John Banville: Sonnenfinsternis (Roman) |
John Banville: Sonnenfinsternis |
Inhaltsangabe:Am Anfang war es eine Form. Oder nicht einmal das. Ein Gewicht, ein zusätzliches Gewicht; Ballast. Ich spürte es an jenem ersten Tag draußen im Freien. Es war, als ginge jemand lautlos neben mir, oder besser: in mir, genau im gleichen Schritt wie ich, ein Anderer, der nicht ich und mir dennoch vertraut war. Ich war es gewohnt, Rollen zu spielen, die hier aber, diese hier unterschied sich von allen bisherigen. (Seite 11)
So beginnt der Roman "Sonnenfinsternis" von John Banville. Hier stehe ich, ein erwachsener Mann, in einem Geisterhaus und bin von der Vergangenheit besessen. (Seite 87)
Nach einem obszönen Sexualtraum glaubt er, eine Frau und ein Kind zu sehen, deren Gesichter er jedoch nicht genau erkennen kann. Alex durchschaut, dass die Frau und das Kind nicht real sind, und er fragt sich, ob es sich um Projektionen seiner Fantasie handelt oder ob es für die Erscheinung eine äußere Ursache gibt. Existieren die Geister durch ihn? Die Grenze zwischen Schlafen und Wachen, zwischen Illusionen und "ihrem wie auch immer gearteten Gegenteil" (Seite 76) verschwimmt für ihn. Bei unserem allabendlichen Kartenspiel erzählte mir Quirke dann die Geschichte seines Lebens: die Mutter hatte ein Lokal, der Vater hat's versoffen, Quirke junior musste mit vierzehn arbeiten gehen, als Laufbursche bei einem Anwalt, hat nie was anderes gemacht; Frau, Kind, dann Frau tot, Witwer: Er berichtet das gleichsam erstaunt, kopfschüttelnd, als wären alle diese Dinge einem anderen passiert, jemandem, den er nur vom Hörensagen kannte oder über den er in der Zeitung gelesen hat. (Seite 185)
(Später erinnert Quirke sich nicht mehr an das, was er an diesem Abend sagte und erzählt, seine Frau sei gar nicht gestorben, sondern mit einem Vertreter durchgebrannt.) "Hier habe ich die Möglichkeit, am Leben zu sein, ohne leben zu müssen, verstehst du." (Seite 194) Bereits als Kind war ein Einzelgänger und Außenseiter. Wenn bei uns auf dem Schulhof einer angegeben hat, haben wir Kinder hier aus der Gegend immer gesagt, der spielt sich ja bloß auf; ich habe es mir, glaube ich, nie abgewöhnen können, mich aufzuspielen; zu meinem Lebensunterhalt hab ich's gemacht, mehr noch, zu meinem Leben. (Seite 21) Mit siebzehn fing er bei einer Laienspielgruppe an und verliebte sich in eine knapp dreißigjährige Mitspielerin, die Dora hieß. Das war der Anfang unserer Liaison, wenn Liaison nicht ein zu großes Wort ist. Denn eigentlich war ja nicht viel mehr als ein paar gepresste Küsse, ein bebendes Berühren der Hände, ein molkeweiß in der Lücke zwischen zwei Kinositzen aufblitzender Schenkel, ein bisschen wortloses Gefummel, das von einem gezischten Nein! beendet wurde, und das melancholische Schnipsen von losgelassener Elastik. (Seite 128) Die Ehe seiner Eltern war nicht glücklich. Aus finanziellen Gründen vermieteten sie Zimmer an Handelsreisende und Sekretärinnen, doch als der Vater starb und die Mutter nach einem Schlaganfall verwirrt blieb, zogen die Mieter aus.
Sie [die Mutter] war eine mürrische Person, nie so ganz bei der Sache, immer geplagt von Sorgen und diffusen Befürchtungen; stets von namenlosen Kümmernissen gemartert, als wartete sie permanent mit fest zusammengepressten Lippen und geduldig leidend darauf, dass sich die Welt in Bausch und Bogen bei ihr entschuldigt. Und ständig hatte sie Angst, vor allem und jedem; davor, zu spät zu kommen, und davor, zu früh zu erscheinen, vor Zugluft und vor Schwüle, vor Keimen, Menschenmengen, Unfällen und vor den Nachbarn, davor, von einem Fremden auf der Straße niedergestreckt und ausgeraubt zu werden. (Seite 49f)
Lydia heißt eigentlich Leah, aber Alex hatte ihren Namen beim Vorstellen falsch verstanden und fuhr dann fort, sie Lydia zu nennen. Lydias Eltern betrieben ein schäbiges Hotel – es hieß "Halcyon" – und ihr Vater sah eher wie ein Hoteldetektiv als wie ein Hotelier aus. Alex' Mutter, die damals noch lebte, war nicht nur ungehalten über die Mesalliance, sondern auch darüber, dass sie nur standesamtlich heirateten. Als Catherine ("Cass"), die hoch begabte Tochter des Ehepaars, fünf oder sechs Jahre alt war, hörte sie erstmals Stimmen. Trotz ihrer Geisteskrankheit wurde sie Wissenschaftlerin. Jetzt ist sie zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre alt und lebt im Ausland. Wir tranken zu viel Gin und sind versackt im Amourösen – ja, ja, ich fürchte, ich habe mich doch noch einmal vor den Karren der Sexualität spannen lassen, und dabei hatte ich fast schon geglaubt, von diesem Wahnsinn wäre ich geheilt. (Seite 216)
Ein Zirkus gastiert in der Stadt, unweit des Hauses. Lily möchte unbedingt eine Vorstellung sehen, aber stattdessen geht Alex mit dem Mädchen spazieren – und dabei erleben sie eine Sonnenfinsternis. Als sie am Zirkus vorbeibeikommen, wo gerade eine Pause in der Vorstellung ist, spricht Lily einen der Artisten an, und der lässt sie beide ins Zelt. Bei einer Nummer meldet Lily sich freiwillig und wird in der Manege hypnotisiert. Daraufhin gibt Alex sich als ihr Vater aus und holt sie fort. Jetzt muss ich also auch noch mit dem Geheimnis ihres Todes fertig werden, als wäre das Geheimnis ihres Lebens nicht schon genug gewesen. (Seite 289) Er verlässt das Haus wieder und kündigt Quirke zum Abschied an, er werde es Lily überschreiben. |
Buchbesprechung:
Als der Schauspieler Alex Cleave begreift, dass er als Vater und Ehemann versagt hat, versinkt er auf der Suche nach seiner Identität in der Vergangenheit und grübelt über das versäumte Leben nach. Er hat immer nur gespielt, auch wenn er nicht im Rampenlicht stand. Um in die Rollen schlüpfen zu können, beobachtete er andere und ahmte ihre Gefühle nach, aber er selbst empfand nie etwas. Es ist, als ob er an einer Krankheit leiden würde, die anaesthesia cordis heißt. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
John Banville (kurze Biografie / Bibliografie) |