Vaucansons Ente und Markrams Hirn
Im Winter 1738 sorgte eine künstliche Darmentleerung für europaweites Aufsehen. Der französische Automatenbauer Jacques de Vaucanson hatte eine mechanische Ente konstruiert, die er in einem gemieteten Saal in Paris vorstellte. Sie streckte ihren Kopf, pickte Körner aus der Hand, schluckte sie, verdaute sie und liess sie hinten gewandelt als Exkremente wieder hinaus.
Da staunten die Enzyklopädisten
Das Publikum bestaunte das Schauspiel einer physiologischen Simulation, das sich ihm im seitwärts offenen Automaten wie in einem Diorama darbot. Seine Ente und andere Automaten machten Vaucanson nicht nur berühmt, sondern auch reich, der königliche Finanzminister ernannte ihn zum Leiter der staatlichen Seidenmanufakturen, die Académie des Sciences ehrte ihn als „assoziierten Mechaniker“.
Führende Intellektuelle wie Diderot, Voltaire und Condorcet lobten das Genie Vaucansons. Voltaire – nie verlegen um Übertreibungen – hob ihn gleich aufs mythische Podest, als „Rivalen von Prometheus, der die Natur nachahmend, das Feuer des Himmels (nahm), um die Körper zu beleben.“
Das Hirn simulieren
Heute interessiert natürlich weniger das Verdauungs-, als vielmehr das Denkorgan. Und an die Stelle der Mechanik ist die Informationstechnologie getreten. Ihre Potenz treibt den Forschungswettbewerb zu immer ambitiöseren Vorhaben an, als deren neuestes sich das Human-Brain-Projekt von Henry Markram profiliert. Dieses wissenschaftliche „Flaggschiff“ hat sich zum Ziel gesetzt, die Vorgänge im (menschlichen) Hirn Schritt für Schritt in ein künstliches neuronales Netz auszulagern, um am Surrogat die neuronale Kommunikation besser studieren zu können. Und dadurch möchte Markram nach eigener vollmundiger Aussage die „Biologie zur Computerwissenschaft machen.“
Die Simulations-Strategie, die Grenze zwischen Lebewesen und Artefakt einzuebnen, hat sich auf vielen Gebieten als heuristisch sehr hilfreich erwiesen. Doch gerade ihr Erfolg macht sie anfällig für die Fixierung unseres Denkens, das heisst dafür, sie als universelles Erklärungsmittel einzusetzen.
Gedankenlose Forschung
Ich möchte hier nicht auf die Frage eingehen, was Computer oder Roboter noch alles können oder nicht können werden. Bedenklich erscheint vielmehr, dass man mit dem Einsatz neuer technischer Möglichkeiten die Begründung und Reflexion von leitenden Sichtweisen für entbehrlich hält. Heute herrscht das Big-Data-Paradigma vor.
So hören wir von Markram: „Die Technologie des 21.Jahrhunderts erlaubt industrielle Datengewinnung, was weltweit schon einen Tsunami an Daten generiert hat. Neue Informationstechnologien erlauben es, in diesen Daten Regeln zu erkennen, so dass wir, basierend auf diesen Regeln, das menschliche Gehirn nachbauen können. (...) Bewusstsein ist nur eine massive Informationsverarbeitung durch Billionen von Nervenzellen.“
Gibt es eine Software für die Wetware des Gehirns?
Bei aller beeindruckenden Simulationsleistung weisen nüchterne Hirnforscher auf die kümmerliche Unvollständigkeit ihrer Wissenschaft angesichts dieser anderthalb Kilo elektrifizierten Fleischs hin. Selbst der elementare Baustein des Gehirns, das Neuron, ist nicht restlos verstanden – der Darm übrigens auch nicht. Wie aber soll man etwas simulieren, das man noch gar nicht versteht? Vertraut man da nicht einfach auf einen neuronalen Deus ex Machina, der plötzlich aus den Simulationen springt, wie sich das früher die Alchimisten erhofft hatten, die in ihren Retorten das Lebenselixir zu brauen suchten?
Hinzu kommt ein anderes dorniges Problem: Gibt es überhaupt eine Software für die Wetware unseres Gehirns? Lässt sich das, was wir Menschen tun und können, vollständig formalisieren, d.h. als explizite Regeln aus uns herausdestillieren und in eine Maschine implementieren?
Das Problem ist zweieinhalb Jahrtausende alt, und es dürfte mehr als fraglich sein, ob es innerhalb des nächsten Jahrzehnts – mit wie viel Technologie auch immer hochgerüstet – gelöst wird. Das verschaltete Netz von einer Milliarde Prozessoren mag Verhalten erzeugen, das wir bei einem Menschen als intelligent oder bewusst bezeichnen würden – aber ist es deswegen schon intelligent oder bewusst? Ab wie viel Bytes beginnt ein Computer zu denken? Zu fühlen? Markram gibt sich in dieser Hinsicht unbescheiden. Für ihn übersteigt das Human-Brain-Projekt die „konventionelle“ Neurowissenschaft: „Es gibt keinen Grund, weshalb man nicht in das Programm eintreten könnte. Wenn wir einmal ein Modell des Gehirns haben, können wir auch all das modellieren, was sich im Gehirn abspielt. Wir wären fähig, die Erfahrungen eines anderen Geistes zu beobachten.“
Das Mühlengleichnis von Leibniz
Spätestens an dieser Stelle erinnert man sich an das berühmte Mühlengleichnis von Leibniz, dieses genialen Metaphysikers des Automaten. Nehmen wir einmal an, sinnierte Leibniz, der Mensch sei tatsächlich bis in seine letzten Bestandteile hinein eine Maschine. Er sei eine Mühle, die denkt. Leibniz stellte sich in einem Gedankenexperiment vor, wir könnten in die Mühle eintreten. Werden wir auf der Suche nach dem Denken, nach dem Geist fündig?
Nein, sagte Leibniz. Wir sehen Bestandteile des ganzen Mühlegetriebes, wie sie sich drehen, stossen, ziehen, allein der Geist, das Denken bleibt uns verborgen. Das Gleichnis sagt klugerweise nicht, was Geist ist, sondern nur, was er nicht ist. Entsprechend gilt: Simulation von Verhalten ist nicht das Verhalten selbst.
Neurofundamentalismus
Das Human-Brain-Projekt ist eine moderne Variante des Mühlengleichnisses. Mit seinen Visualisierungen in Technicolor lässt es uns zwar in die Cortexsimulation eintreten – aber ins Denken und Fühlen eines anderen Wesens? Wie weiss ich, dass das, was ich im andern Hirn „beobachte“, die „Erfahrungen eines andern Geistes“ sind? Ich beobachte doch immerfort Neurophysiologisches – aber so etwas wie Geist, Bewusstsein, Ich? Reicht denn wissenschaftliches Wissen allein überhaupt als Antwort aus?
Solche Fragen werden von der „Flaggschiff-Initiative“ weggewischt. Gewisse Neurofundamentalisten kehren heute sogar die Beweislast um, indem sie uns auffordern, zu zeigen, was es denn „mehr“ brauche als Nervenprozesse. Sie träumen von einer Zeit, da in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen der Brain Talk Einzug halten wird. Wo der gestresste Mann am Abend zu seiner Frau sagt: „Liebling, mein Serotoninspiegel ist auf dem Nullpunkt, mein Hirn überflutet von Glucocorticoiden, meine Adern voller Adrenalin, mein Dopaminspiegel muss gehoben werden, bitte schenk mir ein Glas Epesses ein.“
Ein Experiment
Vor einiger Zeit war in der Presse über ein Experiment an einer kalifornischen Universitätsklinik zu lesen. Bei der Untersuchung einer Epileptikerin reizte ein Neurologe mit der Elektrode eine bestimmte Gehirnregion, und die Patientin fand das scheinbar äusserst komisch. Sie lachte, umso lauter, je mehr man die Reize verstärkte. Den umstehenden Ärzten wurde allerdings mulmig zumute, weil es zwar eine klar ersichtliche Ursache, aber keinen klar ersichtlichen Grund für das Verhalten gab. Das Lachen der Patientin war nicht ein Lachen über etwas, sondern der Effekt einer neuronalen Aktivität, letztlich ein blosses neurophysiologisches Ereignis. Ein Zucken des Gesichts, und nicht ein Zeichen des Gesichts.
Was macht das Zucken zum Zeichen? Was hebt Angst oder Lachen über das blosse Hirnereignis hinaus? Angst ist immer Angst vor etwas, Lachen ist Lachen über etwas. Wovor man Angst hat, worüber man lacht, wird an Haltung und Handlung einer Person erkennbar, nicht an ihrem Gehirnzustand. Es sind menschliche, leibliche (und damit natürlich mit einem intakten Gehirn versehene) Personen, die gewissen soziokulturellen Regeln nachleben, miteinander reden, streiten, lachen, sich durch diesen symbolischen Verkehr auch auf die Dinge der Welt beziehen können und damit Geisteszustände hervorbringen, ja, buchstäblich verkörpern.
Das Hirn lacht nicht
All dieses Reden, Streiten, Lachen, Sich-auf-die-Welt-beziehen, sagt uns heute die Neurobiologie, findet eine Entsprechung auf neuronaler Ebene, in Gehirnaktivitäten, und lässt sich dadurch auch simulieren. Gewiss, aber was heisst das anderes, als dass wir das Genre der Beschreibung gewechselt haben, wenn wir von Gehirnaktivitäten reden? Da wir Menschen nun freilich leibliche Personen und keine isolierten Gehirne in Nährtanks sind, befinden wir uns in der privilegierten Lage, Lachen aus der neurophysiologischen und aus der persönlichen Perspektive zu verstehen. Wir sollten dieses Privileg nicht aufgeben. Und einstweilen braucht man nicht mit Elektroden gereizt zu werden, um über das Human Brain Projekt zu lachen.
Vaucansons Entenverdauung war übrigens eine „Simulation“ im Sinne von Schwindel. Honi soit ....
Der Herr, mein Gott, und der Herr Mark(t)ram wie lächerlich ist dieser
Popanz jenem Seienden gegenüber !
Lachen würde ich darüber nicht! Egal was dabei herauskommt, es wird gegen den Menschen eingesetzt werden, wie immer.
Es scheint mir eher lachhaft, mit der Begründung von Autor Kaeser über das Projekt herzufallen.
Erst die Zukunft wird es wirklich zeigen, was Makram erreicht und was nicht. Ich bin auch skeptisch, aber mit nachvollziehbaren Begründungen...
@Christof Zalka
Ich denke auch, dass es eine ganz besondere Leistung war, dieses Geld zu kriegen.
Nach diesem Effort können nur Erbsenzähler noch ein wissenschaftliches Ergebnis einfordern ;)
Ich weiss nicht ob ich ihre "Neuroskepsis" teile. Aber die Skepsis am human brain project teile ich durchaus. Eben, wie will Markram etwas simulieren dessen Einzelteile er nicht versteht? Ich habe auf dem Internet nirgendwo eine Erklärung gefunden was man eigentlich im Sinn hat. Vielleicht besteht das revolutionäre gerade darin (Forschungsadministratoren lieben das revolutionäre!) eine Milliarde gekriegt zu haben ohne ein wirkliches Konzept... :-)
Gott war gezwungen einen Sündenfall zu inszenieren um den beiden Erstankömmlingen den Unterschied zwischen Gut und Böse klar zu machen! …..Adam und Eva.
Spekulatives! Das Gehirn ist ein natürliches eiweissreiches Organ. (10 hoch 1270 Eiweissmoleküle) Alles Wasser der Welt hat nur“ 10 hoch 40 „H²O Moleküle. Bei der Geburt sind wir ein weisses Blatt. Das System ist bereit aber noch leer. Die ersten Eindrücke d.h ein Geflimmer von sich überlagernden Impulsen wird identisch mit Mutter, einer Nahrungsquelle. So entstehen die ersten Interferenzbilder und am Nuggi an dem man vergeblich saugt, zeigen sich die ersten Unterschiede. So entsteht Vergleichen und Abwägen. Gedanken sind ein ständiger Fluss von flimmernden Interferenzbildern aus denen wir Schlüsse ziehen. Aufmerksamkeit, Interferenzähnlichkeit, Einordnen. Wenn wir jedoch nicht wollen, können wir auch niemals willentlich wollen. Hier endet dann dieser von ihnen beschriebene Versuch!...denn… Der Hypothalamus in Nachbarschaft zur Hypophyse, die Steuerung des Endokrin Systems ist wichtig für das vegetativ nervale Geschehen. Sind wir in einer positive ERWARTUNG (z.B. eines Treffens mit Freund oder Freundin) kommt Vorfreude auf ohne dass wir es bereits bewusstheitlich erleben. Schulden hingegen wirken bedrückend ohne dass die Folgen schon eingetreten wären. Wir erleben die Welt nicht so wie sie ist, sondern wir erleben sie als ein aus unseren subjektiven Interferenzbildern entstandener Ort. Ohne die Schilddrüse würden uns allein schon die Sekrete für gewisse Anstösse fehlen z.B. Angstkomplexe. Nur die komplementär Einheit: Materie, Energie, Geist macht Leben zu wirklichem Leben. Wünschen, Hoffen, Wollen ist ja immer begleitet von der Furcht dass es nicht zustande kommt. Wenn man dem Dualismus von Materie und Energie den dritten Partner den Geist zufügt, landen wir im vierdimensionalen Bereich. Durch unsere Raum-Zeitbrille schreiten wir ja kontinuierlich durch alle diese Ereignisse. Da kommt dazu, je grösser die Bestimmtheit des Geistes, je kleiner die der Energie oder der Materie. Da Gott nicht nur aus Geist besteht musste er sekundär Energie und Materie schaffen. Jedes geborene Individuum bringt dann ein wenig mehr Ordnung in das Chaos. Die Triebe, die Intuitionen, die Affekte und Reflexe entstehen durch bestimmte Reize .Die Seele ist jedoch ein Zusammenwirken aller Abläufe und reagiert sogar auf atmosphärische Zustände um unseren Körper. z.B. Irgendetwas ist heute bedrückend oder ich bin so fröhlich warum nur? Diese Grenzen werden nie überschritten werden können! Gott sei mit Ihnen…..cathari
@ cathari
sie sagen es: das leben ist komplex. gott muss ein endokrinologe gewesen sein. gehen sie auf eine wanderung, atmen sie tiief durch und lesen sie keine solchen bücher mehr, oder dann bessere übersetzungen. hosianah!
ist das Ziel im Universum und auf der Erde, die Vermehrung von Möglichkeiten und Variationen, die Vergrößerung der Unordnung.
Und das ist auch das Ziel von "Gott", glaube ich.
Unordnung und Chaos kann der Mensch schon ganz gut. Deshalb fühlt er sich ja auch als das "Ebenbild Gottes".
Canon