John Banville: Caliban (Roman) |
John Banville: Caliban |
Inhaltsangabe:Der greise Literaturwissenschaftler Axel Vander lebt seit langer Zeit in Arcady, Kalifornien. Seine jüdische Frau Magda starb nach fast vierzig Jahren Ehe. Vander ist auf einem Auge blind und wegen eines "toten" Beins auf einen Krückstock angewiesen. Auch das Alter macht ihm zu schaffen.
Wie soll man die Übergriffe der Senilität entdecken, wenn die Fähigkeit des Entdeckens selber Ziel dieser Attacken ist? Würde es Phasen eines Aufschubs geben, Augenblicke von furchtbarer Klarheit inmitten eines ziellosen Umherirrens, Momente von bebender Erkenntnis vorm Spiegel, wo man entsetzt sein voll gesabbertes Hemd anstarrte und die Pisseflecken auf dem Hosenstall? Wahrscheinlich nicht; wahrscheinlich werde ich einfach in die Senilität hinüberschlurfen, ohne es auch nur zu merken. (Seite 27) Er erinnert sich an Szenen, die er als Stadtkind auf dem Bauernhof seines Großvaters erlebte.
An alles das erinnerte ich mich, obwohl es nie geschehen war. (Seite 76) 1990 erhält er einen Brief von einer Frau namens Catherine ("Cass") Cleave, die in Antwerpen Geheimnisse über ihn aus der Zeit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg entdeckte. Vander hat immer befürchtet, dass jemand in seiner Vergangenheit graben und ihn anprangern könnte.
Unter einer der Laufrollen des Stuhles raschelte wie ein warnendes Kichern Papier. Es war der Brief. Schauen Sie: Ich beuge mich hinunter, ich ächze, ich hebe ihn auf, glätte ihn mit der Faust auf der Armlehne und lese ihn von neuem in dem kegelförmigen Strahl von golden schimmerndem, stäubchendurchflirrtem Licht, das mich mit seiner Milde völlig unverdient umspült, meinen alten, wirren, baumelnden Kopf, meine schiefe Schulter, meine Kralle mit den Adern, dick wie Taue. Die Schreibmaschinenseiten flattern leis im Rhythmus meines Pulsschlags, den ich in der Schläfe spüre, und mein gutes Auge tränt von der Anstrengung, die Wörter nicht verschwimmen oder aus der Reihe hüpfen zu lassen. (Seite 17)
Um herauszufinden, was Cass weiß, nimmt er die Einladung zu einem Nietzsche-Kongress in Turin an und verabredet sich dort mit ihr. Franco Bartoli, der Organisator,
"Aber damals war er noch nicht Axel Vander." (Seite 141)
In Turin verrät Cass nicht, was sie über die Identität und Vergangenheit ihres Geliebten weiß. Sie lässt sich von ihm zum Essen ausführen. Ihm ist der Wein wichtiger als das Essen, und nach einem seiner Alkoholexzesse bricht er zusammen. Cass zieht zu ihm ins Hotelzimmer und pflegt ihn vierzehn Tage lang, bis er wieder aufstehen kann. Einmal telefoniert sie mit ihrer Mutter in Irland und erfährt, dass sich ihr Vater allein in sein Elternhaus zurückgezogen hat. ["Sonnenfinsternis"] Für einen anhaltenden Augenblick öffentlichen Interesses, und wäre es auch nur in so einem Käseblättchen wie dem Dagblad gewesen, hätte ich meine Seele verkauft, hätte ich meine Leute verkauft. Warum nahmen sie ihn, den Ariel, wo sie doch in mir einen zu jeder Schandtat bereiten Caliban hatten? (Seite 199)
Als die Deutschen 1940 Belgien besetzten, schloss Axel – der mit siebzehn eine Heine-Monografie geschrieben hatte – sich den fanatischen Barbaren an. Er traf sich zwar noch hin und wieder mit seinem Jugendfreund, aber in sein Elternhaus lud er ihn nicht mehr ein. Eines Tages stand in der Zeitung, dass Axel Vander tot war. Die einen vermuteten, er habe sich selbst das Leben genommen, andere behaupteten, er sei als Anführer einer Untergrundorganisation hingerichtet worden. Niemand wusste etwas Genaues. Was habe ich davon gehabt, dass ich Axels Identität angenommen habe? Es war, vermute ich, ganz einfach so, dass ich gar nicht unbedingt in erster Linie er sein wollte – obwohl ich durchaus er sein wollte, natürlich wollte ich das –, sondern dass es vielmehr mein dringender Wunsch war, nicht ich zu sein. (Seite 267) Cass gesteht dem Greis ihre Liebe, aber er reagiert nur unwirsch darauf. Je mehr sein Zustand sich verbesserte, desto schlechter ging es ihr. Die Stimmen kamen wieder, alle, sie schlossen sich zusammen, sie drängelten und schubsten, um an sie heranzukommen. (Seite 287)
Sie möchte unbedingt das berühmte Turiner Grabtuch sehen, aber an dem Tag, an dem Vander mit ihr hingeht, ist die Ausstellung geschlossen.
"Du musst das verstehen", sagte ich, "ich muss wieder zurück in mein Leben, und du musst zurück in das deine." Ich lachte leichthin. "Ich habe hier viel zu viel Geld ausgegeben", sagte ich. "Mein Agent in Arcady, der sich um meine finanziellen Angelegenheiten kümmert, denkt schon, ich werde erpresst [...]" Natürlich hätte ich sie geliebt, sagte ich, aber Liebe sei nichts weiter als der Drang, sich zu isolieren und einen anderen Menschen absolut besitzen zu wollen. "Damit, dass ich dich liebte", sagte ich, "habe ich dich der Welt weggenommen, und nun gebe ich dich zurück. Verstehst du?" (Seite 342f)
Cass eröffnet Vander, dass sie schwanger von ihm sei. Noch am selben Tag reist sie ab. Vander zieht zu Bartoli und dessen Mutter. Nach einer Woche kommt eine Karte von Cass aus Genua. Sie weist auf die bevorstehende Sonnenfinsternis hin. Vander fährt sofort nach Genua, obwohl es aussichtslos ist, Cass dort zu finden. Erfolglos kehrt er nach Turin zurück. Schließlich trifft ein Päckchen mit einem Füller von ihr aus Chiavari ein. […] konnte ich den gedruckten Text zuerst nicht lesen. Dann aber sah ich sein Bild und meines und unsere Namen, seinen mit einem Druckfehler. (Seite 369) Cass wusste also über ihn Bescheid, und er begreift plötzlich, dass auch Magda die ganze Zeit über sein Geheimnis gekannt hatte. |
Buchbesprechung:
Die Biografie des in Antwerpen geborenen, später in die USA ausgewanderten Literaten Paul de Man (1919 – 1983), von dem Ende der Achtzigerjahre bekannt wurde, dass er 1940 bis 1942 antisemitische Beiträge für die belgische Kollaborationszeitschrift "Le soir volé" geschrieben hatte, inspirierte John Banville zu dem Roman "Caliban". Die vertauschte Identität erinnert an "Der menschliche Makel" und "Der talentierte Mr Ripley". Vorherrschend in diesem Roman [...] ist das Moment der Auflösung, der eintretenden Leere, einer zunehmenden Verfinsterung, sind Absenzen, Wahrnehmungsverschiebungen, das Halluzinierende und Delirierende, das bis in den Satzbau reicht und Banvilles suggestiven Stil begründet. (Helmut Petzold in "Diwan", Büchermagazin des Bayerischen Rundfunks) Auch wenn man sich als Leser hin und wieder in den assoziativen Verästelungen verliert, ist es doch gerade die geschliffene Sprache von John Banville, die "Caliban" zum Lesevergnügen macht. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
John Banville (kurze Biografie / Bibliografie) |