Denn sie wissen nicht, was sie tun

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Denn sie wissen nicht, was sie tun

Von Heiner Hug, 01.12.2016

Chronik eines angekündigten Desasters

Es ist eine radikale Verfassungsreform, die Italiens Ministerpräsident an diesem Sonntag seinem Volk zur Annahme präsentiert. Das italienische Zweikammernsystem soll faktisch ein Einkammernsystem werden. Damit soll das parlamentarische Palaver eingedämmt und das Land endlich regierbarer werden. Es wäre die einschneidendste Reform seit Abschaffung der Monarchie und Ausrufung der Republik im Januar 1948.

Doch das Volk scheint nichts davon wissen zu wollen. Sagen die Italienerinnen und Italiener am Sonntag Nein zu der Vorlage, will Matteo Renzi zurücktreten. Das könnte kapitale Folgen haben. Auch für Europa.

Zwar würde Italien auch diesmal nicht untergehen, aber das Land würde um viele Jahre zurückgeworfen. Strukturreformen gäbe es im kranken, reformbedürftigen Belpaese, das unter einer riesigen Schuldenlast stöhnt, für lange Zeit keine. Ein Nein würde im Ausland als Nein zu Reformen verstanden. Ausländische Investoren würden Italien noch weniger trauen als bisher. Die notleidenden Banken würden kein zusätzliches Geld erhalten.

Doch den Italienern ist das alles egal. Lethargisch wie immer leben sie ihr Schicksal. Laut Umfragen wird die Hälfte des Volkes gar nicht stimmen gehen. Kaum jemand befasst sich mit möglichen wirtschaftlichen Konsequenzen eines Nein. „Es ist ja ohnehin alles für die Katz.“ So lautet die Lebensphilosophie der meisten Italiener. Wieder einmal zeigt sich die resignierende, fast masochistische Ader dieses Volkes. „Wer auch immer regiert“, heisst es, „besser wird es nicht.“ Doch Renzi hat gezeigt, dass es besser werden könnte. Keiner hat in kurzer Zeit so viel erreicht wie er.

Seit langem kämpfen die Oppositionsparteien für seinen Sturz, um selbst an die Macht zu gelangen. Auch der linke Flügel seiner eigenen Partei ist gegen ihn. Mit viel Populismus und Gift wird Renzi in die Enge getrieben. Wenn er stürzt, könnte die populistische, Euro- und Europa-kritische „5 Sterne-Bewegung“ mit ihrem Klamauk-Häuptling Beppe Grillo an die Macht gelangen. Ihr lautes, mässig begabtes Personal hat vor allem eines gezeigt: dass es bisher gar nichts geleistet hat. Es fehlt den „5 Sternen“ an Persönlichkeiten und an jeder Erfahrung. Auch Berlusconis Forza Italia ist zerstritten und ausgelaugt. Die Lega-Nord, die vom Trump-Effekt profitieren möchte, trumpft immer mehr mit rassistischen Tiraden auf. Renzi ist in Italien im Moment der einzige Stabilitätsfaktor. Doch sein forsches, manchmal überhebliches Auftreten hat ihm geschadet. Verliert er das Plebiszit, diese „Mutter aller Schlachten“, wird es mindestens zehn Jahre dauern, bis sich eine starke, regierungsfähige Mannschaft etabliert hat.

Letzte Meinungsumfragen sagen dem Nein-Lager einen Vorsprung von 5 Prozent voraus. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, wird Renzi stürzen. Italien steht dann vor heftigen Turbulenzen. Die Renzi-Anhänger haben nur noch eine Hoffnung: dass sich die Meinungsforscher täuschen – so wie beim Brexit und in den USA.

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Herrlich, wie in Byzanz vor 1453.

«Doch Renzi hat gezeigt, dass es besser werden könnte. Keiner hat in kurzer Zeit so viel erreicht wie er.» Ah ja? Das erlebe ich hie rin Italien doch recht anders. Renzi und seine Regierung haben ihre Zeit und Energie v.a. für Bastelei am Überbau vertan, in gewisser Weise ähnlich wie Berlusconi, der sich v.a. mit Juristerei herumschlug. Das, was den Italiener/innen im Alltag zu schaffen mag, haben beide nicht mal richtig an die Hand genommen. Das Palaver im massiv überbezahlten römischen Parlament ginge auch ohne Senat weiter, die blockierende Bürokratie wird sich auch nach Abschaffung der Provinzen weiter fortpflanzen, die auf falsche Ziele ausgerichtete staatliche Industriepolitik wird weiter einem imaginären Weltmarkt nachrennen, anstatt auf Europa und auf die einheimischen Arbeitskräfte zu fokussieren, et cetera. Die neue Verfassung ändert gar nichts, und die «einfachen Leute» spüren das. Das einzige, was was ändern wird, ist ein Nein zur Verfassung, denn dann wird der Twitter-Ankündigungspremier Renzi irgendwann gehen müssen, und darum wird die Mehrheit nein stimmen. Natürlich wird nichts besser dadurch, und natürlich sind alle andern greifbaren Alternativen von Sternen-Grillo bis Lega-Salvini mindestens so irreführend; aber was soll der Wähler denn sonst tun? Italien ist am Arsch, aber irgendwie geht's schon weiter…

Danke Herr Studer, bin mit Ihnen -fast- einer Meinung. Italien ist schlicht nicht geschaffen für das Gebilde "Zentralstaat". IT sollte föderalistisch aufgestellt werden, ich wage es fast nicht zu schreiben, ähnlich der Schweiz mit NR-Rat (inkl.Wahlkreise Regionen und Proporz) und SR-Rat aus den IT-Regionen (Mehrheitswahlrecht). Natürlich sind die Parlamente viel, viel zu gross und zu teuer. Senatore Razzi aus Emmenbrücke als schlechtes Beispiel....

Perfectly and brutally to the point.

Ich befürchte Aehnliches und halte genau so viel von der Grillen-Partei mit ihrem Häuptling, wie Sie es eindrücklich darstellen. Italien wird wohl einer langen Zeit der Instabilität entgegen gehen, leider.

"Ein Nein würde im Ausland als Nein zu Reformen verstanden". Falsch, das wird ein Nein zum Euro und zur Eurokratie und würde auch so verstanden. Als Ja zu Souveränität und Identität. Und eine neue Lire würde Italien viele Jahre Leid ersparen.

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