Tabus, die wahren Feinde der Demokratie

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Tabus, die wahren Feinde der Demokratie

Von Dieter Imboden, 15.02.2015

Tabuzonen sind gefährliches Territorium. In totalitären Denksystemen werden diejenigen, welche sie betreten, geächtet, verfolgt, eingesperrt.

Und im schlimmsten Fall umgebracht, sogar dann, wenn sich die Tabubrecher jenseits der Grenzen der tabuisierenden staatlichen oder religiösen Macht befinden. Charlie Hebdo musste es schmerzlich erfahren.

Nicht nur Diktaturen haben ihre Tabus, auch demokratische Gesellschaften wie die Schweiz. Der Unterschied besteht darin, dass die Tabuwächter nicht im Dienst der staatlichen Macht stehen, sondern im Auftrag der „öffentlichen Meinung“ über die Respektierung des tabuisierten Sperrgeländes wachen.

Erinnern Sie sich noch an das Bankgeheimnis? – Es war uns bis vor wenigen Jahren tabu, gleichsam eingemauert in den Sockel des Wilhelm Tell Denkmals in Altdorf und nicht in Frage zu stellen. Und dann, unvorbereitet für die Tabuwächter, fegte die Geschichte über Nacht das heilige Gelände weg und die Vertriebenen standen erstaunt und ratlos vor einem Scherbenhaufen.

Doch zum Glück für die Wächter der öffentlichen Meinung blieb auch nach dieser schmerzlichen Demontage noch eingezäuntes Gelände genug, darin der heiligste aller Bezirke mit dem Namen ‚Europa’. Wer sich dort hinein wagt, und sei es auch nur mit der Absicht, sich darin umzusehen, so wie man neugierig einen verwilderten Garten besucht, den lange niemand mehr betreten hat, begibt sich in höchste Gefahr. Das musste vor einer Woche Marco Curti erfahren, als er in einem Artikel („die Schweiz in der Sackgasse[dd1] “) die Frage zu stellen wagte, ob der Schweizer Franken noch eine Zukunft habe.

Wohlverstanden, es war eine Frage, nicht eine Antwort, die Aufforderung, sich im tabuisierten Gelände, in dem bis vor kurzem auch noch das Bankgeheimnis angesiedelt war, umzuschauen. Doch das war den Sittenwächtern zu viel. Auf breitester Front wurde Curti von den aufgescheuchten Verteidigern der öffentlichen Meinung in seine Schranken gewiesen und mit ihnen andere Mitgliedes des Club helvétique, welcher die Plattform für den Spaziergang durch das verminte Gelände geboten hatte. Nein, es wurde nicht scharf geschossen wie kürzlich in Paris, so weit sind wir zum Glück nicht. Die Medien haben subtilere Waffen. Aber in Einem gleichen sich die Methoden: man spielt auf den Mann, nicht auf die Sache („Exbanker mit Geschichtsstudium“) oder operiert mit diffamierenden Vergleichen („wie eine Übernahme der Reichsmark 1944“), und nimmt dabei gleich ein paar andere Gesinnungsgenossen in Sippenhaft, willkürlich ausgewählte Mitglieder des Club helvétique, die sich als Ziel öffentlicher Empörung besonders gut eignen.

Aber eigentlich geht die wahre Gefahr von Tabuzonen weniger von Tabubrechern aus, sondern von demokratischen Gesellschaften, welche die Tabus stillschweigend tolerieren. Wenn sich Bürgerinnen und Bürger sich einer Art von Selbstzensur unterwerfen und diese so sehr internalisiert haben, dass sie diese gar nicht mehr wahrnehmen, wenn wir es stillschweigend akzeptieren, dass das Stellen einer Frage von den Tabuwächtern via die Medien sofort in das Geben einer Antwort umgemünzt wird, dann unterziehen wir uns Spielregeln, welche das proaktive Handeln der souveränen Schweiz in Frage stellt. Gibt es in unserem Land vor den Wahlen noch Politiker, welche das Wort ‚Europa’ positiv in den Mund zu nehmen wagen?

Nur das Fragen bringt uns weiter. Eine Frage gleichsam reflexartig auf die Person zu reduzieren, welche die Frage stellt, macht uns blind für die möglichen Antworten. Im besagten Artikel von Marco Curti hätte es einigen Stoff für eine sachliche Auseinandersetzung gegeben. Überdies. Ganz so abwegig sind Curtis Fragen offensichtlich nicht. Der Zufall wollte es, dass in der NZZ vom 2. Februar die französische Ökonomin Hélène Rey kritisch in Frage gestellt hatte, ob in der globalisierten Welt nationale Volkswirtschaften tatsächlich noch unabhängig über ihr klassisches Instrumentarium  ‚eigenständige Geldpolitik’, ‚feste Wechselkurse’ und ‚freier Kapitalverkehr’ verfügen könnten.

Gerade in diesen schwierigen Zeiten hätte es die Schweiz dringendst nötig, den politischen Diskurs auf eine neue Basis zu stellen, welche das gute Argument und nicht die Tabus zur Richtschnur nimmt.

PS: Ich bin Mitglied des Club helvétique. Was mich mit meinen Kollegen verbindet, sind nicht in erster Linie die Antworten, sondern die Kultur des Infragestellens.

Ein gutes Stück!

Es erstaunt mich nicht, dass ein Wissenschaftler, der konsequent die "sokratische" Position einnimmt, sich immer alle Narrative anhört, nicht nur das Selbstherrli(bergis)che, einmal mehr den Durchblick hat.

Tabus, nicht nur Rede- sondern auch Denkverbote, sind der Schutzschirm über unserer Indoktrination.

Tabus sind der Schutzschirm über unserer Indoktrination.

Danke für diesen Artikel, bei dem ich jedes Wort unterschreiben kann. Was uns in letzter Zeit von der rechten Parteipropaganda an Denkverboten auferlegt wurde und vor allem, wie gewählte Politiker aus allen demokratischen Parteien darauf reagieren und nur noch mit der Schere im Kopf politisieren, grenzt schon lange an geistige Geiselhaft. Wer nur den Versuch unternimmt, eine eigeständige Meinung zu äussern, oder den Worthülsen der neoliberalen Oligarchen und deren Chefideologen zu widersprechen, wird durch die rechte Presse und die ferngesteuerte Kommentarfront der Rechtsnationalen angegriffen, diffamiert und, wie es z.B. bei einem Geri Müller, oder noch schlimmer bei Herrn Hildebrand geschah, mit der Moralkeule erschlagen und unschuldig zum Rücktritt gezwungen. Diese schon fast totalitäre Gesinnungsüberwachung durch die nationalistischen Kreise lähmt die Schweiz fast noch stärker, als zu den Zeiten des kalten Krieges, denn sie übernimmt das damals erschaffene Bild, dass alles Schlechte von den linken Parteien kommt und reichert es noch mit dem Verbot einer Kritik an der neoliberalen Ideologie des angeblich alles regelnden, freien Marktes an, so dass inzwischen schon offen geäussert wird, dass alles Übel durch die staatliche Kontrolle der Wirtschaft erfolge und dass der Staat nur noch die Aufgabe habe, den Wohlstand der Vermögenden zu sichern, während gleichzeitig die Leistungen für die Armen und Schwachen herunterzufahren seien und sich alles nur den sozialdarwinistischen Denkmustern der oberen Zehntausend unterzuordnen hat. Hoffentlich erkennen die Schweizer irgendwann, dass es unsinnig ist, einen Milliardär und Oligarchen zum Sprachrohr des Volkes zu machen, denn normalerweise vertreten Menschen welche so viel Geld zusammengerafft haben ganz andere Interessen, als jene, die ihnen mit ihrer Arbeitskraft zu solchen Vermögen verhalfen.

Die Ängste einer Grossmacht!
Fragen darf man immer, wenn man die Antwort nicht scheut. Verhandeln tun wir ja, unsere Argumente sind vernünftig und betreffen zudem die Anliegen etlicher anderer europäischer Staaten. Wir sitzen mitten im Herzen, im Zentrum Europas und unser politisches System beruht auf direkte Demokratie, ist nicht kompatible mit zentralistischen Machtgebilden. Da wir noch nicht Mitglied sind und trotzdem weitgehend Europas Forderungen erfüllen, wäre ein freundschaftliches Entgegenkommen durchaus zu erwarten. Keine Rosinenpickerei, aber die Akzeptanz von Anliegen eines wahren Freundes, eines Freundes der besorgt sieht wie aussereuropäische Mächte auf dies und das unerträglichen Einfluss nehmen. Dabei wissen wir alle….Europas Potenz, ein ernstzunehmender Faktor. Ob Technik, Physik, Chemie oder Sozialwesen, seit Jahrhunderten Vorreiter. Ein Kontinent mit Geschichte, ein Kontinent der durch Revolutionen, Kriege und stetigen Wandel aus der Pubertät erwachsen wurde oder werden könnte. Mit eigener kontinentaler Energieversorgung durch Russland durchaus selbst ein Gigant werden könnte. Davor hat jene Führungsnation grosse Angst und das möchte sie seit dem 31.12.1991 um jeden Preis verhindern. Vom 800 Millionen potentiellen Binnenmarkt wollen wir nicht mal reden ohne jene in Panik zu versetzen. Mit den Nah Ost Kriegen hat jene Grossmacht uns allen ein Kuckucksei ins Nest gelegt (Flüchtlinge) und mit der Finanzkrise, nicht ganz ohne eigene Schuld wegen Gutgläubigkeit, einen Tiefschlag versetzt. Wahre transatlantische Freundschaft sieht anders aus! Helfen wir mit ohne vorerst dabei zu sein. Bauen wir mit ihnen ein Europa der Zukunft, ein Europa ohne fremde Bevormundung. Eins für unsere Kinder! Sollte es gut werden, steigen wir ein, erst dann gibt es keinen Grund mehr draussen zu bleiben....cathari

Europa ist ein grossartiger, vielfältiger, faszinierender Kontinent.
Die EU versucht leider, die Vielfalt zu zerstören, indem sie ein einheitliches Gebilde mit einheitlicher Währung zu schaffen versucht. Wenn das gelänge - was ich nicht hoffe - wäre es wohl auch mit der Faszination zu Ende.
Es wäre viel besser, die Zusammenarbeit und den Austausch zwischen den vielfältigen Gebilden in Europa intensiv zu fördern und nur dort zu vereinheitlichen, wo es den Bewohnern nützt.

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