jäger dort eine Bruthenne gestohlen wird. Sie aber sagen, dass das ein Auerhahn sei, den wir als Bruthenne ausgeben wollten, und dass wir schon längst im Verdacht der Wilderei stehen würden.
VIII Beim Heada haben sie der Uschl den Buckel abgeklopft und untersucht, aber die Uschl sagt in einem Zornesanfall: „Jetzt habt ihr euch wirklich blamiert! Mein Buckel ist kein Schrank, da habt ihr euch kräftig geirrt. Ihr habt ja schon Gewehre in der Hand gehabt, und habt sie nicht einmal erkannt.“
IX Beim Hoisn durchsuchen sie alles ganz sorgfältig, denn sie hätten gerne Wildfleisch gefunden, aber die Hoisin [sc. die Dame des Hauses] sagt: „Wenn weiter nichts ist, ist es mir durchaus gleichgültig. Ihr könnt euch Fleisch vom Arsch schneiden, da habt ihr genug Wildfleisch, da könnt ihr euch alle satt essen und mich in Ruhe lassen.
X Aber mit dem Wildfleisch waren die Jäger nicht zufrieden, sie würden lieber Gewehre finden. Sie stürmen und durchsuchen das ganze Haus, aber können doch nichts finden. Im ganzen Haus wurde es dunkel, so viele Jäger waren da, und jedem konnte man an der Nase ablesen, dass er gerne ein Gewehr haben würde.
XI Im Zuge der Razzia, da kommen sie auch zur Mühle. Sie stürmen und durchsuchen das ganze Haus, aber können doch nichts finden. Aber endlich können sie einige Hirschgeweihe ergattern, nach denen strecken sie sofort ihre dreckigen Finger aus, und geben sie sofort an Karl Wacker weiter, der die Hörner aufsetzt.
XII Jetzt kommen sie in das Dorf hinein, dort beratschlagen sie: „Beim Weber Marta müssen wir auch noch nachsehen, wo der Sepp sein Gewehr versteckt hat.“ Sie brechen ihm sofort den Schrank auf und durchwühlen alle seine Kleider, und stehlen ihm schließlich Schnaps und Äpfel.
XIII Jetzt kommen sie allmählich mit dem Suchen, diesem Spaß, an ein Ende, weil den Karl Wacker und die Jäger im Dorf sowieso jeder kennt. Und dass sie rein gar nichts gefunden haben, das ist keine Seltenheit, und wenn Kuhfleisch, Äpfel und Schnaps nicht gewesen wären, so wären sie ganz leer ausgegangen.
XIV Die Wilderer sind an diesem Tag auf die Jagd nach Gämsen gegangen, deshalb konnten die Jäger im ganzen Tal kein Gewehr ausfindig machen. Denn jeder Wilderer hat sein Gewehr dabei, es kann ja gar nicht anders sein, aber die Jäger sind nicht schlau genug, als dass ihnen das einfallen würde.
XV Und die Jäger haben es gewagt, eine Razzia zu veranstalten, und haben gedacht, dass der Stallkittel der Mutter eine Hirschhaut wäre.
Das Gedicht ist natürlich, wie auch meine anschließenden Überlegungen, ganz aus der Perspektive der Bergbauern verfasst. Zudem kommen mildernde Umstände wie Unwissenheit, Dummheit, niederträchtige oder noch unwissendere Befehlshaber, Ungeschicklichkeit, Unerfahrenheit für die Jäger (zu Recht) nicht in Betracht, auch deren eigene Armut nicht, die das Gedicht implizit durchaus zu Verstehen gibt. Die Punkte, die aber aus dieser Perspektive benannt und angeklagt werden, gelangen zu einem karikaturistischen Detail und einer poetischen Aussagekraft, die weit mehr bezeichnet als nur Lenggries an jenem Tag. Jede Karikatur ist die Steigerung eines bestimmten Wesenszugs und somit eine Abstraktion unter diesem Gesichtspunkt. In jedem Detail wird die Grundkonstellation des Konflikts mit einer Unmittelbarkeit und Treffsicherheit aufgefaltet, dass das Gedicht über alle solchen Konstellation zu sprechen beginnt: Eine Razzia, die Fremde durchführen, zumal im Gebirge. Im Gebirge wird die Fremdheit räumlich eng, durch die schiere Kleinteiligkeit und Riesenerstreckung des Geländes. Ein Jäger aus München ist beispielsweise in den Bergen um Lenggries erst einmal genauso fremd wie in den Bergen um Kundus. Mit einem Blick darauf, woher die Jäger anrücken, zeigt sich erst, wie wenig es braucht, um jenes im Gedicht offenkundig gemachte Orientierungsgefälle signifikant werden zu lassen; die Jäger kommen aus Fall und Jachenau, vom Walchensee und aus Vorderriß, also aus Orten die südlich von Lenggries gelegen sind, noch weiter im Gebirge (9).
Die Polizeiaufgaben, die der Jäger im Gebirge zu übernehmen hat, sind durch jene Fremde nicht von jener (ebenerdigen) Zivilgesellschaft kontrollierbar, die ihn losgeschickt hat; ein Kennzeichen der militärischen Operation. Von seiner ungewohnten, freigestellten Willkür in die Enge getrieben findet sich der Jäger im Tal, und die Burg und Freiheit des Bergbauern wird seine Klaustrophobie, in der er fast notwendig falsch handeln muss. Dass er, zusätzlich angeheizt durch diese Phantasie der eigenen Unkontrollierbarkeit (10), auch eigene handfeste Interessen mitbringt, macht die Sache noch schlimmer. Den unkontrollierbaren Raum des Gebirges durch Exekutivgewalt maßregeln und kontrollieren zu wollen (als ob es keine anderen Mittel gäbe), ist der erste Schritt ins Desaster; dass der Kontrolleur selbst in diesen Raum eintaucht und unkontrollierbar wird, ist das Desaster selbst. Der satirisch-humorige Ton des Gedichtes quillt spätestens bei dieser Erkenntnis von Bitterkeit über: es gilt Gesang gegen Gewalt.
Die Gesetzesordnung, eine Ruhe, die, mit Wilhelm Heinse zu reden, auch in Kerkern herrscht, und die inszeniert werden soll, wie es im Gedicht angelegt ist, ist von genau der kontraintuitiven Abstraktion jeglicher Landesherrlichkeit, und folgt dem alten Muster: Meine Impotenz soll deine Tugend sein, meine Dürftigkeit deine Pflicht. Über Sinn und Unsinn des Verbots der Wilderei unter gegeben Umständen braucht hier nicht viel gesagt werden; mit einiger Wahrscheinlichkeit würden sich die Fronten hier wohl auf den Punkten verhärten, dass einerseits Gämsen und Wälder niemandem gehören und Jagdprivilegien so unhaltbar sind wie das feudale System, aus dem sie abgeleitet werden, und dass andererseits erfahrungsgemäß Allmende ein anderes Wort für die Vernichtung der betreffenden Ressource ist. Von einer heiligenden Wirkung des Zwecks kann in jedem Falle keine Rede sein. Welchen Stand das nun auch immer hat, was von den Jägern im vorliegenden Gedicht durchgesetzt werden soll, die Maßnahme der Durchsetzung selbst liefert die besten Gegenargumente: eingesponnen in die (das zu sagen sollte keine noch so scheinbar sachliche Erörterung versäumen) wunderbare Bildsprache und Theatralik des Gedichts.
Was als erstes ins Auge springt, und unter dem Thema der Kontrolle bereits anklang, ist der offene Eigennutz, mit dem die Jäger vorgehen, konfiszieren, stehlen (vgl. v.a. IV, XII, im Grunde: passim). Besonders die Gewehre sollen beschlagnahmt werden – weil die Jäger selbst keine haben, gerne hätten oder verkaufen wollen. Im Zuge dieser harten, merkantilen Interessen ist auf den mitgeführten Schriftführer gewiss kein Verlass; der Gemeindediener tut einfach mit, und sein Haus wird gewiss nicht durchsucht. Mit diesem Grundzug der gesamten Maßnahme einher geht zudem die Beliebigkeit und Willkür, mit der gesucht wird (vgl. I). Die Jäger wissen nicht, was sie finden werden, und scheinen nicht einmal sicher zu wissen, was sie exakt suchen sollen: ob nun z.B. Hirschhäute in ihr Aufgabengebiet fallen, oder nicht. Hier bahnt sich das Problem aller Kriegsführung im Gebirge, zumal gegen Nicht-Uniformierte, an: ein Informationsproblem, bzw. -gefälle. Das klingt trivial und ist es auch, aber das Gedicht zeigt, welche Fäden sich aus dieser trivialen Sachlage ziehen. Fortan determiniert das Informationsgefälle die ganze Konstellation. Es beginnt schon damit, dass die Wilderer längst wissen, dass woher und wie viele Jäger anrücken, bevor diese überhaupt das Dorf erreicht haben (II, III). Schon jetzt ist die Razzia zum Scheitern verurteilt: wer von außen ins Gebirge oder auch nur in ein bestimmtes Tal kommt, kann niemals das Moment der Überraschung auf seiner Seite haben. Lenggries wurde 1924 an das Netz der Bayrischen Oberlandbahn angeschlossen, ist aber noch heute südliche Endstation (11). Der Eindringling ist immer langsamer, und wenn er nicht langsamer ist als die Bergbewohner selbst, ist er doch langsamer als eine Zeichensprache, die sich im Gebirge entwickelt hat. Was das lachende lyrische Ich weiß (III), weiß wenig später sicherlich das ganze Dorf.
Daraus folgt die Zufälligkeit des Fundes (V), die die weitere Suche zudem auf unsichere Prämissen stellt. Wird dann weiter gesucht, verdreht der Jäger, um seinen Eigennutz durchzusetzen und sein Gesicht nicht vollständig und schlagartig zu verlieren, das Recht, stempelt seinen Irrtum, bzw. seinen Diebstahl zu einem kriminalistischen Befund, und verfällt in unerträgliche Selbstherrlichkeit. Auf das Eigentum der Einwohner wird keine Rücksicht genommen (VI) und der Verdacht auf das eine wird zum beweisführenden Indiz für etwas ganz anderes (VII). Nun zeigt sich die andere Seite der Medaille: wie die Razzia von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist, ist sie auch von Anfang an erfolgreich. Alles, was gefunden wird, ist ein Indiz für die Vermutung, die sich nicht bestätigen lässt, schon gar nicht in flagranti. Cum grano salis ist Lenggries ex definitionem ein Räubernest. Diese Information war gleichsam im Befehl zur Razzia schon inbegriffen. Wenn sich dann nichts finden lässt: umso schlimmer für die Wirklichkeit. So werden die Jäger im Dorf zu Wilderern, sie stehlen Lebens- und Genussmittel (XII, XIII) und zerstören (bewusst oder unbewusst) die Hühnernester (VI); wie es bei Mos Def heißt: „You can’t tell between the cops and the robbers.“(12)
Ein zweites Informationsgefälle nach dem des Ortes ist das der Gegebenheiten, der Situation vorort. Die Jäger scheinen gar nicht zu wissen, was für Gewehre die Wilderer haben, bzw. sie vergessen es gerne, und gehen so auf die veralteten Büchsen los, die durch ihr Alter Schmuck- und Memorialwert besitzen; das Gewehr aus dem Tirolerkrieg (VI) muss vom Beginn des 19. Jahrhunderts stammen. Was das Gewehr als Erbstück für den Besitzer bedeutet, ist kaum zu ermessen und kaum zu überschätzen. Man könnte sagen, dass, wenn solche Gegenstände nach Gutdünken (13) beschlagnahmt werden, eine psychologische Kriegsführung nicht aus Kalkül, sondern aus schierer Unwissenheit beginnt. Aus einer Unwissenheit resultiert auch, dass die Unschuldigen und Unbeteiligten auf eine Stufe mit den eigentlich Gesuchten gestellt werden, und ihre Häuser mit ebender Schärfe, bzw. überhaupt durchsucht werden. Dass sich so der heute oft genannte „Rückhalt in der Bevölkerung“ nicht herstellen lässt, leuchtet ein, und dass es nicht anders geht, ebenso. Das Gedicht lässt nicht aus, darzustellen, dass dieses Vorgehen besonders die Frauen trifft (VIII, IX).
Die eigentlich Gesuchten, die Männer und Wilderer, sind ja längst nicht mehr im Dorf: das ist die überwältigend offensichtliche und spottreiche Pointe der Schlussstrophe vor dem Abgesang. Die Jäger kommen ins Dorf, um die Wilderer samt ihrer Ausrüstung festzunehmen, aber diese gehen an jenem längst vorausgewussten Tag mit aller Selbstverständlichkeit zum Wildern auf die Gipfel. „Es will ja grod so sei.“ Auch der Abzug der Jäger wird sich, wie der Einzug, unter den Augen der Wilderer vollziehen, die selbst nicht sichtbar sind. Gebirge und Wald sind nur in eine Richtung übersichtlich (wie heutzutage eine Stadt, das versteht sich von selbst).
Eine grundsätzliche Pointe des Gedichtes, die als der reine Spott und als das Karikaturistische der Darstellung den Text durchzieht, möchte ich betonen und ernst nehmen: dass die Jäger grundsätzlich dumm, unwissend sind. Das heißt, dass einige der Ungerechtigkeiten, bzw. der Vorgänge, die den Bergbauern mit vollem Recht als Ungerechtigkeiten erscheinen, nur wenig und vielleicht sogar überhaupt nicht an die Einstellung, Integrität oder Gerechtigkeitsempfindung der Jäger gekoppelt sind. Sie resultieren meist aus dem Informationsgefälle, der Stresssituation, und der Ahnungslosigkeit, wie sie der Abgesang (XV) konzentriert. In einem solchen Gebirge, in einer solchen Konstellation lässt sich nicht sinnvoll staatliche Kontrolle etablieren. Wie gut der Wille ist, tut dann nichts zur Sache. Das ist auch im Afghanistankonflikt der Fall, die Gebirgsjäger sind eine im Feld stehende Einheit. Selbst die gutwilligste Interpretation dieses Krieges als humanitärer Einsatz vergeht hier. Gewiss mag es als eine bittere Pille erscheinen, in diese Situation, die aus unsrer soziokulturellen Warte untragbar aus den verschiedensten Gründen erscheint, nicht einzugreifen, mehr noch: unsere Unfähigkeit zum sinnvollen Eingriff einzugestehen. Aber dieser Krieg zeigt nicht den gewollten Effekt, und verbessert die Situation nicht. Kürzt man die Gleichung, könnte man sagen, dass die einzige Entwicklung, die dieser Krieg hervorbringt, die Perpetuierung dieses Krieges selbst ist. Die bittere Pille ist also zu schlucken, denn was ansonsten der betroffenen Zivilbevölkerung zu schlucken gegeben wird, ist mehr als jene Metapher und jene Ausformung der Psyche.
Was ist das Ende vom Lied, was das Ergebnis der Hausaussuchung in Lenggries? Der trockene Realismus des Gedichts erlaubt ein recht klares Fazit: Die Jäger sind ihrem offiziellen, aufgeblendeten Ziel nicht bedeutend näher gekommen, und wenn sie die eine gefundene Flinte versilbern wollen, wie es ihre inoffizielle Zielsetzung erfordern würde, müssen sie in der Dienstelle sogar angeben: gar nicht. Und das Gedicht zeigt im Abgesang, dass sich die Bevölkerung von Lenggries noch duldsam, nur spöttisch verhalten hat, und nicht zur Gegenwehr übergegangen ist, was ja ein relativ Leichtes wäre(14). „De ham se draud“ : Wie dünn die Schicht dieser Duldung ist, könnte nicht besser ausgedrückt werden. Für die Bergbauern ist die Lage nur schlimmer geworden, mit völliger Ausschließlichkeit. Das gestohlene Essen werden sie ersetzen müssen – indem sie weiter wildern. Eine gestohlene Bruthenne und zertretene Nester: ich kann mir keine kräftigeren Bilder denken für die Tatsache, dass die Staatsgewalt, die Wilderei unterbinden will, durch den Akt der Unterbindung zur Wilderei zwingt.
Eine sinnlosere Demonstration von Staatsgewalt lässt sich nicht denken: alles, was einen Schritt weiter geht, ist offener Krieg von Uniformierten gegen Zivilisten. Tritt dieser Fall ein und setzen sich die Zivilisten zur Wehr, werden sie heute unter den leicht handhabbaren Sammelbegriff „Terroristen“ gefasst, ohne dass das Motiv ihrer Gewaltausübung näher in Betracht gezogen wird, das gerade beim Terminus „Terrorismus“ ein entscheidendes Gewicht erhalten sollte. Daran scheint sich der militärstrategische Wortschatz noch nicht gewohnt zu haben. Schon die Konsequenz der im Gedicht beschriebenen Konstellation, dass es nämlich regulären Polizei- oder Militärkräften schier unmöglich ist, in einem echten Gebirge Staatsgewalt zu etablieren und sich die Lage der Bevölkerung verschlechtert, ganz gleichgültig unter welcher Zielsetzung der Einmarsch steht, schon das alleine sollte als moussierende Lesefrucht den Gedanken anregen, dass die Bundeswehr schnellst möglich aus Afghanistan abgezogen werden sollte. Diese Argumentation kann man nicht von der bayrischen Politik erwarten, aber in der bayrischen Volkskunst hören und lesen, mutatis mutandis. Ist diese Veränderung des zu Verändernden geschehen, kann man Geschichten wie die „Hausaussuchung in Lenggries“ fast jeden Tag in der Zeitung lesen. „De Zeid, de ma ezzt ham, de hods no nia gem“ (15), das stimmt so gut wie nie.
1) Dass diese Kopplung nicht erst Symptom der heutigen Zeit ist, zeigt etwa ein Blick auf Haydns Oratorium „Die Schöpfung“.
2) Krieg im Sinne von: Krieg.
3) http://www.volksmusik-archiv.de/vma/de/node/131
4) Ebd.
5) man vgl. den Band med ana schwoazzn dintn. gedichta r aus bradnsee aus dem Jahr1958.
6) Personennamen werden nicht übersetzt. Das ganze kann nicht ohne eine gewisse Ironie übersetzt werden; der Leser mag urteilen, wie sehr das meine Schuld sein kann.
7) Bürgerlich Josef Bauer, 1896-1977, Sänger aus Greiling bei Bad Tölz. Beim erwähnten Preissingen von 1930 gewann der Kraudn Sepp mit seinem Gaißacher Sänger- und Zitherquartett die Silbermedaille. Die Version auf der Webpräsenz des Volksliedarchivs ist um weitere fünf Strophen länger, in denen die Pointen des Lieds teils noch drastischer und klarer zum Ausdruck kommen.
8) Ich wähle das etwas unschöne, umgangssprachliche Wort „Razzia“, um hier die Fußnote anzubringen, dass sich das Wort „Razzia“ vom arabischen Wort für „Angriffsschlacht“ ableitet.
9) Eine weitere geographische Gegebenheit, die man aber sicherlich nicht überstrapazieren sollte, ist, dass das Gebirgsmassiv östlich von Lenggries den sprechenden Namen Hirschberg trägt.
10) Dass sie nur eine Phantasie ist, bezeugen Lieder wie das vorliegende, die früher oder später auch ins Flachland gelangen.
11) Zur Razzia also ist die Bahn nicht zu gebrauchen. Ab 1937 waren die Jäger schließlich in der Prinz-Heinrich-Kaserne vorort.
12) Respiration, erste Strophe (auf dem Album Mos Def & Talib Kweli are Black Star, 1998).
13) „se moan glei wos da ham“
14) Man kennt die Situation aus der Wildschützenliteratur. Im Gebirge muss man den Feind gar nicht erschießen, man muss ihn nur stoßen, oder, noch weniger, geschickter und ortskundiger sein, dann hat man den gewaltigen Berg und das Gelände, die das ihre tun, auf seiner Seite; diese tun auch das ihre, wenn es doch zu eine Gefecht kommt, man vergleiche die drei am 23. Juni 2009 in Afghanistan gefallenen Bundeswehrsoldaten.
15) So die erste Zeile eines gleichnamigen Liedes, das der Kraudn Sepp auf der genannten CD aufgenommen hat.
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Kommentare
Lenggireser Hausaussuchung
gratulation zu dieser Karikatur.
Was anderes kann dieser Schmarrn nicht sein. Er übersieht alles Feinsinnige, die wahren Sprachfeinheiten, übersetzt in ein völlig verkehrtes Lautbayrisch, mit dem Anspruch die allgemein übliche Schreibweise des Oberbayrischen besser zu machen. Die hochdeutsche Übersetzung reizt wie alle Übersetzung des "Originalton Süd" zum Lachen, manchmal zum Erbrechen.
Was haben die Jäger der Kaserne mit den Revierjägern zu tun? Was haben die Jäger, die aus dem höheren Gebirge im Karwendel zur "Razzia" kommen mit der Oberlandbahn zu tun?
Wenn der obige Artikel geschrieben wurde um die afghanischen Kämpfer besser zu verstehen, kann das -klischeehaft- gut gemeint sein. Eine Erklärung und Beleuchtung der Hintergründe, Ziele und Ergebnisse der lenggrieser Hausaussuchung ging dabei gewaltig ins Höschen.
Ich wünsche dem Schreiber in Zukunfteine bessere Hand bei seinen Liedinterpretationen und Auslegungen.
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