Multikulti-Deutsch?

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Multikulti-Deutsch?

Von Reinhard Meier, 24.01.2014

Sprachwandel wird weniger durch Migration als durch astronomische Verbreitung der elektronischen Kommunikation beeinflusst.

Unlängst bin ich auf ein Buch aufmerksam gemacht worden mit dem interessant klingenden Titel „Multi Kulti Deutsch. Wie Migration die deutsche Sprache verändert.“  (Verlag C.H. Beck, 2013) Autor ist Uwe Hinrichs, Professor für südslawische Sprach- und Übersetzungswissenschaft in Leipzig.  Seine Hauptthese lautet:  Die deutsche Sprache verändert sich unter dem Einfluss von Migration, Multikulturalität und  Mehrsprachigkeit viel „viel schneller und nachhaltiger, als sie es jemals früher getan hat“.

Kiezdeutsch – ein flächendeckendes Phänomen?

Da klingt zunächst plausibel. Doch die angeführten Beispiele sind dürftig und dünn, sowohl  was deren Zahl als auch die mehr oder weniger zufällige Auswahl betrifft.  Von  quantitativen Angaben, die dem Leser zumindest Anhaltspunkte  über die tatsächliche Verbreitung  der  diskutierten neuen Sprachformen wie  Migranten-Deutsch, Türkisch-Deutsch, Jugoslawisch-Deutsch,  Kiez-Deutsch etc. geben könnten, fehlt jede Spur.

Es ist ja schön zu erfahren, dass „Kiezdeutsch“ ein Slang ist,  „der sich in multiethnischen Wohnvierteln wie in Berlin-Neukölln entwickelt hat und von Jugendlichen mit türkischem arabischem, kurdischem, jugoslawischem, russischem,  albanischem, russischem Hintergrund“   gesprochen wird. Nur -  was sagt das über den allgemeinen Wandel der deutschen Sprache aus?  Soll das heissen, dass solche Kiezdeutsch-Brocken  sich jetzt auch in Bayern oder in Österreich oder in der Schweiz massenhaft in den mündlichen oder schriftlichen Sprachgebrauch einschleichen?  Hat es nicht immer schon regionale Dialekte und  schichtspezifische Sprachinseln gegeben, ohne dass  daraus schon flächendeckendes „mündliches Normaldeutsch“  geworden wäre? Ebenso wenig haben solche partikularen Eigenheiten bisher den schriftlichen Sprachgebrauch radikal umgekrempelt.

Natürlich gibt es  starke Tendenzen zur Vereinfachung des sprachlichen Ausdrucks („Tempo 100“ statt „Geschwindigkeitsbegrenzung auf 100 Kilometer pro Stunde“), das Abschleifen von Kasusendungen (Verschwinden  des Genitivs) oder neue Wortkombinationen.  Solche Veränderungen hat es seit jeher gegeben, sonst wäre aus dem Althochdeutschen ja nicht das Mittelhochdeutsche und dann das Neuhochdeutsche entstanden. Neuartig ist höchstens das Tempo  des Sprachwandels.  Und dieses Phänomen wiederum hat weit weniger mit dem Einfluss von sogenanntem Migrantendeutsch zu tun, als vielmehr mit der Tatsache, dass  im Zeitalter des Internets ungleich viel häufiger schriftliche Botschaften produziert und ausgetauscht werden als in früheren Zeiten.

Goethe und Schiller ohne  SMS

Goethe und Schiller konnten sich eben, wenn sie nicht gerade in Weimar zusammensassen, ihre Gedanken und Informationen nicht per E-Mail, oder per SMS  und Twitter übemitteln, die zum  Kurzfutter-Stil  zwingen, sondern nur in handgeschriebenen Episteln.  Dass die astronomische Vervielfachung dieser Kommunikation auf allen sozialen Ebenen  (nicht nur beim Geistesadel und  im Bereich der traditionellen Bildungsbürger)  das Tempo der Umbrüche im alltäglichen Sprachgebrauch radikal beschleunigt hat, liegt auf der Hand.  

Im Vergleich zu diesem durch atemraubende technische Entwicklungen vorangetriebenen Sprachwandel  erscheinen die Veränderungen der deutschen Sprache, die allenfalls  auf  die jüngere Migration zurückgeführt werden könnten,  bescheiden. 

 

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