„Uns will aber niemand“

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„Uns will aber niemand“

Von Heiner Hug, 04.11.2017

Die Knaben waren verliebt in sie. Und die Mädchen wollten sein wie sie.

Fast alle kennen die Geschichte: Branko, der schöne, zerlumpte Junge mit den schwarzen Augen hat soeben seine Mutter verloren. Geld für die Beerdigung der „schönen Anka“ ist keines da. Niemand kümmert sich um den Zwölfjährigen, und er weiss nicht wohin. Er hat Hunger und stiehlt auf dem Markt einen Fisch, der zu Boden gefallen war. Branko wird ins Gefängnis geworfen, und ein schönes, barfüssiges Mädchen befreit ihn.

Die Geschichte wurde zum Bestseller. Allein auf Deutsch gibt es 36 Auflagen. In 18 Sprachen wurde das Buch übersetzt. Es wurde (schlecht) verfilmt und für eine Fernsehserie zurechtgebogen.

Kampf für die Unterdrückten

Der Autor der Geschichte wird vor 120 Jahren in Jena geboren. Er macht eine Schlosserlehre und dient im Ersten Weltkrieg als Telegrafen-Soldat. Verwundet und an Typhus erkrankt kehrt er heim. Drei Tage nach seinem zwanzigsten Geburtstag bricht in Russland die bolschewistische Revolution aus. Das wird sein Leben verändern.

Er tritt der Kommunistischen Partei bei und glaubt, dass die Kommunisten die Welt gerechter machen werden. Zeit seines Lebens setzt er sich für die Unterdrückten ein, die Armseligen, die Vergessenen. Jene auch, die auf dem Markt einen Fisch stehlen, weil sie Hunger haben.

Noch dauert es zwanzig Jahre, bis Kurt Kläber die „Rote Zora“ auf ihre Abenteuer im kroatischen Küstenstädtchen Senj schickt. Doch die Geschichte des Mädchens, das den armseligen Branko aus dem Gefängnis holt, variiert der Autor ein Leben lang.

Kurze Hosen und Jesuslatschen

Schon kurz nach dem Krieg wird Kurt Kläber Journalist und später Mitherausgeber der literarischen und politischen Zeitschrift „Die Linkskurve“. Kläber wird zu einem der führenden Vertreter der deutschen kommunistischen Literaturbewegung, ein Vertreter der klassischen Arbeiterliteratur.

1919 zieht die Märchenerzählerin Lisa Tetzner durch den Thüringer Wald. Im Städtchen Lauscha ist Kirchweih. Dort trifft sie vor einer Schaubude einen liederlich gekleideten jungen Mann. Er ist als „fliegender Buchhändler“ unterwegs und gehört der damals populären „Wandervogelbewegung“ an. Er trägt kurze Hosen und Jesuslatschen. So beschreibt Lisa Tetzner ihre erste Begegnung mit Kläber.

1924 heirateten sie – gegen den Willen ihres Vaters, der keinen „Berufsrevolutionär“ als Schwiegersohn will.  Kurz darauf droht ihm ein Prozess wegen Hochverrats. Sein Buch „Barrikaden an der Ruhr“ wird verboten. Hermann Hesse, Thomas Mann, Käthe Kollwitz und Gerhart Hauptmann setzen sich für ihn ein.

Flucht in in die Schweiz

Nach dem Reichtagsbrand 1933 wird der Kommunist und Nazi-Hasser Kläber verhaftet. Lisa Tetzner gelingt es, ihn freizubekommen. Seine Bücher werden teils öffentlich verbrannt. Zu seinen Freunden gehören jetzt Brecht, Feuchtwanger und Anna Seghers.

Sein Enthusiasmus für den Kommunismus schwindet mehr und mehr. Jetzt, die Nazis im Rücken, flieht das Paar via Tschechoslowakei und Paris nach Carona oberhalb des Luganersees.

1938 hat er genug vom Kommunismus und den stalinistischen Auswüchsen. Ernüchtert tritt er aus der Kommunistischen Partei aus. Er muss erkennen, dass er jahrzehntelang einer utopischen, jetzt gescheiterten Ideologie anhing. Das stürzt ihn in eine innere Krise. Verstärkt wird sie durch immer stärker werdende gesundheitliche Probleme. Seit seinem Militärdienst leidet er an Herzbeschwerden.

Aus Kläber wird Held

Die Schweizer Fremdenpolizei ist hart. Sie droht ihm immer wieder mit der Ausweisung. Schliesslich darf der Ex-Kommunist bleiben – mit der Auflage, dass er nichts publiziert.

Unter dem Namen seiner Frau schreiben die beiden „Die schwarzen Brüder“ – den ersten ganz grossen Erfolg. Es ist die Geschichte zweier Kaminfeger, die die Armut in die Fremde treibt.

Da er unter seinem Namen nicht schreiben darf, wechselt er eben den Namen. Kurt Kläber heisst jetzt Kurt Held. Unter diesem Namen veröffentlicht er 1941 die „Rote Zora“.

Mehr als als Jugendroman

Um seinen Depressionen Herr zu werden, reist er vor dem Zweiten Weltkrieg nach Jugoslawien. Dort im Dalmatien-Städtchen Senj trifft er auf eine Bande mit einer rothaarigen Anführerin namens Zora La Rouquine. Sie gibt ihm den Kick, ein Jugendbuch zu schreiben.

Verkauft wird der Text als Jugendroman. Doch es ist weit mehr als ein Jugendroman. Im Mittelpunkt stehen – dramaturgisch spannend erzählt – die Streiche einer Jugendbande, die vom rothaarigen Mädchen Zora angeführt wird. Die fünfköpfige Clique haust verborgen in einer Burg oberhalb des Städtchens. Da werden Aprikosen gestohlen, auch Fische, Hühner und Brot. Da werden Jugendliche aus der besseren Gesellschaft verprügelt. Da wird der Bürgermeister öffentlich lächerlich gemacht. Der stets betrunkene Polizist wird zur Lachfigur degradiert. Den Armen wird geholfen, die Geldgierigen werden bestraft. Zora ist eine Art weiblicher Robin Hood.

Wehrt euch!

Vordergründig geht es um Jugendstreiche. Doch die „Rote Zora“ ist ein durch und durch sozialkritisches Buch. Es beschreibt detailliert die schreckliche Armut und die Chancenlosigkeit einer breiten Bevölkerungsschicht. Zora und ihre stehlenden Kumpanen, alles Waisen, möchten gerne einer richtigen Arbeit nachgehen. Doch man grenzt sie aus, lässt sie hungern, verfolgt sie wegen zwei gestohlener Aprikosen. Einmal sagt der alte Fischer Goran zu ihnen: „Ihr seid junge Menschen, ihr solltet irgendwo hingehen und etwas Besseres anfangen.“ Zora antwortet „Uns will aber niemand.“

Kurt Held begnügt sich nicht mit der Bestandesaufnahme. Er klagt an. Und hier wird die Rote Zora fast ein revolutionäres, indoktrinierendes Buch, eine Streitschrift. Er ruft die jugendlichen Leser auf, empört euch, wehrt euch gegen die Ungerechtigkeit, steht zusammen, kämpft, nur gemeinsam seid ihr stark. Der Arbeiterschriftsteller hat den Stil und die Sprache gewechselt, er schreibt jetzt in einer lustigen Jugendsprache – aber seine Botschaft ist noch immer die gleiche.

Machenschaften der Machthaber

Da wird die fehlende Solidarität mit den Armen kritisiert. Um Branko kümmert sich niemand. Da werden die korrupten Machenschaften der Machthaber angeprangert. Da gibt es ein Fischereiunternehmen. Wir würden es heute einen multinationalen Hai nennen, der die Kleinen frisst. An diesem Unternehmen sind die meisten Mitglieder des Stadtrates mit Aktien beteiligt. Dieses Unternehmen terrorisiert die kleinen Fischer, die frei bleiben wollen, bis sie erschöpft aufgeben. Auch Emotionen werden geschürt. Der gute Hund Leo, ein Freund der Bande, wird von einem Vertreter der Ausbeuter erschossen.

Natürlich hat das Buch auch starke feministische Züge. Zora, die attraktive Anführerin der Bande, ist eine starke, intelligente, weitsichtige 13-Jährige, die fast immer die richtigen Entscheide trifft.

„Die Schuldigen sind wir“

Da will der Bürgermeister und der Hohe Stadtrat die verarmten, stehlenden Kinder ins Gefängnis werfen. Eine Sitzung der Stadtoberen wird einberufen. Und der alte Fischer Goran, der die Bande schützt, wird vorgeladen.

Er ergreift das Wort und erzählt die Geschichte von Branko, seiner todkranken Mutter, um die sich niemand im Städtchen gekümmert hat. Nicht einmal Geld für den Sarg war da. Nachdem sie starb, war Branko mutterseelenallein, niemand gab ihm zu essen, niemand gab ihm ein Dach. Der alte Fischer fuhr fort: „Die Schuldigen sind nicht die Kinder, die Schuldigen sind wir. ... Mich interessiert nämlich nicht, ob die Kinder stehlen oder nicht, sondern mit interessiert, warum die Kinder stehlen.“

Verborgener Zündstoff

Kurt Held ist vom Erfolg seines Buches überrascht. Jetzt plötzlich ist er der gefeierte Schriftsteller. 1948 erhalten er und Lisa Tetzner das Schweizer Bürgerrecht. Die Jugend von dazumal verschlingt das Buch. Viele Eltern waren sich nicht bewusst, welcher Zündstoff in der „Roten Zora“ liegt.

Kurt Held, schwer krank, stirbt 1959 in Sorengo, Lisa Tetzner vier Jahre später in Carona. Bis zu ihrem Tod lebten die beiden oberhalb des Luganersees. Ihr Haus heisst „La cá del pan trová“ (Das Haus zum gefundenen Brot). Testamentarisch verfügten sie, dass das Anwesen, verwaltet von der Kulturstiftung „Pro Helvetia“, Künstlerinnen und Künstlern als Arbeitsort dienen soll. Das ist noch heute so.

Knapp 70 Kahre ist es her, dass ich mit meiner Patin in jenem speziellen, gemütlichen Haus in Carona weilen durfte. Schon die rote Farbe und die südlichen Loggien muteten mich exotisch an. Aber die beiden, für mich als Kind URalt wirkenden Menschen beeindruckten mich noch mehr: er zwar kränklich im Bett, aber sie eine quirlige, lustige Frau, die man lieb hatte!

Es sind wunderbare Bücher, welche Lisa Tetzner und Kurt Held geschrieben haben.
Lisa und Kurt habe ich sehr gut gekannt und deshalb vermute auch ich, dass die "Rote Zora" von Lisa Tetzner zumindest "erfunden", wenn nicht sogar geschrieben wurde.
Wie auch immer, es waren wunderbare Menschen, die mit Ihren Ideen sehr viele Menschen glücklich gemacht haben.
Ihr Erbe bleibt, Jahrzehnte nach ihrem Tod, weiter lebendig.
Danke Lisa, danke Kurt!

Danke für diese Hommage, die mich berührt.
Die „Rote Zora“ war vor sehr vielen Jahren ein wichtiges Buch für mich, das ich nie vergessen habe.
Es freut mich zu lesen, dass es so viele Auflagen und Übersetzungen gibt, dass das Buch also nicht in Vergessenheit geraten ist. Es bleibt aktuell.

eine wunderbare homage an kurt held, der mit seiner zora auch der held meiner frühen jugendjahre war.

p.s. ich schreibe alles klein, weil meine linke hand gebrochen ist.

Danke für diese schöne Würdigung! Die "Rote Zora" hat mich nachhaltig geprägt: mein älterer Bruder brachte das Buch aus der Bibliothek der Progymnasiums Bern, ich begann es zu lesen, wurde aber nicht fertig, ehe er es zurückbringen musste.So nahm ich mir vor, alles zu tun um ebenfalls ins den "Proger" zu kommen, so dass ich das Buch auslesen konnte. Was ich dann auch tatsächlich schaffte... - Eine Verwandte besass ein Haus in Carona und wir gingen, wenn wir dort in den Ferien waren, immer voller Ehrfurcht an dem Haus auf der Krete vorbei, von dem wir wussten, dass es Lisa Tetzner und Kurt Held gehörte...

Lieber Heiner, danke für diese fundierte Hommage. Ich werde die Zora noch einmal lesen müssen (dürfen).

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