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lesen, weil ich immer lesen muss, wenn irgendwo das Wort 'Gras' erscheint, ein Kindheitsreflex ('Gras', 'Sand', 'Schilf'' die gefühlt häufigsten Wörter in den Gedichten zuhause, auch in den Radiostimmengedichten), und so viele berühmte Gras-Gedichte gibt es, die Gras-Metonyme und Gras-Metaphern schier unüberschaubar, auch in den Hundertvierzehn hier ließe sich eine mühelose Reihe anlegen. Aber dann dieses: Eine so ruhige Stimme, ein so ruhiger Zeilenfall, „ihre Vokale leuchten aus dem Schatten hervor“. Namen, Vokale, Gras. Die Stimme trauert um einen Freund, dessen Name sich vielleicht auflösen ließe in Abdelwahab Meddeb. Ein sogenannter Gottesname in der Religion, die die Sprache spricht, über die das Gedicht spricht. Das Gedicht folgt den semantischen Wundern, die aus ihrer andersartigen Grammatik erwachsen. Die Spur des Grases in den Zeilen, vom „einzelnen Stein“ darin über die „besäte Erde“ bis zu „Man steht bis zum Hals im Gras, es hat die / Sonne seit langem nicht gesehen“. Und weiter zur „Wärme des Halms“. Das arabische Wort für Gras. Die Verwandlung des Europäers in Rimbauds Anderen. Das „in Millimetern“ schwankende Nebeneinander von „kaltem Beton“ und der „Heiterkeit“ der Gastfreundschaft. Alles, was die ruhige Stimme aus dem Schatten leuchten lässt, könnte auch bedrohlich sein. „Die Ideen liegen in der Vergangenheit.“ Und wer wäre das „Wir“ der letzten Strophe, ein wachsendes Gras-Wir, im Verhältnis zu den Leuten, die nach verlorenen Dörfern oder nutzlosen Handwerken benannt werden, und zu dem Ich und dem Man des Gedichts. Wie nah das alles ist. Die Wärme. Das Leuchten. Die Fatalität. Und die Schönheit, für die ich im Zerlegen keinen Beleg finde, die ich aber so bezwingend höre wie im Klang arabischer Poesie –
Zwei Zeiten: die erste in vier dreizeiligen Strophen, die zweite in drei vierzeiligen Strophen. In der ersten Zeit ist es eine Kunst und Gabe, ein Geschenk vielleicht, den Einzelnen in "Leute" (Namen, Gras) zu verwandeln und doch seine ganz eigene Stimme umso wärmer leuchten zu sehen. "Die Idee" dieser Gesellschaft ist, den Vokal zu würdigen und ihn nicht einfach herzuzeigen. Es hat etwas von Achtsamkeit, von Behutsamkeit, von Aufmerksamkeit, die man einander schenkt: den Vokal verbergen, um ihn zu entdecken, sich zuzuwenden.
Diese Kunst, den Einzelnen in den Vielen aufgehen zu lassen und doch immer wieder zu suchen und zu erkennen, geht verloren. "Die Ideen // liegen in der Vergangenheit." Der Halm hat zwar die Wärme gespeichert, aber das Grasmeer ist nicht mehr dasselbe. Was für ein trauriges Gedicht, für einen der gern heiter aß, was für ein einsames Gedicht, dem womüglich das "Drüben" abhanden gekommen sein wird.