Lektion der Stille
Weitere Neuauflagen in der Bibliothek Suhrkamp ab Montag:
Eine von Peter Huchel geordnete Auswahl der Gedichte von Marie Luise Kaschnitz:
Sie hatte Vorbilder – von Hölderlin bis Trakl – und sie fand »für die Zerstörung, die Auflösung und die Erschütterung eine lapidare, eine vorbildlich sparsame und doch niemals karge Sprache. Ihre Ruhe tarnte nicht die Unruhe, sondern ließ sich erst recht fühlen und erkennen. Ihre Verhaltenheit unterstrich ihren Schmerz, ihre Verzweiflung. Immer ist die Poesie der Marie Luise Kaschnitz in höchstem Maß persönlich und doch zugleich welthaltig. Sie zeichnet sich durch kammermusikalische Intimität aus. Gleichwohl geht von ihr eine geradezu alamierende Wirkung aus. Sie erteilt uns eine sprachgewaltige Lektion der Stille.«
Marcel Reich-Ranicki zum Tode von Marie Luise Kaschnitz
Marie Luise Kaschnitz: Gedichte. Ausgewählt von Peter Huchel. Bibliothek Suhrkamp 436.
Der Leuchtturm
Wer weiß, ob diese Alten auf der Insel
Wirklich die richtigen waren, das Kind zu erziehen.
Ein Trinker, eine Schlampe. Sie gaben es her unter Tränen.
Da kam es aufs Festland, weit fort, hinter Zäune und Mauern
Zu anderen Kindern. Die nahmen es auf die Hörner,
Das junge Freiwild. Höhnten sein Gebrechen,
Das Heimweh hieß, verschrieen seine Träume.Wer weiß, ob aus diesen Kindern überkurz überlang
Nicht Freunde geworden wären. Aber nicht jeder
Nimmt sich zusammen, hält den Atem an.
Nicht jeder übersteht seine finsteren Weihen.
Der Knabe, unserer, hielt den Atem nicht an.
Er trank die Feindschaft der Welt, eine bittere Salzflut,
erbrach sie und floh. Schlief einmal draußen im Stadtwald
Unter klirrenden Zapfen, wurde zurückgebracht.
Kam ein zweites Mal weiter, erreichte die Straße meerwärts.
Fiel dort auf, weil er lief mit eingezogenen Fäusten
Und wehenden Haaren, wurde zurückgebracht.
Beim drittten Mal fand ihn kein lebendes Wesen mehr.
Nur der Finger des Leuchtturms, der strich über Düne und Hafen,
Ertastete zwei aufgerissene Augen,
So lange, bis das feste Knabenfleisch
Geschmolzen war. Da liegt es unser Heimweh,
Von Vögeln ausgeweidet. Ein Skelett
Im schwarzen Hafer. Flugsand deckt es zu.
Marie Luise Kaschnitz auf lyrikline
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