Maxim Biller: Die Tochter (Roman) |
Maxim Biller: Die Tochter |
Inhaltsangabe:Als Motti Wind nach zehn langen, bedrückenden Jahren seine Tochter Nurit wiedersah, hatte sie fast gar nichts an. Ihre dunkle Windjacke, die weiße Bluse und die Jeans lagen neben ihr auf dem großen Hotelbett, das mit einer schweren roten Decke bezogen war. Sie hatte bereits ihre Socken abgestreift und die beiden gelben Spangen aus dem Haar gelöst, sodass es nun über ihre nackten Schultern fiel und ihren hohen Brustansatz bedeckte. Während sie das orangefarbene Bikinioberteil, das vorne zusammengebunden war, vorsichtig aufzuschnüren begann, überlegte Motti kurz, ob es nicht besser wäre aufzuhören, aber dann dachte er, dass es ohnehin keine Rolle spielte, ob er weitermachte oder nicht. Ihre großen, mädchenhaften Brüste wirkten wie angeschwollen, man sah ihnen an, dass sie gerade erst gewachsen waren [...] (Seite 11)
Mit diesen Sätzen beginnt der Roman "Die Tochter" von Maxim Biller. Die Buba hatte sich völlig ausgezogen und hockte wie ein Hündchen mit gespreizten Beinen auf Sofies weißem Ledersofa. Ihre Sachen hatte sie überall im Zimmer verstreut [...] Nurit wirkte ruhig, sie hatte aufgehört zu zucken, sie zählte auch nicht mehr stumpf vor sich hin [...] (Seite 313) Unter sich hatte Nurit "einen großen stinkenden braunen Haufen". Als Motti ausholte, um seine Tochter zu schlagen, hielt ihm Sarah von hinten den Arm fest. Das nackte, nach Scheiße stinkende Kind stand vom Sofa auf, spielte zwischen den Beinen und mit den Brustwarzen, tänzelte auf Motti zu und an ihm vorbei zu ihrem Großvater und ihrer weinenden Mutter. Das Einzige, was Nurit mit ihrem peinlichen, widerlichen, kranken Auftritt erreichte war nur, dass sie ihn vor Sofie bloßstellte und vor deren Vater, diesem alten introvertierten Feigling, der erst auf den Tod seiner Frau warten musste, um wieder er selbst zu werden – dass sie also aus Motti ausgerechnet vor diesen beiden Eisblöcken von Menschen jemand machte, der unfähig war, seine angeblich so heißgeliebte Tochter richtig zu erziehen und die Verantwortung für sie zu übernehmen [...] (Seite 324)
Keuchend prügelte Motti auf das Kind ein. "Wenn ich will, kann ich alles", murmelte Motti leise, während er – den Kopf tief vorgeschoben, die Arme hinter dem Rücken verschränkt – müde und nervös vor dem Haus in der Amalienstraße auf und ab ging. "Wenn-ich-will, wenn-ich-will, wenn-ich-will! Wenn ich will, läute ich so wie früher, einmal kurz, zweimal lang, damit sie weiß, dass ich es bin, und sollte sie darum erst recht nicht aufmachen, trete ich eben die Tür ein – wenn ich will. Wenn ich will, sage ich 'Guten Tag' und 'Wie geht's?' oder einfach nur 'Fotze!'. Wenn ich will, bin ich vielleicht höflich zu ihr [...] Ich werde ihr das Foto auf der Videoschachtel zeigen und – wenn ich will – höchstens mit ein, zwei knappen Sätzen erklären, wie unangenehm die Sache für sie werden könnte, sollte sie Nurit nicht mit mir gehen lassen, auf der Stelle, sofort [...] (Seite 332)
Es verwirrt Motti, dass die Frau darauf besteht, nicht Sofie, sondern Sarah zu heißen. Sie bittet ihn, gleich seine Eltern in Israel anzurufen, die sich Sorgen machen. Die Video-Hülle hat Motti plötzlich nicht mehr bei sich, und Sofie oder Sarah versteht offenbar nicht, was er meint, als er sagt, es sei jetzt Schluss mit den Pornofilmen und er sei gekommen, um Nurit mitzunehmen. Verzweifelt schreit Sarah, Motti könne seine Tochter in der Garchinger Straße abholen. Dann begreift sie: "Du hast schon wieder gedacht, du hättest sie gesehen!" In diesem Augenblick hört Motti einen Mann und ein Kind kommen, die hebräisch miteinander reden. Es handelt sich um Mottis früheren Chef Itai, der sich von seiner ersten Frau hatte scheiden lassen, und eine aufgeweckte Fünf- oder Sechsjährige, die Lola heißt und den Gast als "Onkel Motti" begrüßt.
[...] er zog aus der Manteltasche eine leere Videoschachtel und legte sie vor mir auf den Tisch. Dann fuhr er mit dem Finger über die aufgequollenen Brüste und die ausrasierte Scham des jungen Mädchens, das auf dem Umschlag zu sehen war, und begann, mir lauter wirre Geschichten über Kindersex und Verletzung der Aufsichtspflicht zu erzählen. Während er redete, hörte ich ihm immer weniger zu, ich ersetzte in Gedanken seine Worte mehr und mehr durch meine eigenen, und das war es dann also, der Anfang meiner Motti-Geschichte.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht, Vor über zehn Jahren, an einem Februarmorgen, ging der Autor in München spazieren und sah in der Amalienstraße ein fünf oder sechs Jahre altes Mädchen inmitten einer Menge von Gaffern mit verrenkten Beinen und Armen tot auf dem Pflaster liegen. Ein Mann hämmerte mit seinem bereits blutüberströmten Kopf unaufhörlich gegen die Haustür, und zwei Polizisten schafften es nicht, ihn davon abzuhalten. Dann kam eine ernste junge Frau aus der Tür, beugte sich über das tote Kind und ging nach ein paar Sekunden, ohne es berührt oder ein Wort gesprochen zu haben, langsam wieder zurück ins Haus, während der Mann schrie: "Sie hätte einmal auf sie aufpassen können, ein einziges Mal ..." Ich habe wieder den Tag in der Wohnung verbracht, bei geschlossenen Fenstern und zugezogenen Gardinen, ich war wieder stundenlang allein mit all diesem fremden, erfundenen Unglück und Irrsinn, und darum will ich jetzt auch sofort, solange es draußen noch ein wenig hell ist, raus, einen von meinen Abschiedsspaziergängen machen, damit ich schnell wieder auf bessere Gedanken komme. Heute, glaube ich, werde ich ins Lehel gehen [...] (Seite 412f) Nach diesem Einschub des Ich-Erzählers wendet sich die Geschichte wieder Motti zu: Also sprach er zu sich selbst: Ich werde sie retten vor ihr und vor mir [...] Und sie sprach in ihrem fünften Lenz noch nicht einmal die Sprache ihres Volks. Und weil also in all den Wochen und Monaten und Jahren nichts geschehen war, wurde Mordechais Angst groß, dass es nichts und niemanden über und unter ihm gab, nicht links und nicht rechts und auch nicht hinter der orangegelben Sonne und der weißen Scheibe des Monds, und darum sah er, dass er allein etwas tun müsse [...] nahm er Nurit bei der Hand und führte sie wie eine Schlafwandlerin zum Fenster im Wohnzimmer, und dort hob er sie auf die Fensterbank, und er zeigte hinaus und redete eine Weile so auf sie ein wie eh [...] doch sie blieb stumm und stumpf wie immer [...] Dann erst öffnete er das Fenster [...] Und so lockerte er den Griff seiner Finger, denn er wollte ihr gut, und dann ließ er sie ganz los, worauf sie nun allein am Rand des Abgrunds stand, aber sie schwankte nicht, sie verharrte eine lange Weile vollkommen still, und endlich, ohne dass er sie berührt oder gestoßen oder es ihr befohlen hätte, begann sie zu fallen [...] (Seite 414ff) Der Roman endet mit den Sätzen: Als Motti die Augen aufmachte, begann es draußen bereits wieder dunkel zu weden [...] Bloß nicht umdrehen, dachte er, und er fuhr mit der Hand unter die Decke und berührte sein nacktes Bein. Die Hand zuckte zurück, so schnell, als hätte er sich verbrannt, und danach lag er wieder eine Weile ganz still da. Schließlich, fast ohne sein Zutun, begann die Hand erneut unter die Decke zu wandern, sie schob sich forschend über Bein und Hüfte, und als sie seinen samenverklebten Bauch erreichte, zuckte sie abermals wie von selbst zurück. Schade, dachte er, wirklich schade, denn er hatte einen Moment lang tatsächlich geglaubt, es sei alles gut. Dann richtete er sich im Bett auf, er stopfte sich das Kissen hinter den Rücken und sah auf den Bildschirm. Das Standbild zitterte leicht, aber er konnte sie genau erkennen – er sah ihr schmales polnisches Gesicht, die eng zusammenstehenden Augenbrauen, die dunkle, lange Nase, die blassen Lippen. Alles war wie vorhin, bevor er eingeschlafen war, nur ihr Haar kam ihm heller, lockiger vor, und dann schob Motti die Bettdecke leicht zur Seite, er nahm die Fernbedienung und drückte auf Start. (Seite 425f) |
Buchbesprechung:
Der vom Libanonkrieg traumatisierte und im November 1982 – vor siebzehn Jahren – nach München gezogene Israeli Motti liegt masturbierend vor dem Fernsehgerät im Bett, schaut sich ein Porno-Video an und glaubt, in der Hauptdarstellerin seine Tochter Nurit zu erkennen, die er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hat. Von seinen quälenden Erinnerungen umgetrieben, irrt er einen Tag lang durch München. Und ganz besonders schien ihm [Motti] seine Krankheit zuzusetzen, über die er allerdings fast nie etwas zu Marie sagte, außer, dass er bald keine Kraft mehr hätte, sich immer und immer wieder zwingen zu müssen, zwischen den Dingen, die wirklich geschahen, und denen, die er sich nur einbildete, zu unterscheiden. (Seite 374)
"Die Tochter" ist ein ernster, verzweifelter und verstörender Roman auf hohem Niveau. Maxim Biller [...] ist schon allein deswegen eine Ausnahmeerscheinung, weil er als One-Man-Show die jüdische Literatur in Deutschland vertritt. Biller ist die junge jüdische Literatur, an der er stets leidet wie auch an Deutschland selbst. Anfang der Neunzigerjahre war er allerdings vor allem als Journalist bekannt, eher berüchtigt als berühmt ist er durch seine scharfen, bösen und brillanten Texte, vor allem seine Kolumne "Hundert Zeilen Hass" in der Zeitschrift "Tempo". Bis heute ist Biller ein Querulant geblieben, ein Provokateur, der zu vielem eine starke Meinung hat, manchmal auch starke Argumente, aber einer der wenigen, die die in Verruf geratene oder vergessene Gattung der Polemik tatsächlich beherrschen. (Richard Kämmerlings: Das kurze Glück der Gegenwart. Deutschsprachige Literatur seit '89) Gegen die Veröffentlichung des Romans "Esra" (2003) klagten eine frühere Geliebte Maxim Billers und deren Mutter. Der Bundesgerichtshof gab ihnen im Juni 2005 Recht, da sie nicht damit hatten rechnen müssen, leicht erkennbar als Esra Adrian und Lale Schöttle in einem Roman dargestellt zu werden. 2006 reichte der Verlag Kiepenheuer & Witsch gegen das Verbot des Romans eine Verfassungsbeschwerde ein, aber das Bundesverfassungsgericht bestätigte im Oktober 2007 zum zweiten Mal in seiner Geschichte das "Gesamtverbot" eines Romans. (1971 war der Roman "Mephisto" von Klaus Mann verboten worden.) Über den Fall schrieb Bernhard von Becker das Buch "Fiktion und Wirklichkeit im Roman. Der Schlüsselprozess um das Buch Esra" (Königshausen & Neumann, 2007). |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005 / 2011 |